Kinder brauchen Anker
Die Gesellschaft hat sich verändert, die kindlichen Bedürfnisse sind die gleichen geblieben.
In der Kindheit lernen, probieren und erfahren wir mehr als in unserem gesamten späteren Leben. In dieser Zeit lernen wir, erste Beziehungen zu leben, wir werden sozialisiert und in die Traditionen sowie Wert- und Normvorstellungen unserer Gesellschaft eingeführt. In dieser sensiblen Lebensphase prägen alle Eindrücke den noch offenen, neugierigen und lernbereiten Menschen nachhaltig. Doch was finden die Kinder heute vor?
Verlässliche Bindungen sind selten geworden
Kinder brauchen in erster Linie verlässliche Beziehungen zu anderen Menschen, die Erfahrung stabiler Bindungen, Menschen, die um sie herum sind, sie tragen, schützen, gern haben, lieben und ihnen Gelegenheit und Raum zur Entfaltung ihrer individuellen Möglichkeiten geben.
Das Heranwachsen in einer Atmosphäre von Geborgenheit und Akzeptanz gibt Halt und Sicherheit. So gestärkt kann das kleine Kind allein erste Schritte in die Welt hinaus-wagen.
Kinder brauchen verlässliche Strukturen, an denen sie sich orientieren können: rhythmische Lebensgestaltung im Alltag, sinnvolle, nachvollziehbare Regeln, die das gemeinsame Miteinander gestalten. Sie brauchen Grenzen, die erfahren, ausgetestet und sicherlich auch einmal überschritten werden, die aber dem Leben in einer Familie und einer sozialen Gemeinschaft wie der Kindergartengruppe, einen Rahmen geben.
Rituale, die Orientierung, Verlässlichkeit und Halt geben, sind ebenso wichtig, wie die Möglichkeit, eigene Erfahrungen zu machen und somit auch Freiheit zu erfahren und zu gestalten. Werte wie Achtung, Ehrfurcht und Mitgefühl sind weitere Faktoren, die das Kind auf seinem Weg in das Leben begleiten und die es wertschätzen lernen sollte – und natürlich eine gesunde Umgebung, die ihm die Gelegenheit gibt, ein eigenes positives Körpergefühl zu entwickeln.
All dies bildet den Hintergrund für eine gesunde seelische, körperliche, geistige und soziale Entwicklung und führt zum Erwerb entsprechender Fähigkeiten.
Die Gesellschaft investiert in Autos statt in Kinder
Wir leben in einer Gesellschaft, die es schwer hat, eigene Werte zu definieren, in der mehr Geld in die Automobilindustrie als in soziale Einrichtungen, Chancengleichheit und Bildungsmöglichkeiten für alle Kinder investiert wird. Es ist eine Gesellschaft, in der Spielraum, Erfahrungsfelder und Entfaltungsmöglichkeiten für Kinder kaum noch vorhanden sind, in der Hinterhöfe verschwinden, aber immer breitere Straßen und mehr Stellplätze für Autos entstehen, in der Familien häufig finanziell unzureichend ausgestattet sind, so dass beide Eltern einer Berufstätigkeit nachgehen müssen, und Beziehungen durch digitale Netzwerke ersetzt werden.
Individualisierung, Emanzipation, Berufstätigkeit beider Eltern, Mobilität, Konsumverhalten, Flexibilität, Arbeit und Arbeitslosigkeit, mangelnde Vorbilder für Jungen, Bildungs- verlierer, Digitalisierung, Medialisierung, Globalisierung sind einige der Schlagworte mit denen wir die veränderte Gesellschaft erfassen können. Tragende Lebensgemeinschaften, vielleicht sogar über mehrere Generationen, sind selten, der Raum für Kinder verschwindet und die Besinnung auf die Frage, was Kinder für eine gesunde Entwicklung brauchen, tut mehr als Not.
Viele Eltern sind verunsichert
Mit der gesellschaftlichen Veränderung hat sich in den letzten Jahren auch der Blick auf das Kind verändert. Wir erleben heute viele verunsicherte Eltern, denen es schwer fällt, sich in Erziehungsfragen zu orientieren. Nie zuvor gab es so viele pädagogische Ratgeber in den Regalen der Buchhandlungen. Nach dem Umbruch der 1970er Jahre, dem Laissez-faire-Verhalten in der Erziehung, dem starken Auflockern von Grenzen, Ge- und Verboten ist eine Verunsicherung erlebbar, die Elternschulen, Elternratgeber und Erziehungsratgeber wie Pilze aus dem Boden schießen ließ.
Eltern holen ihre Kinder immer mehr »auf Augenhöhe« ab. Die Kinder werden als Mitbestimmer in Fragen des Haushalts, der Freizeitgestaltung, der Urlaubswünsche und des Konsums der Familie betrachtet, vornehmlich um das Kind in Alltagsfragen einzubeziehen und elterliches Demokratieverständnis zu leben. Dem Kind wird dadurch eine Rolle zugewiesen, die ihm nicht entspricht und die es überfordert. Entscheiden sollten in diesem Alter immer noch die Eltern. Dem Kind auf Augenhöhe zu begegnen, ist im Kleinkind-alter noch nicht an der Zeit.
Für Jugendliche, die ihre Pubertätskrise schon hinter sich gelassen haben und partnerschaftlichen Umgang untereinander und Demokratieverständnis im Familienalltag üben und leben müssen, schon eher.
Vorbilder tun Not
Das kleine Kind braucht nach wie vor Eltern, Erzieher und Vorbilder, an denen es sich aufrichten und orientieren kann, die es erleben und nachahmen kann, um so die Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entwickeln, die es »gesellschaftsfähig« machen.
Das Kind braucht in einer immer schnelllebigeren Welt erst recht Orientierung, Sicherheit und Halt, die es nur in verlässlichen stabilen Beziehungen und einer geregelten Alltagsstruktur finden kann. Erst diese ermöglichen es ihm, seine eigenen Vorstellungen und Entfaltungsmöglichkeiten zu finden. Sie brauchen Vorbilder, die sie nachahmen können, sie brauchen Rhythmus und Wiederholung, sie müssen hauswirtschaftliche, handwerkliche und kreative Tätigkeiten erleben und ihre Sinne im Tun ausbilden können.
Dies gilt sowohl für den Kindergarten als auch für das familiäre Umfeld. Es ist wichtig, dass die Kinder in Bilder und Geschichten eintauchen können, dass sie gemeinsam essen, und Zeit und Raum für Rollenspiele haben, die ihre Phantasie anregen.
Die Kindheit als Schutzraum anzusehen und dem Kind das Kind-Sein zu ermöglichen, sollte heute mehr denn je vorrangiges Ziel jeder Erziehungspartnerschaft sein! Dazu sollten Pädagogen die Eltern in Erziehungsfragen beraten und deren Ressourcen herausarbeiten und stärken.
Was Erzieher und Eltern lernen müssen
Heute muss stärker als früher der Blick auf das Individuelle eines jeden Kindes gerichtet werden. Kinder müssen nicht »funktionieren«, Kinder müssen sich entwickeln können. Hier gibt es ein weites Übungsfeld für Eltern und Erzieher. Es ist wichtiger, das individuelle Können, die sozialen Fertigkeiten und Fähigkeiten eines jeden Kindes wahrzunehmen, zu fördern und zu begleiten als den reibungslosen Ablauf des Alltags sicherzustellen.
Zur Autorin: Barbara Leineweber ist Dipl.-Pädagogin und Waldorferzieherin in Gladbeck
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