Gehen, Sprechen, Denken – typisch Mensch

Von Philipp Gelitz, Oktober 2020

Die Waldorfpädagogik der frühen Kindheit rückt mit dem Dreischritt Gehen-Sprechen-Denken ein besonderes Thema in den Vordergrund, das sich andernorts so kaum finden lässt, aber eine besondere Praxisrelevanz für Elternhaus, Krippe und Kindergarten besitzt.

Foto: © Charlotte Fischer

Hinweis: Der Artikel erschien in der Herbstausgabe 2020 der Zeitschrift »Frühe Kindheit«. Das Heft können Sie hier bestellen. Hefte, die älter als ein Jahr sind, stehen in unserem Archiv zum Download für Sie bereit.


Langsame Entwicklung 

Blicken wir auf den individuellen Ausdruck eines neugeborenen Kindes, wie es mit seiner Mimik spielt, in welcher Tonlage es Laute von sich gibt, wie es schaut oder wie sein Antlitz im Schlaf aussieht, so können wir besonders ergriffen sein von dem Wesen, das sich durch diese Erscheinung zeigt. Wir empfinden natürlich auch, dass es süß ist und dass wir Nähe spenden wollen, aber wir fühlen eben noch mehr: Ehrfurcht und Achtung vor der Individualität.

Gleichzeitig müssen wir uns aber eingestehen, dass ein Neugeborenes außer Atmen, Wachsen, reflexhaften Bewegungen, diffusen Wahrnehmungen und der Verdauung von Muttermilch relativ wenig »kann«. Während Tiere recht schnell in die Bewegungsmöglichkeiten und arttypischen Verhaltensweisen ihrer Gattung hineinfinden, ist es gerade das besondere Kennzeichen des Menschen, genau dasjenige, das ihn besonders auszeichnet, lange Zeit noch nicht zu beherrschen: aufrechte Bewegungen, Sprache und Denken.

Gehen lernen 

Die erste Etappe auf diesem Weg ist der langsame Durchgang durch verschiedenste Bewegungsmöglichkeiten des Körpers mit der vorläufigen Krönung der Bemühungen durch die ersten Schritte. Die Entwicklung vom ersten Lebenstag bis zum aufrechten Gang ist ein komplexer Weg des Erringens differenzierter Bewegungsabläufe, der weit mehr ist, als ein bloßes Lauftraining. Es ist zu beobachten, wie sich der Säugling von oben nach unten – vom Kopf bis in die Füße – durch seinen vererbten Körper hindurcharbeitet und ihn immer stärker zum von innen ergriffenen Leib macht: zum Handlungsinstrument der darin lebenden Person.

In den ersten drei Lebensmonaten begegnen dem Säugling immer wieder Tast- und Bewegungserlebnisse, die aus den unwillkürlichen, reflexhaften Bewegungen des Körpers resultieren. Arme und Hände stoßen irgendwie an, Menschen und Dinge geraten ins Blickfeld und verschwinden wieder. In diesen drei Monaten lernen Säuglinge, bestimmte Dinge mit den Augen zu fixieren, zu lächeln und in Bauchlage den Kopf anzuheben. Es ist dies ein allererstes Ergreifen von Bewegungsmöglichkeiten im oberen Teil des Körpers.

Im zweiten Vierteljahr wird der mittlere Bereich des Körpers ergriffen: Immer häufiger spielen die Kinder in Rückenlage nun mit ihren Händen, machen unermüdliche Drehversuche und stützen sich in Bauchlage irgendwann mit dem Oberkörper das erste Mal ab. Die Hauptaktivität der Bewegung liegt bei Armen und Rumpf. In Bauchlage hängen Unterschenkel und Füße interessanterweise oft noch in der Luft.

Bis etwa zum neunten oder zehnten Monat wird dann der untere Teil des Körpers ergriffen. Das Abstützen wird immer kräftiger und zum Vierfüßlerstand, das Kind robbt, dreht sich locker hin und her, und erringt am Ende dieser Zeit zumeist das Krabbeln, das freie Sitzen und kann in Rückenlage einen Zeh in den Mund nehmen.

Von nun an werden die Entwicklungsschritte immer individueller. Doch selbst wenn einige Kinder bereits mit neun Monaten laufen können und andere erst mit 18 Monaten, ist es trotzdem das Hauptcharakteristikum der Zeit um den ersten Geburtstag herum, sich hochzuziehen, Stehversuche zu machen und sich an etwas entlanghangelnd im Gehen zu üben.

Diese Abfolge von Bewegungsmustern durchläuft das eine Kind schneller, das andere langsamer. Manche überspringen etwas und holen es später nach. Es ist jedoch wichtig, nicht forcierend einzugreifen, da nur durch eine langsame und autonome Bewegungsentwicklung mitgebrachte Reflexmuster durch selbst erworbene Bewegungen überlagert werden können.

Sprechen lernen

Zeitgleich mit der Bewegungsentwicklung spielt das Kind auch mit seinem Vermögen zur Lautbildung. Es hört immer wieder die eigenen, unwillkürlich gebildeten Laute und bildet die Laute anderer Menschen zunehmend nach.

Es entstehen neben dem Schreien auch zarte glucksende Laute, das Lachen, das Lallen und – vor allem im zweiten Halbjahr – der Sing-Sang der Muttersprache. Fast alle Konsonanten werden im ersten Lebensjahr bereits einmal ausprobiert. Trotzdem ist die Lautbildung hier zunächst noch keine Sprache im eigentlichen Sinn. Es ist eher ein leibliches Bekanntwerden mit den Sprechorganen Lippen, Zunge, Gaumen und Kehlkopf.

Auch wenn einige Kinder schon früh »Mama« und »Papa« sagen können und besonders geliebte Gegenstände mit immer gleichen Lauten versehen, ist es trotzdem das Hauptcharakteristikum gerade des zweiten Lebensjahres, in die Sprache hineinzufinden. Sind freier Stand und erste Schritte errungen, beginnt eine besondere Entwicklungsdynamik in Bezug auf das Bezeichnen von Dingen. Die Bewegungsentwicklung verfeinert sich von dem mehr grobmotorischen Ergreifen des gesamten Leibes zum Durchdringen der Sprachwerkzeuge, die nun sprachlichen Inhalt transportieren. Dutzende Wörter werden nun nachgeplappert und an der richtigen Stelle wieder eingesetzt, bis etwa um den zweiten Geburtstag herum die meisten Kinder so sprechen können, dass sie verstanden werden.

Vielfach lässt sich bei Kindern im zweiten Lebensjahr auch beobachten, dass eine Phase beschleunigter Entwicklung beim Sprechen mit einer Stagnation in der Bewegungsentwicklung einhergeht. Umgekehrt lässt sich auch oft beobachten, dass bei einem Entwicklungssprung in der Bewegungsentwicklung die Sprachentwicklung stehen bleibt. Mitunter kann man hier den Eindruck gewinnen, dass sich Bewegungskraft anschließend in verwandelter Form als Sprachkraft zeigt.

Auch in Bezug auf das Sprechenlernen ist es entscheidend, keine Forcierungen im Sinne von »Vokabeltraining« zu betreiben und keine künstlich kindische Sprache zu sprechen, damit sich das Kind im eigenen Tempo in die Muttersprache einleben kann. Die Dinge, die im Alltag vorkommen, korrekt zu bezeichnen sowie das eigene Handeln mit Sprache sinnvoll zu begleiten, sind allerdings besondere Notwendigkeiten für kleine Kinder, um kraftvoll in die Sprache und die Kommunikation hineinzufinden.

Selbstverständlich erweitert sich im Lauf der kommenden Jahre das Sprechen immer weiter bis zur komplizierten Nebensatzbildung, genauso wie sich auch die Bewegung über die gesamte Kindheit mit Hüpfen, Balancieren, Klettern, aber auch mit zunehmender Feinmotorik immer weiter ausdifferenziert.

Trotzdem liegen der Schwerpunkt der Bewegungsentwicklung sowie die größte Dynamik des Auf-richte-prozesses im ersten Lebensjahr und die größte
Entwicklungsdynamik der Sprachaneignung im zweiten Lebensjahr.

Denken lernen

Durch den zunehmenden Umgang mit Sprache wacht das Kind dann zu Beginn des dritten Lebensjahres immer mehr für die Ebene der Bezüge auf, die zwischen den Dingen bestehen. Es setzt durch das vermehrte Sprechen unmittelbar etwas ein, was nicht mehr äußerlich beobachtet werden kann, sondern sich nur innerseelisch abspielt. Meist kurz nach dem zweiten Geburtstag ist dann auf einmal folgender Ausspruch möglich: »Bäcker B’ot backt, Mama B’ot backt, dann is’ Mama Bäcker.« Diese Form der Verknüpfungsfähigkeit ist gemeint, wenn hier vom Denkenlernen gesprochen wird. Dies ist noch nicht die Fähigkeit von Schulanfängern, eigenständig und ohne äußeren Anlass Erinnerungsvorstellungen zu erzeugen und das Gedächtnis explizit durch Üben auszubilden. Mit dieser dritten Entwicklungsetappe des Denkenlernens erhebt sich das Kind aus der rein körperlichen Bewegung und sprachlichen Betätigung. Es ist wie eine erste Emanzipation von der eigenen Leiblichkeit. Die Erlebnisse werden von der kleinen Person konkret angeschaut und gedanklich miteinander verknüpft. Die rasante Vernetzung im Gehirn in den ersten zwei Jahren führt von allein noch nicht zur Möglichkeit der gedanklichen Verknüpfung. Sie bietet lediglich die leibliche Grundlage für diese freie Tätigkeit des Seelisch-Geistigen. Es ist die Person, die mithilfe des Gehirns denkt, nicht das Gehirn. Aufgrund dieser ersten Distanzierung beginnt das Kind zwischen dem zweiten und dritten Geburtstag, »Ich« zu sagen und zu trotzen. Vorher benannte sich das Kind mit seinem Namen: »Anna Hunger hat«. Mit etwa zwei bis zweieinhalb Jahren wird das abgelöst durch ein vehementes »Ich will!«. Das Ich-Bewusstsein ist erwacht. Sinnvolle Ordnungen in der Umgebung, die ein Aufwachen für Bezüge und Strukturen begünstigen, sowie gütige Gedanken sind die beste Umgebung für zwei- bis dreijährige Kinder, auch wenn gerade das beim Trotzen mitunter schwerfällt. Explizites Lernen ist in dieser Zeit in keinem Falle angezeigt, weil so das sinnliche Bekanntwerden mit der Welt sowie die Festigung der Erlebnisse durch unermüdliche Wiederholungen unterbrochen werden.

Die Bedeutung des Vorbilds

Beim Hineinfinden in die Aufrechte, ins Stehen und Gehen sowie beim Hineinfinden in die Sprache und das Denken kommt der Umgebung die entscheidende Bedeutung zu. Zwar sind Gehen, Sprechen und Denken im Menschen veranlagt, sie können aber nur durch gehende, sprechende und denkende Vorbilder nachahmend errungen werden. Erst beides zusammen ist hinreichend. Es ist das Bewegungsvorbild der Eltern, an dem sich die Bewegungen des Kindes orientieren, und es sind die Sprechgewohnheiten der Eltern, die die Sprache des Kindes zur Entfaltung kommen lassen. »Er geht wie sein Vater!« oder »Sie redet wie ihre Mutter!« sagen wir dann. Die Nachahmungsbereitschaft des Kindes trifft also auf eine sich bewegende, sprechende und denkende Umgebung. Kleinkinder schwingen immer sofort in das aktuelle Geschehen ein und lernen dadurch implizit in ihren lebensweltlichen Bezügen. Wenn wir Kindern nun Bewegungsabläufe oder Worte explizit beibringen, ahmen sie eher das Beibringen nach, da sie Handlungen und nicht Inhalte spiegeln: Sie verinnerlichen und bilden nach, sie sehen, fühlen und hören. Wenn man also mit vielen Worten beklagt, dass das eigene Kind so viel redet, dann zeigt man bereits in dem Moment, warum das so ist.

Autonomie

Ein weiterer Gesichtspunkt, der noch über die Bedeutung der Nachahmung hinausgeht, ist der besondere Schutz der kindlichen Autonomie. An dieser Stelle treffen sich waldorfpädagogische Überlegungen zu einer Erziehung zur Freiheit mit den Überlegungen und Hinweisen der Pikler-Pädagogik, die auf den Beobachtungen der ungarischen Kinderärztin Emmi Pikler beruhen: Lassen wir den Kindern Zeit für eine autonome Bewegungsentwicklung, ohne Nachhelfen beim Drehen, ohne Hinsetzen, ohne Laufen an der Hand und ohne Lauflernhilfe, dann dankt es das Kind mit dem Erlebnis, autonom zu sein. Es kann fühlen, wie es sich alles selber in Freiheit erringen kann und entwickelt dadurch Selbstbewusstsein und Autonomiegefühl fürs gesamte Leben. Entsprechendes gilt für die autonom aufgefundene Sprache. Wir brauchen weder Beibringen noch Verbessern. Wenn ein Kind monatelang »Wadebanne« sagt, dann fühlt es sich freier und selbstsicherer, wenn es irgendwann den »Fehler« selbst entdeckt und korrigiert. Das enthebt uns Erwachsene zwar nicht von der Verantwortung korrekt »Badewanne« zu sagen, macht uns aber darauf aufmerksam, dass wir ohne Sprechtraining mehr für unsere Kinder tun als mit der ständigen Besserwisserei.

Offen und frei für die Selbstverwirklichung

Zwischen den Entfaltungsmöglichkeiten, die der Mensch im Laufe der Jahre mit fein abgestimmten Bewegungen, differenzierter Sprache und genauem Denken potenziell ausbilden kann, und den eingeschränkten leiblichen Voraussetzungen am Lebensanfang besteht eine maximale Diskrepanz. In diesem Spannungsfeld entwickelt sich der Mensch frei in seine eigenen Bewegungen, in seine Sprache und in sein Denkvermögen hinein. Sein Körper ist zunächst für sehr viele spätere Möglichkeiten weit offen. Der Mensch überwindet Reflexe und baut vererbte Strukturen um. Er erringt sich menschliche Grundfähigkeiten in Freiheit und gelangt dadurch zu einer Freiheit, die für den Menschen konstitutiv ist.

Ein in diesem Maße individueller Ausdruck ist bei Tieren nicht zu finden: Sie werden in ihre Art hineingeboren, beherrschen bestimmte instinktive Bewegungsabläufe perfekt, haben sie aber nicht in Freiheit errungen und können sich auch nicht in der Weise über ihre Vererbung und ihre Art erheben wie der Mensch. Dieser Zusammenhang bedeutet, dass Menschen im Laufe ihres Lebens immer humaner werden können: Sie können bestimmte Fähigkeiten, spezialisierte Bewegungsabläufe, Kommunikationskompetenz, gedankliches Vermögen, aber auch Mitgefühl, Verantwortung und Selbstlosigkeit fast unendlich steigern. Eine Ameise hingegen wird nicht im Laufe ihres Lebens immer ameisiger und ein Hase nicht immer hasiger. Um diesen besonderen Weg zur Freiheit gehen zu können, ist der Mensch zu Beginn des Lebens auf einen geschützten Entwicklungsraum angewiesen, in dem er seine spezifisch menschlichen Fähigkeiten autonom erringen kann. Man könnte auch sagen: Es liegt gerade in der Natur des Menschen, dass er nicht auf seine Natur beschränkt ist, sondern sich selbst eine eigene, an Vorbildern angelehnte, kulturelle Natur schafft, in der er sich zum Ausdruck bringt. Der Freiraum einer geschützten, nicht forcierenden, freilassenden, angstfreien, zutrauenden und liebenden Umgebung in den ersten Lebensjahren ist hierfür die erste Voraussetzung.

Zum Autor: Philipp Gelitz ist staatlich anerkannter Erzieher und Waldorferzieher. Er arbeitet im Waldorfkindergarten des Bildungshauses Freie Waldorfschule Kassel sowie als Gastdozent und publiziert zu Themen der Waldorfpädagogik der frühen Kindheit. Stipendiat des Graduiertenkollegs Waldorfpädagogik an der Alanus Hochschule.

Literatur: R. Patzlaff, C. McKeen, I. v. Mackensen & C. Grah-Wittich: Leitlinien der Waldorfpädagogik für die Kindheit von der Geburt bis zum dritten Lebensjahr, Stuttgart 2016 | E. Pikler: Friedliche Babys – zufriedene Mütter, Freiburg 2009 | E. Pikler: Lasst mir Zeit, München 2018 | R. Steiner: Drei Etappen des Erwachens der menschlichen Seele (Vortrag vom 28. April 1923). In: Die menschliche Seele in ihrem Zusammenhang mit göttlich-geistigen Individualitäten – Die Verinnerlichung der Jahresfeste (GA 224), Dornach 1992 | A. Wiehl & W.-M. Auer (Hrsg.): Kindheit in der Waldorfpädagogik, Weinheim/Basel 2019

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