Kindheit zwischen Lockdown und Digitalisierung
2020/21 ereilte die Menschheit eine Katastrophe, die bis heute anhält: die Covid-19-Pandemie. Wie man in Deutschland darauf reagierte, haben wir erlebt: Die politische Führung bemühte sich vor-rangig um die Impfkampagnen, um die präventive Einschränkung der Personenkontakte sowie um den Ersatz des schulischen Präsenzunterrichts durch digitalen Fernunterricht. Bildungspolitiker sahen darin sogar einen willkommenen Nebeneffekt.
Hinweis: Der Artikel ist in der Herbstausgabe der Zeitschrift »Frühe Kindheit« (03/2022) erschienen. Einzelne Ausgaben können Sie hier bestellen. Hefte, die älter als ein Jahr sind, stehen in unserem Archiv zum Download für Sie bereit.
Die Corona-Pandemie, so hieß es, habe die Schwächen des deutschen Bildungswesens bloßgelegt: Die Ausstattung der Schulen mit Internet und digitalen Geräten sowie mit kompetenten Fachlehrern sei im internationalen Vergleich defizitär. Wenn der Rückstand nicht aufgeholt werde, drohe Deutschland den Anschluss an die weltweite Entwicklung zu verlieren. Und überhaupt sichere nur eine perfekte Digitalisierung die Zukunft unserer Kinder. Ohne Skrupel schickte man daher Erwachsene, Kinder und Jugendliche in die Lockdowns und in zahllose Quarantänen. Fernunterricht in Schulen und Hochschulen, Telekonferenzen und Homeoffice wurden zum Alltag.
Zerstörte Lebenssicherheit durch pädagogische Ignoranz
Erst im Frühjahr 2021 dämmerte der Öffentlichkeit, was man Kindern und Jugendlichen angetan hatte, indem man ihnen, die am wenigsten zur Verbreitung des Virus beitrugen, die Kindergärten und Schulen verschloss und sie auch außerhalb der Lockdowns wochen- und monatelang in die Verbannung am heimischen Computer schickte. Der Erfolg war mehr als fragwürdig: Zwar konnten sich manche Schulen rühmen, den Teleunterricht recht gut gemeistert zu haben.
Aber was zählte das angesichts der Tatsache, dass ein Drittel der 11- bis 17-Jährigen ohne eine Covid-Infektion an psychischen Auffälligkeiten litt und die psychiatrischen Kliniken in Deutschland einen Ansturm ohnegleichen erlebten? (Der Spiegel, 8.5.2021) Sieht Zukunftssicherung so aus?
Noch dramatischer war die Lage bei Kindern im Alter von 3 bis 10 Jahren: Therapeuten, Ärzte und Psychiater beobachteten bei einer erschreckend hohen Zahl neben diffusen Ängsten und Verunsicherung ernsthafte Entwicklungsstörungen, alarmierende Gewichtszunahme, Ticks, Verlustängste, Schreien im Schlaf, Selbstverletzungen, Zerstörungswut, Flucht in den inneren Rückzug bis zum Verstummen, ferner sehr verbreitet psychosomatische Beschwerden wie Lethargie, Niedergeschlagenheit, Kopf- und Bauchschmerzen (Der Spiegel, 8.5.2021).
Erfahrene Fachleute berichteten, wie erschüttert sie waren, schon bei Kindern auf dumpfe Trauer, erloschenen Lernwillen, Resignation und sogar Suizidgedanken zu stoßen.
Die Bildungspolitik nahm von alledem keine Notiz. Hier zeigte sich die wahre Schwäche unseres Bildungssystems: Nicht die mangelhafte Digitalisierung war das Problem, sondern die beispiellose Missachtung des in der UNO-Kinderrechtskonvention garantierten Anspruchs aller Kinder auf eine gesunde Entwicklung. Der Fernunterricht reduzierte dieses Recht auf bloße Wissensvermittlung per Bildschirm. Und nur um die ging es auch in den offiziellen Verlautbarungen, in denen stereotyp über »kaum mehr aufholbare Lerndefizite« geklagt wurde; von den gesundheitlichen Folgen war keine Rede.
Eines steht nach diesen Erfahrungen fest: Die Lernerfolge eines Kindes sind nicht davon abhängig, dass es zu Hause und in der Schule über ein digitales Endgerät verfügt, sondern davon, dass es einen direkten Umgang mit anderen Kindern und Erwachsenen pflegen kann und freien Zugang hat zur handfesten, sinnlich erlebbaren Welt statt zu virtuellen Surrogaten davon. Die hautnahe Begegnung mit Welt und Mensch ist die Lebensluft, in der Gesundheit und Leistungsfähigkeit junger Menschen gedeihen. Dann werden auch Surrogate verkraftbar.
Ein rätselhafter Vorläufer der Pandemie
Die deutschlandweite COPSY-Studie kam 2021 zu dem Ergebnis, dass sich der Anteil von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Auffälligkeiten im Vergleich zur Vor-Coronazeit verdoppelt hatte.1 Man könnte daraus den Schluss ziehen, vor der Pandemie sei die Lage noch normal gewesen. Dem ist aber nicht so. Am 24. Oktober 2018, also rund ein Jahr vor dem ersten Auftauchen des SARS-CoV-2-Virus, titelte das Deutsche Ärzteblatt »Immer mehr junge Menschen sind psychisch krank« und referierte folgende Zahlen:
Nach Angaben der Studie des Robert-Koch-Instituts zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland waren zuletzt etwa 16,9 Prozent der Kinder und Jugendlichen psychisch auffällig. Dem Kinder- und Jugendreport der DAK-Gesundheit zufolge hatten sogar 26 Prozent der Jungen und Mädchen psychische Leiden.
Krankenkassen, so hieß es weiter, meldeten, dass sich die Zahl der Behandlungen von Kindern und Jugendlichen wegen Anpassungs-, Angst- oder Schlafstörungen, Burnout, Depression und anderen Beschwerden in der Zeit von 2007 bis 2017 »teils um mehr als 100 Prozent« erhöht habe.
Der in der Corona-Zeit bis 2021 verzeichnete Anstieg hatte demnach in dem Jahrzehnt von 2007 bis 2017 einen Vorläufer, bei dem auch schon eine Verdoppelung der Behandlungszahlen eintrat. Was galt aber damals als Ursache?
Das Ärzteblatt notierte dazu 2018: »Als Ursachen gelten der hohe Leistungsdruck durch Schule und Eltern, digitale Reizüberflutung, Mobbing in sozialen Netzwerken sowie Versagensängste.« Diese Gründe mögen für 2018 zutreffend gewesen sein; sie reichen jedoch nicht aus, um die horrende Zuspitzung der psychischen Belastungen während der Covid-Pandemie zu erklären. Das schulische Setting war ab 2020 so stark verändert, dass noch etwas anderes im Spiel gewesen sein muss.
Dem möchte ich im Folgenden nachgehen.
Was uns die Covid-Pandemie lehren konnte
Der Klimawandel und die Umweltprobleme weckten in vielen Menschen die Sorge um das Ökosystem der Erde, von dem unser Leben physisch abhängt. Die Pandemie hingegen vermochte uns für die Unentbehrlichkeit seelischer und geistiger Nahrung zu sensibilisieren, denn in der Isolation des Lockdowns wurde stark empfunden, wie die Seele dürstet und der Geist vertrocknet, wenn wir nicht präsente Menschen vor uns haben, aus deren Blick, Stimme und Habitus ihr inneres Leben spricht und die uns im Gespräch mit Impulsen und Ideen bereichern. Ähnliches tritt ein, wenn uns der Zugang zur Natur verwehrt wird: Erst dann wissen wir zu würdigen, wie wohltuend sie uns berührt und erfrischt, wenn wir mitten in ihr sind.
Was der Erwachsene hier für sich entdeckt, ist für das kleine Kind von Anfang an ein elementares Lebensbedürfnis: Instinktiv sucht es im Blick und der Stimme anderer Menschen die Individualität, deren geistiges Feuer sein eigenes Ich beglückt. Draußen in der Natur ist es erfüllt von Eindrücken und saugt die Wunder der gottgeschaffenen Welt freudig in sich auf.
Das alles bedeutet ihm »Rückbindung« (lateinisch: religio) zu jenem übersinnlichen Reich, aus dem es auf die Erde gekommen ist, und stärkt es für seinen Einzug in den irdischen Leib.
Wer in der Pandemie durch schmerzliche Entbehrung erfahren musste, was das wirklich Wesentliche für uns Menschen ist, der wird die grandiosen Leistungen der Computer und Bildschirme nüchtern-realistisch einzuschätzen wissen: Das Gerät kann uns durchaus mit anderen Menschen verbinden, und doch reicht das virtuelle Abbild niemals an das ungleich reichere Erlebnis während einer direkten Begegnung heran, vor allem dann nicht, wenn man den Partner zuvor nie live kennengelernt hat. Ebenso können Filme von fernen Ländern und kulturellen Sehenswürdigkeiten nie die Fülle von Erfahrungsmöglichkeiten bei persönlicher Anwesenheit vor Ort ersetzen, sie sind und bleiben ein Surrogat.
In dem oben zitierten Artikel aus dem Ärzteblatt wurde das Jahr 2007 genannt als Beginn einer Verdoppelung der psychischen Leiden unter Kindern und Jugendlichen. Es ist zugleich das Jahr, in dem am 9. Januar in den USA ein digitales Wunderwerk vorgestellt wurde, das seitdem von nahezu der gesamten Menschheit intensiv genutzt wird: Apples iPhone, dem dann viele andere Firmen nacheiferten. Wir haben schon alle erlebt, wie dieses Wunderwerk im heutigen Alltag benutzt wird: Man blickt weder auf den Nachbar noch schaut man interessiert auf die Umgebung, der Blick klebt unablässig am Bildschirm. Man begibt sich freiwillig in eine Art von Lockdown – dessen Faszination freilich die Entfremdung von der Welt vergessen lässt.
Dazu gehört die Feststellung der Statistiker, dass Handynutzer im Schnitt pro Tag 80mal auf den Bildschirm blicken, um keine Neuigkeit zu verpassen.
In Deutschland werden täglich 51/2 Stunden dem Handy und anderen Bildschirmen gewidmet, im weltweiten Durchschnitt 7 Stunden. So nützlich diese Geräte auch sind, so verführen sie doch dazu, einen beträchtlichen Teil der Lebenszeit in einem Zustand zu verbringen, der den Namen Lockdown verdient, weil er uns für die Dauer der Nutzung rigoros von der direkten Begegnung mit Welt und Mensch fernhält. Bei Jugendlichen sind die Nutzungszeiten meist noch viel länger, mit der Folge, dass viele von ihnen psychisch in die Gefangenschaft einer der Bildschirmsüchte geraten, die von der WHO als reguläre Krankheiten anerkannt sind.
Bildschirmkonsum sabotiert den Inkarnationsvorgang
Es handelt sich nicht darum, den Bildschirm zu verdammen; er ist Teil unserer heutigen Welt. Weil er aber Gefahren birgt, denen sich selbst Erwachsene nur schwer entziehen können, ist die Frage zu stellen, welche Wirkung seine Nutzung auf die kindliche Entwicklung hat. Dazu gibt es eine ältere Studie, die noch vor der Einführung mobiler Bildschirmmedien entstand und deshalb nur auf den Fernsehkonsum abheben konnte, schon dort aber die Tendenzen vorfand, die heute extreme Ausprägungen gefunden haben.
Erstellt wurde die Studie von den Göppinger Amtsärzten Winterstein und Jungwirth, die sich dem Thema auf besondere Weise näherten, indem sie 2004 und 2005 bei den routinemäßigen Einschulungsuntersuchungen die Eltern u.a. fragten, wie umfangreich der Fernsehkonsum ihres Kindes bis dahin im Schnitt pro Tag gewesen sei.
Zusätzlich zogen sie die sogenannte Mensch-Zeichnung heran, die das Kind während der Untersuchung ohne jede Vorgabe angefertigt hatte – eine bewährte Praxis zur Beurteilung der Schulreife, denn in diesem Alter zeichnen Kinder den Menschen stets so, wie sie ihren eigenen Leib von innen heraus erleben (Propriozeption nennt das die Fachsprache). Die Auswertung der im Laufe der Studie entstandenen Bilder von 1.894 Kindern (sechstes und siebtes Lebensjahr) ergab schockierende Ergebnisse, die 2006 veröffentlicht wurden.2
Die folgende Abbildung 1 zeigt daraus ein Beispiel:
Die obere Zeile (a) enthält Bilder von eindeutig schulreifen Kindern, deren täglicher Fernsehkonsum maximal 1 Stunde betrug. Man sieht, wie das Körperbewusstsein im Kopfbereich bis in jedes Detail vorgedrungen ist, aber auch den ganzen Leib bis in die Zehen und Fingerspitzen hinein proportionsgerecht ergriffen hat. Lebensfreude lacht einem aus der Körperhaltung und dem Gesicht entgegen. Man erlebt ein Kind, das sich freut, in seinem Leib angekommen zu sein. Die Bildekräfte, die es bisher zum Wachstum und zur Strukturierung der Leibesfunktionen benötigte, sind nach getaner Arbeit frei geworden und dienen jetzt dem schulischen Lernen.
In der Zeile darunter (b) finden sich typische Zeichnungen von gleich alten Kindern, die mindestens 3 Stunden täglich ferngesehen hatten: Man sieht deutlich, wie wenig sie noch ihren Leib durchdringen konnten. Die Proportionen zwischen Kopf und Rumpf entsprechen oft einem Kleinkind von drei Jahren, ohne dass ihr Körper äußerlich so aussah. Wir blicken in die innere Konstitution, und dieser Blick erlaubt die ziemlich sichere Prognose, dass diese Kinder in der Schule mit außerordentlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben werden, nicht wegen mangelnder Intelligenz, sondern weil die körperlichen Funktionen noch längst nicht genügend ausgereift sind, um den Anforderungen der Schule gewachsen zu sein.
102 solcher Kinder mussten die Amtsärzte zurückstellen. Sie empfahlen aber den Eltern, den Fernsehkonsum des Kindes radikal zurückzufahren. Bei der erneuten Vorstellung ein Jahr später hatten 62 Prozent der zurückgestellten Kinder alle Defizite überwunden und den normalen Schulreifestand erreicht, weil ihre Eltern dem Rat der Ärzte gefolgt waren. Die übrigen waren noch immer auf dem alten Stand. Anthroposophisch gesprochen zeigte sich: Der Bildschirmkonsum sabotiert den Inkarnationsvorgang. – Im nächsten Kapitel werden wir sehen, wie Mensch-Zeichnungen aussehen, die während der Covid-Pandemie entstanden sind.
Eine Verkehrung aller Werte, die Kinder verstört und seelisch krank macht
Als tiefere Ursache für Umweltzerstörung und Klimawandel gilt heute das immer stärker egozentrisch gewordene Denken und Handeln eines großen Teils der Menschheit, der nur seinen Nutzen sieht und dem Profit nachjagt. Dieses Verhalten hat seinen Niederschlag gefunden in der Tatsache, dass in den Mittelpunkt der Sorgen und Ängste ein Element der Erde gerückt ist, das ein Wahrbild für altruistischen Austausch und soziales Miteinander ist, nämlich die Luft, die wir alle einatmen, um leben zu können, und die wir alle im Ausatmen zum Sprechen mit den Mitmenschen brauchen. Sie ist mit Schadstoffen und potentiell tödlichen Viren verseucht. Das Menetekel steht also an der Wand und wir hätten allen Grund, neben Rettungsaktionen für Klima und Umwelt auch die menschlichen Beziehungen zum Projekt zu machen.
Nun ist aber die Welt dabei, sich mit dem Smartphone eher in die Gegenrichtung zu bewegen: Wie oft sieht man Mütter vom Handy absorbiert kein Wort mit ihrem Kinde sprechen! Selbst inmitten einer Menschengruppe pflegt man den privaten Lockdown, indem man beim Klingelton abrupt ein gerade stattfindendes Gespräch abbricht und dann für alle anderen trotz körperlicher Anwesenheit mental abwesend ist. Man denkt sich nichts dabei, weil man ja meint, wie beim Lesen eines Buches jederzeit wieder aufschauen und ins reale Leben zurückkehren zu können. Was aber würde geschehen, wenn dieser Rückweg plötzlich durch eine höhere Macht versperrt würde? Das zu erleben, zwang uns der staatlich verordnete Lockdown, der die am mobilen Bildschirm tausendfach geübte Absonderung von Welt und Mensch zum Dauerzustand machte, massiv und unentrinnbar wie in einem Gefängnis.
Gerechtfertigt wurde der Lockdown durch eine diabolische Verkehrung aller Werte: Die lebenserhaltende Luft wurde zur tödlichen Gefahr, weil das Virus die Atemwege befiel und in der Lunge zum Erstickungstod führen konnte. Auch der Mitmensch wurde zur Bedrohung und musste nach Möglichkeit gemieden werden. Küsse und Umarmungen können tödlich sein, so wurde gewarnt. Um aber die Isolation im strengen Lockdown abzumildern, mussten Welt und Mensch in garantiert virusfreier Form in die Wohnung gelangen, nämlich virtuell am Bildschirm, also jenem Instrument, das die Absonderung per se nur noch verstärken konnte. Kein Wunder, dass soviel Irrsinn junge Menschen psychisch aus dem Lot brachte.
Jüngere Kinder schienen für das Covid-19-Virus zunächst weniger empfänglich zu sein. Aber das rettete sie nicht vor der seelischen Atemnot, die sich unvermeidlich einstellte, wenn ihr Alltag aus den Fugen geriet, wenn sie ständig die untergründige Angst der Erwachsenen spüren mussten, wenn sie die Großeltern nicht besuchen durften, »um sie nicht zu töten«, wenn Spielplätze gesperrt und der Umgang mit Spielkameraden verboten waren, wenn Singen in der Gemeinschaft »zu gefährlich« war, wenn Ausflüge in die Natur zu Straftaten wurden und in dieser Ausweglosigkeit nur noch das Fernsehen oder der Computer blieb.
Was bewirkte das alles bei ihnen? Einen beklemmenden Einblick gewinnen wir durch Mensch-Zeichnungen, die Kinder von einigen Waldorfkindergärten 2021 in ihrem letzten Kindergartenjahr vor der Einschulung zu Papier gebracht haben (Abbildungen 2–5).3 Wie man sieht, blieb die Leibesdurchdringung fast gespenstisch auf den Kopf beschränkt, während der übrige Leib noch im Stadium eines Dreijährigen verharrte oder überhaupt nur als Strichmännchen angedeutet wurde. Physisch war der Körper des Kindes sicherlich altersgemäß entwickelt; seelisch aber konnte er viel zu wenig ergriffen werden, um von innen her als die eigene Gestalt (Körperschema) wahrnehmbar zu werden. Diese Kinder sind in ihren Inkarnationsbemühungen offenkundig aufs schwerste zurückgeworfen worden.
Abbildung 2: Mensch-Zeichnung vor der Einschulung 2021
Abbildung 3: Mensch-Zeichnung vor der Einschulung 2021
Abbildung 4: Mensch-Zeichnung vor der Einschulung 2021
Abbildung 5: Mensch-Zeichnung vor der Einschulung 2021
Anzumerken ist indes, dass die Mensch-Zeichnungen vor Schulbeginn nicht erst während der Pandemie, sondern schon lange vorher eine zunehmende Tendenz zur Retardation aufwiesen. Die Winterstein-Studie ist ein Beleg dafür. Heute ist festzustellen, dass Bilder wie die in der oberen Zeile von Abbildung 1 allmählich zur Ausnahme werden. Das ist ein Alarmzeichen, das nichts Geringeres fordert, als die gesamte Pädagogik des Kindesalters auf den Prüfstand zu stellen. Das verhinderte Ankommen im Leibe verdient die gleiche Aufmerksamkeit wie die sexuellen Kindesmisshandlungen, von denen ständig in der Presse die Rede ist, denn es kann für eine ganze Generation zukunftszerstörend werden, wenn nicht pädagogisch heilend eingegriffen wird.
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein …
Was ist also zu tun? Die wichtigste Voraussetzung für eine wirksame Hilfe ist, sich freizumachen von dem materialistischen Menschenbild reduktionistischer Wissenschaften, die zu wissen meinen, dass das Ich des Menschen eine vom Gehirn erzeugte Illusion sei. Die Wirklichkeit zeigt, dass jedes Kind weit mehr ist als ein materielles Gebilde: Sein stofflicher Leib ist durchtränkt und durchpulst von drei verschiedenen Energien, die zwar genauso unsichtbar sind wie z.B. Elektrizität und Magnetismus, sich aber wie jene präzise in ihren Wirkungen beobachten lassen: Da ist zum einen eine kraftvolle Lebenskräfteorganisation, die den Körper aufbaut, formt und am Leben erhält, ferner eine seelische Organisation, und beide übergreifend eine Ich-Organisation, in der sich die Individualität kundtut.
Auf die Welt gekommen, begegnet das Kind in allen irdischen Wesen den gleichen übersinnlichen Energien, die es auch in sich selber trägt: im anderen Menschen dem unsterblichen Ich, in der Pflanzenwelt den gestaltungsmächtigen Lebenskräften, im Tierreich den empfindungsmächtigen Seelenkräften. So kann das Kind, auch wenn das nicht bewusst geschieht, sich mit der ganzen Welt verwandt, ja heimatlich fühlen, und das ist die entscheidende Gabe, die keine noch so perfekte elektronische Nachbildung dem Kind geben kann, weil sie nur einen Schein bietet, keine Wirklichkeit. Selbst Erwachsene fühlen ihre Lebensgeister erwachen, wenn sie sich in der realen Welt befinden. Für kleine Kinder jedoch sind solche Originalbegegnungen nicht nur angenehm, sondern lebensentscheidend, weil sich von ihnen der ganze Mensch »ernährt«. Werden sie dem Kind in großem Umfang und für längere Zeit entzogen, wie es im Lockdown der Fall war, dann fehlt ihm die Lebensluft, die Seele erstickt und wird krank.
Das muss aber nicht tatenlos hingenommen werden: Die geistigen Kräfte, die im Naturreich wirken, sind auch in uns selbst präsent, und wir können sie durch das Zaubermittel der Kunst für die Kinder zur Wirksamkeit bringen: Die Lebenskräfte lassen sich durch die objektiven Gesetzmäßigkeiten der Eurythmie anregen, durch Reigen und Bewegungsspiele, durch Ellersiek-Spiele und Musik, die seelischen Kräfte durch Märchen und Geschichten, Gedichte und Reime. Vieles davon können bei gutem Willen auch Eltern tun, wenn der Kindergarten geschlossen ist, und sie dürfen darauf vertrauen, dass solche Tätigkeiten ein gesundes Ankommen in der Welt unterstützen.
Nun kann man einwenden: Im Waldorfkindergarten geschieht das doch alles, und trotzdem entstanden auch dort so erschreckende Mensch--Zeichnungen wie die oben abgebildeten. Warum blieb alle Bemühung wirkungslos? Hier ist eine Gegenfrage angebracht: Gab es die Bemühung wirklich, und wenn ja, in welcher Gesinnung, mit welchem wahrhaftigen, geistig errungenen Hintergrund? Ist vieles nicht einfach Routine geworden, leergewordene Tradition? Die gleiche Frage ist an alle Schulen zu stellen. Das soll kein Vorwurf sein, sondern soll bewusst machen, dass wir Zeiten entgegengehen, in denen sich die Spreu vom Weizen trennen muss: Leere Tradition wird unfruchtbar. Nur eine echte, durch Selbstschulung errungene Spiritualität wird den Kindern das mitgeben können, was sie für die Bewältigung ihres Lebens in so dramatischen Zeiten benötigen.
Selbst dann, wenn die staatlichen Verordnungen ständig Abstands- und Hygieneregeln erzwingen, so dass vieles nicht mehr möglich ist, bleibt uns immer noch ein Mittel, das nicht verboten werden kann: unsere Sprache. In dem Buch »Sprache – das Lebenselixier des Kindes« habe ich in den Kapiteln 9 und 10 zeigen können, dass im Artikulieren der Sprachlaute Kräfte aus den Höhen der geistigen Welt wirksam sind, die sich mit modernster Technik beobachten lassen. Sie können ihre Wirkung nur schwach entfalten, solange wir die Sprache achtlos aus alter Gewohnheit benutzen. Sobald wir uns aber ehrfürchtig dieser Kräfte bewusst werden und uns darin schulen, sie pädagogisch heilend einzusetzen, können wir mit ihnen die seelische Gesundheit der Kinder stärken; eine Schutzhülle entsteht, unter der junge Menschen ungeachtet aller Widrigkeiten gedeihen.
Autor: Prof. Dr. Rainer Patzlaff war von 1975 – 2002 Waldorflehrer in Stuttgart, 2001 – 2021 Leiter des Instituts IPSUM, bis 2014 hatte er den Lehrstuhl Kindheitspädagogik an der Alanus-Hochschule inne. Er ist Dozent und Publizist.
Hinweis: Dieser Text ist leicht gekürzt. Die Originalversion erschien in der »Medizinischen Pädagogischen Konferenz«, Heft 99, im Mai 2022.
Anmerkungen:
1 Ravens-Sieberer u.a.: Seelische Gesundheit und psychische Belastungen von Kindern und Jugendlichen in der ersten Welle der COVID-19-Pandemie. Ergebnisse der COPSY-Studie, 2021. Zusammenfassung online: Link.springer.com 1. März 2021.
2 Winterstein, Peter / Jungwirth, Robert J.: »Medienkonsum und Passivrauchen bei Vorschulkindern. Risikofaktoren für die kognitive Entwicklung?«, in: Der Kinder- und Jugendarzt 37 (2006), S.205-211.
3 Diese Abbildungen wurden mit freundlicher Genehmigung der Autorin dem Buch von Angelika Knabe Kinderzeichnungen im Wandel. Eine Betrachtung aus anthroposophischer Sicht (Selbstverlag 2021) entnommen.
Kommentar hinzufügen