Ist impfen sinnvoll?
Natascha Hoevener vom Dachverband Anthroposophische Medizin (DAMiD) im Gespräch mit Stefan Schmidt-Troschke, Kinderarzt und Ärztlicher Leiter des Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke, über das Impfen.
DAMiD | Auf der 1. Nationalen Impfkonferenz 2009 traten sie als einer der Hauptredner auf. Gegen anthroposophische Ärzte wird immer wieder der Vorwurf erhoben, sie seien strikte Impfgegner. Wie passt das zusammen?
Stefan Schmidt-Troschke | Wir hatten vor einigen Jahren zusammen mit dem Robert-Koch-Institut eine Studie zur Häufigkeit von Masern-Komplikationen gemacht. Dabei ist eine gute Vertrauensbasis entstanden, die dann dazu geführt hat, dass ich zu der Konferenz eingeladen wurde, um die Perspektive der Anthroposophischen Medizin zum Impfen vorzustellen.
DAMiD | Anthroposophische Ärzte weisen wieder darauf hin, dass sie nicht gegen das Impfen sind, sondern für den individuellen Impfentscheid. Hatten Sie den Eindruck, dass diese Position auf dem Kongress respektiert wurde?
SST | Man hat für die Anthroposophische Medizin ein eigenes Referat vorgesehen. Aber als einziger Vertreter einer Auffassung, die nicht dem medizinischen Mainstream entspricht, wirkt man schon sehr als Einzelkämpfer. Wenn wir in einen ernsthaften Dialog über das Impfen treten wollen, muss das anders werden.
DAMiD | Wie sieht die Aufgabe der Anthroposophischen Medizin beim Impfen aus?
SST | Wir beschäftigen uns schon lange mit diesem Thema und haben im Lauf der Zeit auch gute Antworten zur individuellen Betreuung der Patienten gefunden. Die anthroposophischen Ärzte stehen deshalb in der Verantwortung, mit guten, differenzierten und auch rational fassbaren Argumenten für eine größere Individualisierung in der Medizin im Allgemeinen und in der Impfdebatte im Besonderen einzustehen. In diese Beratung muss immer auch die Perspektive des Anderen eingeschlossen sein, desjenigen, der durch eine Erkrankung ungewollt angesteckt werden könnte. Die Verantwortung für diesen Anderen kann dem Einzelnen keiner abnehmen, auch der Staat nicht mit einer Zwangsimpfung.
DAMiD | Wie erleben Sie die Eltern, wenn es ums Thema Impfen geht?
SST | Wir stellen fest, dass die Eltern ihre Kinder zunehmend impfen lassen wollen. Von einer Impfmüdigkeit, von der in den Medien immer wieder die Rede ist, ist also nichts zu bemerken. In fast allen Bereichen haben wir bundesweit steigende Impfraten, auch bei den Masern, die besonders häufig im Fokus stehen, wenn es um die vermeintliche Impfmüdigkeit geht. Der Vorwurf, die anthroposophischen Ärzte würden Eltern großflächig vom Impfen abhalten, ist also auch aus diesem Grund nicht plausibel. Was wir aber auch spüren, ist, dass sich Eltern zunehmend in einem Korsett aus sogenannten Notwendigkeiten gefangen sehen und gar nicht mehr differenziert (aus-)wählen können. Ein Beispiel dafür: Die heutigen Kombinationsimpfungen lassen keine Wahl, gegen welche Krankheit geimpft werden soll. Für uns bedeutet das auch, dass wir in der Beratung Kompromisse eingehen müssen, wenn kein Einzelimpfstoff vorhanden ist. Unsere Forderung ist daher, dass man auch auf gesetzlicher Ebene dieser individuell-differenzierten Entscheidung Rechnung trägt, und die Hersteller dazu bringt, einzelne Impfstoffe anzubieten.
DAMiD | Welche Eltern kommen zu Ihnen? Eltern, die strikt gegen das Impfen sind? Oder Eltern, die (noch) Beratungsbedarf haben?
SST | Zu uns kommen vor allem Eltern, die sich eine unabhängige und ausführliche Beratung über das Für und Wider von Schutzimpfungen wünschen – die berühmt-berüchtigten strikten Impfgegner sind das nicht. Vielmehr handelt es sich dabei um Eltern, die oft mit der bisherigen Beratung und Aufklärung unzufrieden sind, die sich in ihrer Impfentscheidung nicht angemessen informiert und begleitet fühlen.
DAMiD | Wie stellen Sie sich eine gute Information zum Impfen vor?
SST | Es sind natürlich die Ärzte, die nach wie vor in der Pflicht sind, unabhängig und ausführlich zum Impfen zu informieren. Da kommen (und wollen) wir nicht raus. Was uns allerdings noch fehlt, ist eine strukturierte Ausbildung für eine differenzierte Impfberatung. Wir werden darüber nachdenken müssen, ob wir in unseren eigenen Reihen (aber auch darüber hinaus) Angebote für Ärzte machen können, um auf die Fragen der Eltern sinnvolle Antworten geben zu können. Mittel- und langfristig kann man natürlich auch darüber nachdenken, ob es Krankenschwestern geben sollte, die sich spezialisieren, um Beratungen zu Impfungen in Zukunft mit übernehmen zu können. Aber grundsätzlich gilt: Wir können in der Beratung nur glaubwürdig sein, wenn wir zeigen, dass wir die Eltern unabhängig und nicht tendenziös informieren.
DAMiD | Vieles in der Impf-Diskussion läuft zugespitzt auf die Masern-Impfung zu. Wie stehen Sie dazu?
SST | Die Anthroposophische Medizin fasst die Masern als eine Krankheit auf, die auf die gesamte Biographie bezogen durchaus eine sinnhafte Wirkung haben kann. Die jetzige epidemiologische, also gesamtgesellschaftliche Entwicklung erfordert es aber, der Realität neu ins Auge zu blicken. Aufgrund der heutigen Impfprogramme ergeben sich auch für die anthroposophischen Ärztinnen und Ärzte neue Voraussetzungen, die wir sehr ernst nehmen müssen. Die Masern betreffen heute eben seltener Kleinkinder, bei denen es weniger Komplikationen gibt, sondern vor allem Gruppen, die ein deutlich höheres Risiko haben, an den schwerwiegenden Komplikationen zu erkranken, also einerseits vor allem Jugendliche und junge Erwachsene und andererseits Säuglinge. Heute nehmen Eltern, die sich wünschen, dass ihre Kinder die Masern durchmachen, ein hohes Maß an Verantwortung auf sich – und zwar nicht nur für ihr eigenes Kind, sondern auch für Kinder und Jugendliche im Umkreis.
Caspar , 12.10.10 14:10
1. Neben Ärzten informieren v.a. Heilpraktiker(-innen) ihre Patienten bzw. Eltern von Kindern sorgfältig über Risiken und Nutzen von Impfungen. Ob es noch spez. ausgebildete Krankenschwestern sein müssen, sei dahingestellt.
2. Bitte nennen Sie kritische Eltern und Therapeuten nicht Impfgegner, sondern Impfkritiker (allgemein anerkannter Begriff, feiner Unterschied).
3. Sie sind bestimmt nicht der einzige "Einzelkämpfer" gegen den Mainstream, bitte kein Pathos.
4. Welcher individuelle Impfentscheid bleibt eigentlich wirklich übrig, wenn man die teilweise agressive Vermarktung von Impfungen in den
(Allgemein-, Haus- und Kinderarztpraxen)betrachtet ?
Michael , 26.03.19 20:03
Und wie sieht die Argumentation heute aus. da wieder massiv die Impflicht bei Masern gefordert wird. Gibt es neue Erkenntnisse?
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