Kleidung für Kinder ist mehr als etwas zum Anziehen
Der Tag bei Familie C. beginnt gut, wenn es mit Katharina, vier Jahre alt, über die Auswahl der passenden Kleidung und das Anziehen keine leidigen Diskussionen gibt.
Heute lief alles glatt und der Vater bringt Katharina erleichtert in den Kindergarten. An anderen Tagen kommt es zu Auseinandersetzungen, die damit enden, dass sich Katharina schmollend mit dem Vater in den Kleidern, die sie ausgewählt hat, auf den Weg in den Kindergarten begibt. Dort entschuldigt sich der sichtlich gestresste Vater für die unpassende und nicht der Jahreszeit entsprechende Bekleidung seiner Tochter und fügt erklärend hinzu, dass sie sich ganz selbstständig angezogen habe. Zum Abschied drückt er dann Katharinas Erzieherin noch einige Kleidungsstücke in die Hand, im Vertrauen darauf, dass Katharina ihre zu leichte Kleidung gegen warme Winterkleidung wechseln wird.
Dies mag vielen Eltern bekannt vorkommen und es zeigt deutlich, dass Kinder fixe Vorstellungen von ihrer Kleidung haben. Das Kind wählt seine Kleidung nach persönlichen Vorlieben aus: Es mag ein bestimmtes T-Shirt lieber, als jenes, welches die Mutter bereits zum Anziehen hingelegt hat. Das zeigt jedoch auch, wie sensibel und wie individuell das Thema Kleidung und Anziehen sein kann. Kleidung ist in unseren Breitengraden eine Notwendigkeit, um den Körper gegen Auskühlung und Unterkühlung im Winter und im Sommer gegen Hitze und Überhitzung zu schützen.
Kleidung als Schutz und Hülle
Passende Bekleidung kann für Wohlgefühl sorgen und damit dem Kind Sicherheit und Geborgenheit vermitteln, unpassende Bekleidung dagegen für Unwohlsein und Unsicherheit.
Nach der Geburt liegt es in der Verantwortung des Erwachsenen, das Kind entsprechend seinen Bedürfnissen zu kleiden und dafür zu sorgen, dass es Hülle, Geborgenheit und Schutz durch diese erhält. Das ungeborene Kind ist im Mutterleib vor Kälte und Hitze geschützt. Es ist umgeben vom Fruchtwasser und schwimmt im schwerelosen Zustand. Es erlebt Enge und Weite und hat gerade so viel Bewegungsfreiheit, um sich ausreichend zu bewegen und zu spüren.
Sobald es geboren ist, ist es den Gesetzen der physischen Welt ausgesetzt und den Sinneseindrücken der Umwelt und unmittelbaren Umgebung ausgeliefert. Die Haut als Organ der Begrenzung und Abgrenzung reagiert sensibel über den Tastsinn. Der Wärmesinn und die Fähigkeit, den eigenen Wärmehaushalt zu regulieren, erwirbt sich das Kind erst allmählich. In Folge dessen, spürt das Kind nicht, dass es zu kühl oder zu warm gekleidet ist. In diesem Alter übernehmen die Eltern die Aufgabe, das Kind entsprechend der Außentemperatur zu kleiden, damit es weder friert noch schwitzt. Dies setzt voraus, dass Eltern ihr Kind gut beobachten und sich in dessen Lage versetzen, um es dann entsprechend mit wärmender oder eher kühlender Kleidung zu versehen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass sich das kindliche Temperaturempfinden deutlich von dem der Erwachsenen unterscheidet.
Kinder kommen zum Beispiel mit blauen Lippen und zähneklappernd im Sommer aus dem Schwimmbecken und behaupten, ihnen sei überhaupt nicht kalt und sie müssten jetzt unbedingt noch ein Eis essen. Oder aber sie haben kein Empfinden dafür, dass sie völlig überhitzt und verschwitzt sind und sich ihres Pullovers entledigen sollten. Die eigene Befindlichkeit auszudrücken und für sich zu sorgen, muss das Kind erst lernen und solange es das nicht kann, muss der Erwachsene dafür sorgen.
Wie sensibel reagiert das Kind auf Eindrücke der Umgebung?
Das Kind ist vergleichbar mit einem trockenen Schwamm, der sich mit Flüssigkeit vollsaugt, sobald er mit Wasser in Berührung kommt. Alle Eindrücke, die es aus seiner Umgebung aufnimmt, wirken sich auf seine physische, seelische und geistige Entwicklung aus. Innerhalb der ersten sieben Jahre bildet das Kind durch die vielfältigsten Sinneserfahrungen seinen Tastsinn, seinen Bewegungssinn, seinen Gleichgewichtssinn und seinen Vitalsinn aus. Der Vitalsinn oder Lebenssinn gibt Auskunft über das eigene Befinden. Kleidung umhüllt den Körper und ist immer in unmittelbarem Kontakt zur Haut und löst im Kind die unterschiedlichsten Tast- und Wärmesinnerfahrungen aus:
weich – kratzig; (zu) eng – zu weit; (zu) kurz – (zu) lang; warm – kalt; feucht – trocken; hart – schlabbrig; leicht – schwer; grob – fein …
Auch die Bewegungsfreiheit des Kindes hängt von angemessener Kleidung ab. Der Vitalsinn oder Wohlfühlsinn wird über die Materialien und die Machart der Kleidung stimuliert. Die richtige Größe der Bekleidung ist ein weiterer Faktor für passende und angemessene Kleidung des Kindes und trägt zum inneren Gleichgewicht und zur Selbstsicherheit bei.
Auch Farben bewirken unterschiedliche Stimmungen im Menschen. Die Skala reicht von beruhigenden bis hin zu anregenden und aufregenden Farbtönen. Muster und Musterzusammenstellungen können eine ähnliche Wirkung hervorrufen. Manche farbige Muster können eine Nervosität auslösen, da das Auge nicht auf ihnen ruhen kann.
Rudolf Steiner gab Hinweise zur psychologischen Wirkung von Farben auf das Kind. Beim Betrachten einer roten Fläche entsteht im Betrachter als Nachbild die Komplementärfarbe Grün. So empfiehlt er, das überaktive Kind in Rottöne zu kleiden, da das Kind beim Betrachten des roten Farbtones innerlich die grüne Komplementärfarbe bilde. Die Farbe Grün wirkt beruhigend und somit kann das Tragen von Kleidung in Rottönen sich harmonisierend auf das Kind auswirken. Umgekehrt kann ein Kind, das eher ruhig und in sich zurückgezogen ist, durch Kleidung in überwiegenden Blautönen angeregt werden. Die Gegenfarbe zu Blau ist ein Gelb-Orange, welches eine aktivierende Wirkung hervorruft. »Aufgrund der besonders innigen Verbindung, die im Kleinkindalter zwischen seelischem und körperlichem Leben besteht, ist auch dieses Erzeugen der Gegenfarbe ein Vorgang von stärkerer Intensität als im Erwachsenenalter«, schreibt Michaela Glöckler in der »Kindersprechstunde«.
Ein Kleidungsstück kann wie eine zweite Haut erlebt werden, so dass man es am liebsten gar nicht mehr auszieht. Es gibt aber auch Kleidungsstücke, die mit allen Mitteln und Tricks verweigert werden, weil sie mit unangenehmen Sinneseindrücken verbunden sind und großes Unbehagen auslösen können.
Welche Kleidung fördert das Wohlbefinden?
Zunächst einmal ist atmungsaktive Kleidung wichtig, die zur Temperaturregulation beiträgt. Diese verhindert einen Hitzestau oder eine Unterkühlung. Kleidung aus Naturfasern, wie Wolle, Baumwolle, Seide und Leinen besitzen die Eigenschaft, die Körpertemperatur zu regulieren. Kleidung vermittelt dem Kind die Wahrnehmung des eigenen Körpers, also Halt und Grenzen. Dies ist mit der passenden Größe verbunden. Ist ein Kleidungsstück zu groß, spürt das Kind seine Grenze nur bedingt. Außerdem ist es ständig damit
beschäftigt, zum Beispiel seine rutschende Hose hochzuziehen. Zu lange Ärmel behindern es im Spiel oder in seiner Bewegungsfreiheit. Zu viele Kleidungsstücke übereinander beengen das Kind. Dies sind Faktoren, die das Kind daran hindern, seinen eigenen Spielimpulsen und Interessen ungehindert nachzugehen.
Kinder haben noch keine Taille, sondern meist ein fülliges kleines Bäuchlein. So rutschen Jeans und Röcke meist herunter oder schnüren Bauch und Hüften ein. Das begrenzt Kinder in ihrer Bewegungsfreiheit. Mit einer engen Hose zu klettern oder ein Hindernis zu überwinden, wird dann zu einem Kunststück!
Kleidung sollte ein Optimum an Bewegungsfreiheit und Bequemlichkeit im Alltag ermöglichen, also sind Latzhosen mit elastischen Trägern sinnvoll. Kleidung, die für den Aufenthalt an der frischen Luft gedacht ist, sollte strapazierfähig und gleichzeitig auch funktional sein. Desgleichen sind Wärme- und Feuchtigkeitsregulierung durch die Kleidung zu bedenken.
Darüber hinaus sollten sicherlich noch Vorlieben des Kindes für die eine oder andere Lieblingsfarbe oder eine bestimmte Kleidungsart berücksichtigt werden. Die bekannte Redensart »Kleider machen Leute« lässt sich vielleicht folgendermaßen umformulieren und auf Kinder übertragen »Richtige Kleidung ermöglicht Kind-Sein«! Angemessene Kleidung ermöglicht dem Kind Wohlgefühl, Geborgenheit und Freiheit zugleich.
Zur Autorin: Marie-Luise Compani ist Krankenschwester, Waldorferzieherin, Dozentin und systemische Beraterin.
Literatur: R. Steiner: Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft, GA 34, Dornach 1987 | M. Glöckler u. a.: Kindersprechstunde. Ein medizinisch-pädagogischer Ratgeber, Stuttgart 2015
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