Gehen – Sprechen – Denken
Das Muster, nach dem sich Kinder entwickeln, entspricht der Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Wer Kinder fördern will, sollte das beachten.
Es gibt kaum etwas Eindrucksvolleres, als mitzuerleben, wie bei einem Kind in den ersten Lebensjahren seine Individualität nach und nach immer klarer erkennbar wird. Eltern erahnen diese Individualität oft schon vor der Geburt. Auch den Säugling scheint noch lange wie eine unsichtbare seelische Wolke seine Persönlichkeit zu umschweben. Wie ein Musiker durch sein Instrument etwas von seiner Persönlichkeit in die Welt tragen lernt, so verbindet sich das kindliche Wesen immer intensiver mit seinem Körper, der nun ein Leben lang seine Impulse in die Welt tragen wird.
Das Instrument wird gestimmt
Jedes Kind baut sich sein ureigenes Instrument für seine individuelle Stimme im Konzert des Lebens. Schritt für Schritt wandelt es die von den Eltern ererbte Substanz seines Körpers in seinen eigenen Leib um. Es ist bereits bei der Geburt mit einem fast kompletten Bestand an Gehirnzellen ausgestattet und entwickelt in seinen ersten Lebensjahren eine Überfülle synaptischer Vernetzungen. Der Kopf mit dem wunderschönen Gehirnschädel ist bei einem kleinen Kind der am weitesten ausgereifte Körperteil. Er »traut« sich auch meist als erster aus der vorgeburtlichen Geborgenheit ins Licht dieser Welt.Man könnte denken, von ihm müsste nun die weitere Entwicklung ausgehen. Doch das ist nur zum Teil der Fall.Während ein Kind sich mehr und mehr durch seine Sinne der Außenwelt öffnet, scheinen die Bewegungen, von denen es oft wie durchzuckt wird, eher in den Gliedern selbst zu entstehen. Es strampelt und zappelt wie in einem Meer von Bewegungsmöglichkeiten, die teilweise von primitiven Reflexmustern geprägt, teilweise aber auch ganz frei sind. Das Großhirn mit seinen riesigen Nervenzellmassen hat noch keinerlei Kontrolle über diesen sich selbst ausprobierenden Bewegungsorganismus des kleinen Kindes.
Wer aufrecht steht, kann in die Welt eingreifen
Doch etwa ab dem dritten Monat beginnt dieser Bewegungsvielfalt vom Kopf her eine ordnende Tendenz entgegenzuwirken. Zunächst koordiniert sie die Augenmotorik, so dass der erste Blickkontakt möglich wird, die erste irdische Wesensbegegnung mit dem Kind. Dann dringt sie mit ihrer ordnenden Kraft immer tiefer vor, bis ein Kind über verschiedene Zwischenstationen im Alter von 12 bis 18 Monaten normalerweise gelernt hat, sich aufzurichten und frei zu stehen. Nun ist das Instrument gebaut und wird gestimmt, indem das Kind lernt, seinen Weg zu gehen. Das dauert Jahre, denn jeder Mensch entwickelt seinen eigenen Gang. Und es lernt noch vielmehr in dieser Zeit – die Aufrichte ist nur ein Meilenstein in der Bewegungsentwicklung. Die Hände sind nun frei, in die Welt einzugreifen, und jeder Mensch entwickelt seine eigene Art von Geschick und Gewandtheit. Immer intensiver drücken die Bewegungen etwas von seinem individuellen Wesen aus.
Lange begleiten die frühkindlichen Reflexe des Stammhirnes noch die Bewegungsentwicklung. Erst nach und nach wird das Großhirn einbezogen und ermöglicht immer freiere Bewegungsmuster. Die Aufrichte jedoch ist nirgends reflexmäßig vorgebahnt. Sie ist eine Leistung der Individualität selbst. Und wie alle von nun an zu erwerbenden Fähigkeiten wird sie auch nur erreicht, wenn die Umgebung Vorbilder bietet, die nachgeahmt werden können.
Bewegung macht schlau
Während der immer weiter voranschreitenden Individualisierung der Bewegungsentwicklung beginnt sich ab dem dritten Lebensjahr die vorher stetig anwachsende Zahl der Vernetzungen im Gehirn wieder massiv zu vermindern. Mit dem Strom der ordnenden Kraft, die den Bewegungsorganismus mehr und mehr mit Bewusstsein durchdringt, werden nun alle überflüssigen Vernetzungen im Gehirn zurückgebildet, und nur das, was auch benutzt wird, bleibt bestehen. Die Feinstruktur der Großhirnrinde differenziert sich in der Folge umso reichhaltiger aus, je vielfältiger die Bewegungserfahrungen und auch die Sinneseindrücke des Kindes in dieser Zeit sind. Je mehr wir einem Kind ermöglichen zu toben, zu balancieren und Sinneserfahrungen zu machen, desto besser entwickelt sich auch sein Gehirn. Insofern haben die Bewegungen entscheidenden Einfluss auf die Ausbildung des kindlichen Gehirns, viel mehr als umgekehrt!
Das Instrument wird gespielt
Eine besondere Virtuosität erfordern diejenigen Bewegungen, die sich ein Kind aneignen muss, um Sprechen zu lernen. In der Sprache, im Gesang gipfelt der persönliche Ausdruck einer menschlichen Individualität in besonderer Weise. Eine Unzahl von Kehlkopfmuskeln sind an der Lautbildung der Stimmbänder beteiligt, dazu die Atemmuskulatur und die Muskeln der Zunge sowie des Mund- und Rachenraumes, die den Resonanzraum bilden. Auch das Sprechen lernen Kinder ganz aus der Nachahmung heraus. Ohne sprechende Umgebung lernt kein Kind sprechen. Es probiert verschiedenste Lautbildungen aus und erfreut sich spielerisch an dem Hervorgebrachten. Nach und nach erst verbinden sich diese in der Nachahmung hervorgebrachten Klangformen dann mit Inhalt, zunächst ganz unbewusst durch Probieren, bis ein Kind zu Beginn des zweiten Lebensjahres meist die ersten Ein-Wort-Sätze zustande bringt. Wenn sein Vokabular dann ein halbes Jahr später auf 30–50 Worte angewachsen ist, wirft das im Sprechen erwachende Denken sein erstes Licht voraus.
Indem das Kind am Erfolg lernt, die richtigen Bezüge zwischen dem Gesprochenen und einem vorher wortlosen, nun aber aussprechbaren Sinn herzustellen, wird sein Sprachverständnis immer differenzierter.
Kinder lernen am meisten, wenn sie komplexe Sprachkonstruktionen hören
Wir helfen kleinen Kindern überhaupt nicht, wenn wir in ihrer Umgebung eine möglichst einfache Sprache benutzen. Kinder filtern sich stets das aus dem Gehörten heraus, was sie schon verstehen können, und profitieren gerade davon, in stets komplexer werdende Sprachkonstruktionen hineinzuwachsen. Die Gefahr ist viel größer, dass durch eine sprachliche Verarmung ihrer Umgebung nur eine ganz rudimentäre Sprache gelernt wird, wie dies an der Ähnlichkeit von Jugenddialekten mit den Pidginsprachen von Wolfskindern deutlich wird, die in ihrer Kindheit nicht oder kaum sprechen gelernt haben und in ihrer Jugend dann nur noch ein ganz niedriges sprachliches Niveau erreichen konnten. Kinder saugen aus dem, was sie im Gesprochenen hören, aber auch die Moralität ihrer Umgebung ein. Klänge vermitteln immer Innerlichkeit.
Wie wir aus der Resonanz beispielsweise eines Holzstückes, auf das wir klopfen, viel über die innere Stofflichkeit dieser Substanz erfahren können, so erfahren wir durch den Klang einer Stimme unterschwellig oft mehr über den Sprecher als durch das, was er sagt. Ebenso wichtig wie eine sprachlich anregende Umgebung ist für Kinder daher die Authentizität der Sprechenden. Im schönen optischen Schein kann man Vieles vortäuschen oder vor Kindern verbergen. Im Klang der Stimme nehmen sie aber Unstimmigkeiten zwischen dem, was gesagt wird, und dem, was beim Sprechenden dahintersteht, immer intensiver wahr. Doppelbödigkeiten und sich widersprechende Doppelbotschaften können sie in dieser Zeit fundamental irritieren und für das weitere Leben so verunsichern, dass sie ihren Wahrnehmungen nicht mehr trauen.
Der Musiker wird frei
Denken lernen wir unser ganzes Leben lang. Ein Musiker, der zunächst völlig im Ausprobieren der Töne seines Instrumentes und in der Aneignung der Klangwelt aufgeht, macht sich vielleicht irgendwann, wenn er seine Ausdrucksmöglichkeiten zu einem gewissen Grad beherrscht, auch Gedanken über die Theorie der Kadenzen und reflektiert darüber, wie er seine künstlerischen Fähigkeiten in bestimmten Situationen bewusster einsetzen könnte. So wächst auch bei einem Kind das Vorstellen und Denken schrittweise aus dem heraus, was seine körperliche Entwicklung hervorbringt.
Beim kleinen Kind vor der Schulreife ist die Welt der Gedanken noch ganz bildhaft. Worte wehen in diese Welt hinein und erzeugen unmittelbar Bilder. Vielleicht erinnern wir uns selbst noch daran, wie Märchenbilder in unserer Kindheit fundamental vom Verständnis der Worte geprägt wurden, das wir gerade erreicht hatten. Wenn wir ein Wort irgendwann anders verstehen konnten, verwandelte sich auch die Bildwelt des Märchens an dieser Stelle völlig. Die Seelenkräfte, die Denken und Vorstellen ermöglichen, sind beim kleinen Kind noch gebunden an die Wachstumsvorgänge im Körper und stark von Organwirkungen durchdrungen. Das zeigt sich daran, wie Kinder in einer bestimmten Phase der Wirbelsäulenreifung oft »Leiterbilder« malen und vor dem Zahnwechsel Motive wie Zäune oder zackige Ketten von Berggipfeln. Umgekehrt wirken Eindrücke und Vorstellungen, die wir an sie herantragen, in dieser Zeit bis tief in ihre Leibbildung hinein und können ihre Gesundheit zerrütten.
Erst in dem Maße, wie die Individualisierung ihres Körpers etwa nach dem siebten Lebensjahr einen ersten Abschluss erreicht, beginnen die Kinder, ihr Denken und Vorstellen von den leibgebundenen Motiven zu lösen und langsam in die Abstraktion zu führen. Erst jetzt stehen ihnen die dafür erforderlichen Kräfte zur Verfügung. Zuvor waren sie mit ihrer körperlichen Entwicklung beschäftigt. Wenn wir diese Kräfte zu früh dem Leib entziehen, bleibt das nicht folgenlos für die spätere Gesundheit.
Die Kindheit ist ein Bild der Menschwerdung
In der frühen Zeit der Kindheit können wir nicht nur miterleben, wie ein menschliches Wesen seinen Leib ergreift und sich für die sinnliche Welt öffnet, sondern in Miniaturform wiederholt sich vor uns jedes Mal auch etwas vom Schauspiel der Menschwerdung. Und während sich in unserem Verständnis von der Entstehung menschlichen Lebens auf der Erde in den letzten Jahrzehnten Vieles grundlegend neu geordnet hat, können wir hierdurch auch Manches besser verstehen, was sich in den ersten Entwicklungsschritten eines Kindes vollzieht.
Früher ordnete man die paläontologischen Funde aus der Jahrmillionen zurückliegenden Frühgeschichte der Menschheit stets nach der Schädelgröße an: je mehr Gehirnmasse einer unserer Vorfahren aus dem Grenzbereich zwischen Affe und Mensch hatte, desto eher rechnete man ihn schon dem Menschen zu. Fragen an diese Reihenfolge ergaben sich bereits, als sich zeigte, dass der Neandertaler relativ schon deutlich mehr Gehirnmasse besaß als wir heute. Aber erst durch Funde aus den letzten zehn Jahren wurde mehr und mehr deutlich, dass die Vergrößerung des Gehirns erst ein sehr spätes Phänomen in der Menschheitsentwicklung war: Sehr viel früher errangen die Vor- und Frühmenschen den aufrechten Gang, und immer noch früher, als sich die Hirnvergrößerung ausprägte, wölbte sich ihr Gaumen für ein freies Spiel der Zunge und als Resonanzraum für die Sprache.
Erst als die Fähigkeiten des aufrechten Ganges und der Sprache errungen waren, vergrößerte sich auch ihr Großhirn, in dem wir die organische Grundlage des menschlichen Denkens sehen müssen. Sie erwarben nicht durch ihr kognitives Niveau die Fähigkeit zum aufrechten Gang, sondern die vielfältiger werdende Betätigung in der Welt durch ihre freigewordenen Hände ließ ihr Großhirn wachsen. Sie lernten nicht sprechen durch Denken, sondern umgekehrt unterstützte die Sprachentwicklung offensichtlich ihre Hirnentwicklung.
Auch ein kleines Kind erwirbt normalerweise die drei menschlichen Grundfähigkeiten – Gehen, Sprechen, Denken –, die wie nichts anderes seinen Weg durch das Leben bestimmen, in der gleichen Reihenfolge. Und es lernt noch bis lange in die Schulzeit hinein am besten, wenn es erst etwas tut oder erlebt und es dann versteht.
Zum Autor: Dr.med. Bernd Kalwitz, Jahrgang 1956, Schularzt der Rudolf Steiner Schule Bergstedt/Hamburg; langjährige Einrichtungs- und Seminarleitung der heilpädagogischen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft Vogthof in Ammersbek bei Hamburg, heute stellvertretende Schulleitung der Fachschule Nord in Kiel und Dozent an der Fachhochschule Ottersberg.
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