Kleine Naturwissenschaftler im Kindergarten?
Ein Tag im Waldorfkindergarten beinhaltet: Lebenskunde, Musik, Deutsch, Religion, Sport, Mathematik und eben auch Physik, Chemie und Biologie. Doch dafür brauchen wir keine besonderen Module für naturwissenschaftliche Bildung – im Gegenteil.
Spielen, Leben und Arbeiten im Kindergarten
Der Alltag im Waldorfkindergarten sieht für gewöhnlich so aus, dass die Kinder im Umfeld hauswirtschaftlich und handwerklich tätiger Erwachsener frei spielen, mithelfen, träumen, singen und Bilder malen – immer wieder abgelöst durch Phasen, in denen alle sich gemeinsam bewegen, einer Geschichte lauschen oder essen. Ein anachronistischer Unsinn, herübergerettet aus vergangenen Jahrhunderten, könnte man da meinen – lebensfern, bildungsfeindlich und sozialromantisch. Wird denn da nun im Waldorfkindergarten eigentlich naturwissenschaftliche Bildung betrieben? »Auf keinen Fall! Die Kinder sollen doch spielen«, könnte man denken. »Auf jeden Fall! Jeden Tag werden physikalische Experimente durchgeführt«, könnte man aber auch sagen.
Biologie
Es ist 7.30 Uhr. Ein Kind kommt in seine Kindergartengruppe und hat eine Blume für den Jahreszeitentisch mitgebracht. Die Kindergärtnerin freut sich und sagt: »Danke schön, wir bringen die Blume schnell in eine Vase. Die Blume will ja trinken.« Und tatsächlich: 20 Minuten später hat sich die Blüte etwas weiter geöffnet und die Blume steht auch etwas straffer in der Vase als gerade eben noch.
Chemie
Es ist kurz nach 8 Uhr. Viele Kinder sind jetzt schon da. Die Kindergärtnerin mischt Mehl, Butter, Milch, Wasser, Salz und Hefe und knetet mit Hilfe einiger Kinder den Brötchenteig. Nach einer Minute ist keine der Zutaten mehr zu sehen. Die einzelnen Bestandteile haben sich miteinander verbunden und sind zu einem Teig geworden. Es entsteht ein deutlich wahrnehmbarer chemischer Prozess. Es klebt ein bisschen. Jetzt noch ein bisschen Mehl hinzu, noch einmal kneten und kurz warten. 30 Minuten später, als sich der Teig genug ausgeruht hat, ist er sichtbar gewachsen. Ein kleines Wunder, jede Woche aufs Neue erlebbar.
Physik
Es ist 8.45 Uhr. Drei Kinder sitzen am Tisch mit einer Murmelbahn und schauen und hören gespannt, wie die Murmeln aufgrund der Schwerkraft über das Holz rollen und am Ende unten landen. Eine Murmel »macht, was sie will« und rollt über den Tisch. Als der Tisch zu Ende ist, fällt die Murmel in einer exakten Flugparabel zu Boden. Dabei bleibt die horizontale Geschwindigkeit die gleiche und die vertikale Beschleunigung nach unten beträgt 9,81 Meter pro Quadratsekunde und folgt somit den Gesetzmäßigkeiten der Erdschwerebeschleunigung.
Mathematik
Es ist 9.30 Uhr. Alle Kinder räumen auf. Die Sechsjährigen waren schnell fertig, haben alle Spielsachen in die richtigen Körbe sortiert und dürfen nun den Tisch fürs Frühstück decken. Es gibt die selbstgebackenen Brötchen, die nun viel brauner sind als vor dem Backen. Es sind heute 17 von 20 Kindern und 2 Erwachsene da. Drei Kinder sind krank. »Wir brauchen 19 Teller und 19 Becher.« sagt die Kindergärtnerin. Zwei Minuten später hört man einen Jungen: »Wir haben jetzt 18 Becher. Uns fehlt nur noch einer.«
Lernen im Zusammenhang
Fakt ist, dass es im Waldorfkindergarten keine besonderen Module für naturwissenschaftliche Bildung gibt. Genauso wenig, wie es Schwimmunterricht, Sport, Ethik, Medienförderung, Museumsbesuch oder einen Deutschkurs gibt. Fakt ist aber ebenso, dass im freien Spiel der Kinder mit natürlichen Spielmaterialien, bei Fingerspielen, beim Reigen, beim Puppenspiel, beim Backen, beim Essen und beim freien Spiel im Garten mit Steinen, Hölzern, Erde, Wasser und Sand sehr Vieles auftaucht, was an naturwissenschaftlich erforschbaren Tatsachen in der Welt vorkommt. Die verschiedenen Bildungsbereiche und Wissensgebiete, in die wir so gerne das Aufwachsen, Leben und Lernen von Kindern unterteilen, sind alle gleichzeitig im »normalen« Leben vorhanden. Schauen wir uns doch einmal an, wie kleine Kinder irgendetwas über ein schräges Brett kullern lassen und wie sie anstatt mit Duplo oder Lego, Holzklötze stapeln, die immer wieder so herrlich umfallen. Da wird ganz ohne irgendeine Bildungsschublade in jedem Augenblick ein Zusammenhang zwischen dem Ich und der Welt hergestellt. Dieser Zusammenhang ist »warm«, weil beim Backen oder beim Murmelspielen Lebenskunde, Physik und Religion eine Einheit sind. Die Welt ist gut. Alles hängt miteinander zusammen. Ziele ich hingegen als Erwachsener auf einen bestimmten Lernerfolg in einem bestimmten Bildungsbereich ab, kühlt die Erfahrung ab, weil von vorneherein nicht das Sich-Einleben in die Welt, sondern der intellektuelle Begriff hinter den Phänomenen betont wird.
Körperliche Gesundheit und Kohärenz
Wir können natürlich erst eine halbe Stunde rezitieren, dann eine halbe Stunde singen, dann eine halbe Stunde Sport machen, dann eine halbe Stunde physikalische Experimente durchführen und dann eine halbe Stunde Biologie »unterrichten«. Eine solche Vorgehensweise ist von Erwachsenen ausgedacht, weil sie sich der Bildung der Kinder verpflichtet fühlen. Für die Kinder selbst hingegen ist es gesundheitsgefährdender Unsinn. Kinder benötigen in den Jahren vor der Schulreife ein Lebensumfeld, in dem Tasten, Hören, Sehen, Riechen und Schmecken geschult werden und – vor allem – sich miteinander vernetzen. Einzelne Sinnesbereiche isoliert anzusprechen und sie anschließend verstandesmäßig zu reflektieren, schwächt die Ausgestaltung des gesamten Körpers und des Gehirns.
Kinder brauchen in erster Linie ein Umfeld, in dem ihre Vitalfunktionen gestärkt werden. Atmen, Durchbluten, Verdauen und Wachsen – all das gerät ins Hintertreffen, wenn im Biologie- oder Chemie-Modul der Begriff hinter der bloßen Erscheinung gesucht wird. Alles Erklären vor der Schulzeit macht krank, weil es die Kinder aus dem Wahrnehmen der Welt und dem sympathischen Draufzugehen herausreißt und sie in die kalte Begriffswelt der Erwachsenen hinein katapultiert. Experimente zu Magnetismus, Elektrizität und Ernährungsstoffen haben nichts mehr mit der Ausbildung einer gesunden Durchblutung, Verdauung oder Motorik zu tun. Dem Kind schadet es, wenn die Dinge in der Welt nicht mehr kohärent sind. Ein grünes Blatt, mathematische Symmetrien, Singen und Schwerkraft gehören im Spiel der Kindergartenkinder zusammen. Tatsächlich haben Mathematik, Musik, Physik und Chemie sehr viel miteinander zu tun. Das weiß aber nur, wer sich der Welt spielend nähert und nicht über kategorisierende Vorstellungsschubladen.
Was also tun?
Wenn wir mit den Kindern rhythmisch arbeitend, singend und sprechend einen kleinen Ast durchsägen, um daraus »Taler« für den Kaufmannsladen herzustellen, ist darin alles enthalten – ohne einen Stundenplan, ein Modul oder »Projekt«. Man vergegenwärtige sich, wie intensiv kleine Kinder mit Wasser und Sand spielen – eine Schulung der Sinne mit Mengenlehre, Physik und Chemie gleichzeitig in einem und nicht getrennt. Ohne den störenden Kommentar der Erwachsenen nennt man so etwas das Sammeln von Primärerfahrungen. Das gleiche Spiel, verpackt als Physik-Projekt, sucht hinter dem gegenwärtigen Erleben immer die Verstandesebene auf, die zum Wahrgenommenen noch die Begriffe der Erwachsenenwelt hinzufügen will. Sonst, so meint man, lernt das Kind ja nichts daran. Das ist jedoch ein Irrglaube. Je mehr das kleine Kind implizit über das unreflektierte Spiel die Welt erfährt, desto breiter ist die Erfahrungsgrundlage, auf der sich dann das explizite Lernen mit Vorstellen, Erinnern und Üben in der Schule aufbauen kann. Dort, wo versucht wird, schon vor der Schule explizit lehrend an das Kind heranzutreten, werden die Vernetzung der Sinnesbereiche, die Vitalfunktionen und das Kohärenz-Erleben beeinträchtigt. Durch die verstandesmäßige Überforderung werden die Kinder ständig geschwächt. Durch freies Spielen und Mithelfen bei der Arbeit der Erwachsenen wird der Zusammenhang von Ich und Welt mit all ihren Gesetzmäßigkeiten eine evidente Erfahrung, die Kinder innerlich stark macht.
Zum Autor: Philipp Gelitz ist Kindergärtner im Waldorfkindergarten des Bildungshauses Freie Waldorfschule Kassel und Vater einer Tochter.
Aleksandra Sperandio Muszer, 29.02.20 20:02
Herzlichen lieben DANK für Ihre Ausführung. Klare HIlfe für mich, unsere Arbeit als bewusst gewählter Kleinod anzusehen. Liebe Grüsse
Aleksandra M.
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