Ewig ein schlechtes Gewissen. Beichte einer Waldorf-Mama

Von Susanne Bregenzer, April 2020

Elternsein ist ja an sich schon anspruchsvoll. Aber Waldorfelternsein ist dann nicht mehr zu toppen. Was muss nicht alles erfüllt sein, damit man ungefähr dem Ideal entspricht? Susanne Bregenzer geht diesen Ansprüchen nach und dementiert sie auf leise Weise. Elternsein kann auch einfach nur schön sein – wenn man einmal sein schlechtes Gewissen hinter sich lassen kann.

Foto: © REHvolution.de / photocase.de

Von vorbildlichen Träumen

Wir sind Waldorfeltern! Wir wissen von der Kraft des Vorbilds! Wir wissen, dass unsere Kinder durch Nachahmung lernen. Wir sind uns darüber im Klaren, wie unser Verhalten sich auf unsere Kinder auswirkt.

»Das macht er nur, weil du das auch machst!«, tadle ich meinen Mann. Er grinst: »Und was machst du?«, fragt er ein wenig provokant.

Ich betrachte ein Bild auf einem Flyer für ein Kursangebot für »Kunst aus Märchenwolle«. Eine weißhaarige, braungebrannte Dame im Alter unserer Eltern lächelt gütig in die Runde. Ihr Haar wallt über ihre Schultern, sie hat Lachfältchen um die Augen und ich kann mir genau vorstellen, wie ihre Stimme klingt. Und wie geschickt ihre Finger arbeiten. Wunderschön!

Gerne möchte ich ihre Kunstwerke sehen. Aber nicht so gerne diesen Kurs besuchen, um das Gleiche zu lernen. »Ich bin nicht so!«, denke ich ein bisschen frustriert. Ich bin das alles nicht. Ich bin keine Mama mit wallendem Rock, die gerne mit den Kindern zusammen Kuchen backt oder Marmelade einweckt. Wir waschen Wollwäsche in der Waschmaschine und haben kein Waschbrett dafür. Trotzdem sind unsere Kinder in der Waldorfschule!

Ich verabrede mich über Whatsapp, ich tippe meine Artikel am Computer, benutze Facebook und schaue abends Filme. Voll übel! Oder? Ich benutze Waschmittel aus dem Billigmarkt und kaufe mitunter in Plastik verpacktes Gemüse. Wir fahren einen alten Diesel ohne Plakette und wenn meine Jungs Rad fahren, dann müssen sie einen Helm aufsetzen. Kein Engelvertrauen, diese neuen Eltern!

Endlich cool und schon wieder nicht richtig

Das klischeehafte Bild von einer strickenden, initiativen Waldorfmama kann einen richtiggehend wütend machen! Wie kann sie nur solche Ansprüche an uns haben? Wieso ist es so schwer, genauso idyllisch und heil zu sein, wie diese naturgefärbte, sonnengegerbte Grausträhnige? Sie hat sich natürlich immer und überall eingesetzt, war am Bazar die treibende Kraft und jubelte, wenn sie hörte, dass sie das große Sommerfest organisieren durfte.

Zuerst ist man ewig berufsjugendlich und hetzt dem Bild vom »Coolsein« hinterher. Das ist als ehemalige Waldorfschülerin nicht immer einfach. Denn man kann nicht mitreden bei der Gummibärchenbande, Captain Future und Bomberman – dafür kann man seinen Namen tanzen!

Plötzlich ist man selbst Mama und soll die hart erarbeitete Lockerheit wieder ablegen und sie gegen einen turmalinstrahlenden Heiligenschein oder gar gegen einen schmerzenden Dornenkranz austauschen. Sind nicht fast alle Waldorfeinrichtungen durch selbstlose und aufopferungsvolle Elterninitiativen entstanden? Haben die Mamas damals nicht ihre ganze Freizeit dafür gegeben, wenn sie nicht gerade ein super Vorbild für ihre Kinder waren und mit ihnen eigene Kartoffeln angebaut oder selber Wolle gesponnen haben?

Pädagogisch wertvoll

Wir haben einmal eine Holzburg geschenkt – das war der Supergau. Der Junge war vollkommen enttäuscht. Er hatte sich die von Playmobil gewünscht, mit der man echt schießen kann. Seitdem sind wir von pädagogisch wertvollen Waldorfgeschenken abgerückt. Die Burg stand nämlich zwei Jahre im Keller und dann haben wir sie weitergegeben. Hat keinen interessiert. – Klar. Selbst schuld. Irgendwann haben wir ja damit angefangen, diese schrecklichen Sachen zu schenken. Irgendwann sind wir ja mit der Mode gegangen und unsere Kinder tragen seitdem Hosen von einer vogellastigen Kleidermarke und quasi nichts anderes mehr. Alle drei! Anstatt ordentlich in Wollhose oder Lederbuxe zu gehen!

Und wie ist das mit den selbstgenähten Waldorfpuppen? Die können nicht pinkeln und nicht baden. Da möchte das kleine Kind selbst bei erfahrenen Näh-Mamis noch zusätzlich die Plastikversion einer namhaften Marke.

Wieder mal die Nerven verloren?

Wenn das Kleinkind im Laden schreiend auf dem Boden liegt, wenn der Große mit dem Kleinen kreischend durch die Küche jagt, wenn die Wäscheberge sich türmen und das Essen mal wieder »voooll eklig!« schmeckt, verlieren wir Mamas doch tatsächlich ab und zu die Nerven. Was für ein Vorbild ist das denn?

Anstatt singend und geduldig auf unseren Nachwuchs einzugehen, ihn mit einem Lächeln davon abzuhalten, das fünfte Mal den Brei auf den Boden zu schmeißen und ihm ein Liedchen übers Zähneputzen vorzusingen, während er abends im Bad weinend den Mund zusammenkneift, motzen wir oder brüllen sogar mal richtig los.

Dann kommt die Scham: Wo war die sanftmütige und ruhige, aber dennoch klare und liebevoll-strenge Grauhaarige denn da schon wieder? Hätte sie uns nicht mal kurz zur Seite stehen können? Stattdessen ist Gollum aus uns hervorgebrochen. Das haben unsere Kinder nicht verdient!

War früher alles besser?

Wir sind Mamas, die E-Mails schreiben und unser Garten ist halt ‘ne Wiese mit einem Sandkasten oder Trampolin – wenn wir überhaupt einen Garten haben. Wir sind die Mamas, die irgendwann wieder arbeiten gehen und unseren Alltag mit Ach und Krach wuppen.

Wir stöhnen, wenn der Bazar sich nähert und meine Freundin fragt mich verzweifelt, was sie dieses Jahr wieder 40mal herstellen soll für den Kinderladen. Und wann!! Zwischen Haushalt, Hausaufgaben, Kotzgrippe, Job und Nebenjob sowie freiwilliger Arbeit für die Waldorfschule rutscht uns doch tatsächlich mal ein sehr unvorbildlicher Fluch heraus, wenn wir auch noch drei Kuchen für das Erzieherseminar backen sollen und Geschirr spülen.

Wie haben die Mamas das damals nur geschafft? Die hatten schließlich alle mehr als fünf Kinder, die sie bestrickt, benäht und bekocht haben. Mit Vollkornpolenta! Und die Kinder haben das gegessen! Die kannten halt noch keine Mikrowelle und keine Fischstäbchen. Die haben alle Kinderkrankheiten voll durchgestanden, mit allen Risiken und Nebenwirkungen und sind dann mal eben fünf bis zehn Wochen zu Hause geblieben, weil die Kinder ansteckend waren. Dabei haben sie nicht ferngesehen, nicht gechattet und keine Verzweiflungsamokläufe zum Spa unternommen. Sie hatten ein fröhliches Kinderliedchen auf den Lippen und haben zwischendurch Socken gestopft.

Warum wir trotzdem Eltern sein dürfen

Die Zeiten ändern sich. Und mal ehrlich: Die früheren Waldorfmamas waren damals sicher zwischendurch auch mal ziemlich verzweifelt und vielleicht hat die eine oder andere nicht immer nur geträllert und gebacken, sondern mal geheult, geflucht und sich auf dem Klo eingeschlossen, um endlich mal allein zu sein!

Wir wissen das nicht. Wir werden es auch nicht mehr erfahren. Wir können uns nur freischütteln von dieser Glorifizierung. Die Eltern damals waren auch so alt wie wir jetzt und ob sie wirklich so rundherum perfekt und heilig waren? Ich wage es zu bezweifeln.

Vielleicht erinnert sich mein Sohn ja mal daran, dass ich immer Pullover gestrickt und Wildkräutersmoothies hergestellt habe. Vielleicht erinnert sich das Kind meiner Freundin daran, dass seine Mama gerne genäht und sehr gerne den Garten verschönert hat. Vielleicht wissen die Kinder später auch, dass wir nicht rund um die Uhr ferngesehen haben. Sie erinnern sich bestimmt, dass wir beim Essen striktes Handy- und Telefonverbot haben und dass wir tatsächlich ziemlich viel singen. Nur nicht immer Kinderlieder. Vielleicht sehen wir im Nachhinein betrachtet für die nächste Generation auch superheilig aus. Wer weiß?

Jedenfalls will ich kein schlechtes Gewissen mehr haben, weil ich keine Waldorf­schule in meiner Freizeit aufgebaut und gleichzeitig sieben Kinder großgezogen habe. Ich will mich nicht mehr schlecht fühlen, weil ich es total gerne habe, wenn mein Mann am Wochenende da ist und ich auch. Und wenn wir beide einfach mal einen gemütlichen Kaffee auf der Terrasse trinken können – ohne Nudelsalatherstellen für das Johannifest. Ja echt!

Das Beste aus unserer Welt reicht

Ich kenne so tolle Mamas und Papas und das, obwohl sie überhaupt nicht heilig sind. Sie setzen sich für ihre Kinder ein, machen sich Gedanken um sie. Sie haben schlechte Nächte, weil es einen Lehreranruf gab und sie nehmen ihre wenige Freizeit dafür, mit ihren Kindern klettern zu gehen oder das Einmaleins zu üben.

Und wenn sie dann doch mal fernsehen oder nicht ganz so viel beim Bazar helfen? Na und? Sie haben eben ihr Bestes gegeben! Und wenn es mal nicht das Beste war, dann sicherlich das Zweitbeste.

Waldorfeltern müssen keine »Mutter Erde« aus Filzwolle herstellen können, um echte Waldorfeltern zu sein. Ich denke, man kann gut und gerne auch nur ein halber Waldorf sein, wenn man bereit ist, innerlich lebendig und lernfähig zu bleiben.

Was ist denn nun ein gutes Vorbild?

Wenn Mamas und Papas mit ihren Schwächen und den Anforderungen unserer heutigen Welt offen und reflektiert umgehen, sind sie perfekte Vorbilder und perfekte Waldorfeltern.

Wenn ich an die perfekte Waldorfmama denke, kann ich ihr auch dankbar sein: Durch sie habe ich mich auf die Suche nach meinem eigenen Selbstverständnis als Mutter gemacht. Wenn ich für meine Kinder eine solche Mutter wäre wie dieses frühere Idealbild, wäre ich so fern der heutigen Lebenswelt, dass ich ganz allein da stünde.

Wenn wir unseren Kindern zeigen, wie man sich im Umgang mit Medien disziplinieren kann, wenn wir mit ihnen darüber sprechen, was Materialismus ist, wenn wir versuchen, mit ihnen in die Natur zu gehen und ihnen das Beste aus unserer Welt zeigen, sind wir die perfekten Eltern aus dieser Zeit.

Wir sind nicht fern von ihnen, nicht irgendwo in einer Waldorfblase aus Märchenwolle, sondern wir leben hier mit ihnen in dieser Welt des 21. Jahrhunderts –, wo es Versuchungen gibt, wo man abstürzen kann, wo man sich selbst kennen und die Gefahren erkennen muss, um zu überleben und klarzukommen.

Und wir haben die Waldorfschule, die unsere Kinder zusätzlich stützt und gut in ihr Leben begleitet. Denn das wünschen wir Eltern uns doch für unsere Kinder von ganzem Herzen.

Und wenn der Bazar eben nicht ganz so üppig ausfällt wie früher? Dann liegt das vielleicht daran, dass die Welt vielfältiger, größer, unübersichtlicher geworden ist. Dann liegt es vielleicht daran, dass so viele Eltern wieder arbeiten gehen, um den Unterhalt zu finanzieren.

Ein gutes Vorbild kämpft mit den gleichen Dingen wie das Kind. Nur dass es schon einige Schritte weiter ist. Ein gutes Vorbild kann das Kind verstehen und dort abholen, wo es steht. Ein gutes Vorbild lebt in der gleichen Welt wie das Kind. Sonst wären nicht 30-Jährige die Elterngeneration, sondern 70-Jährige.

Deshalb sind wir trotzdem gute Eltern. Dafür müssen wir keinen Heiligenschein tragen. Der würde unsere Kinder garantiert nur blenden.

Zur Autorin: Susanne Bregenzer war Waldorfschülerin an der Waldorfschule Rengoldshausen, ist ausgebildete Jugend- und Heimerzieherin, dreifache Mutter in Elternzeit und Elternbloggerin bei familienuniversum.de

Kommentare

Ilona Botthof, Kaufungen, 06.05.20 16:05

Super geschrieben, als ehemalige Waldorfmutter,inzwischen Großmutter, kann ich der Verfasserin voll und ganz zustimmen. Die Schulzeit meiner Kinder war auch mich mich sehr bereichernd.

Kommentar hinzufügen

* - Pflichtfeld

Folgen