Königskinder. Vom Sinn des letzten Kindergartenjahres
Das letzte Kindergartenjahr hat eine besondere pädagogische Bedeutung.
Zum einen können die Kinder erleben, wie sie im sozialen Zusammenhang innerhalb einer Gruppe »echte Helfer« mit Überschau werden. Sie können zum Beispiel den Tisch decken oder den Kleineren beim Anziehen helfen. Zum anderen übernehmen sie auch Aufgaben und Tätigkeiten, wie zum Beispiel bestimmte Vorschularbeiten, die sie in den Jahren zuvor schon immer bei den Älteren bewundernd verfolgt hatten. Und nicht zuletzt bemerken sie, dass sie langsam, aber sicher zu groß für den Kindergarten werden. Sie wollen unbedingt in die Schule. Nicht umsonst verabschiedet man sie in die Schule in vielen Regionen als Sonnen- oder Königskinder.
Im letzten Kindergartenjahr hat die Entwicklung des Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten eine ganz entscheidende Bedeutung. Dieses Vertrauen in sich selbst muss in dem Jahr vor der Einschulung täglich geübt werden: im Spiel, beim Zeichnen, beim Abwaschen, beim Sägen. Es entwickelt sich am täglichen praktischen Tun, noch nicht durch schulische Anforderungen. Aufgrund des immer stärker werdenden Vorstellungslebens geht um den sechsten Geburtstag herum der unbekümmerte Zugang zur Welt allmählich verloren, um dann wieder gefunden zu werden. Wie kann man das verstehen?
Qualvolle Erlebnisse
Ein Beispiel: Kurz vor ihrem sechsten Geburtstag will ein bis dahin fast immer frohgemutes Mädchen eine Katze malen. Bisher kein Problem, »sah« sie doch in ihren Zeichnungen stets etwas Lebendiges, etwas »Echtes«, auch wenn es vielleicht nicht jeder andere auf Anhieb erkennen konnte. Nun aber: zeichnen, hinschauen, wegschmeißen. Nochmal: zeichnen, hinschauen … Das Gesicht verfinstert sich: »Ich kann das nicht!« – »Doch, prima, jeder malt, so gut er kann.« – »Nein, ich kann das nicht. Das sieht gar nicht aus wie eine echte Katze!« Noch ein Versuch. Wieder nichts. Am Ende bittere Tränen. Diese Szene wiederholt sich in den kommenden Wochen noch mehrmals. Immer wieder große Unzufriedenheit mit dem eigenen Unvermögen. Es entsteht eine neue Wachheit: Die Vorstellung von der »richtigen« Katze und die Realität geraten in eine fast qualvolle Diskrepanz. Das Urvertrauen in die Stimmigkeit mit der Welt ist abhandengekommen. Was liegt hier vor?
Etappenläufer
Um diese Entwicklung besser vor dem Hintergrund der gesamten frühkindlichen Entwicklung zu verstehen, ist es lohnend, sich einmal die drei grundlegenden Etappen dieses Lebensabschnitts vor Augen zu führen. Von der Geburt bis zum Trotzalter im dritten Lebensjahr werden der eigene Körper und die umgebende Welt überwiegend über die Sinne kennengelernt. Das meiste »Lernen« findet hier unbewusst statt: So sieht ein Blatt aus, so riecht nasses Holz, so schmecken Karotten, so fühlt sich der Arm beim Blumengießen an. Der Zuwachs an neuronaler Vernetzung ist in diesem Lebensabschnitt am größten. Hier wird zunächst ganz ohne Hinzunahme der Phantasie rein gegenständlich gespielt. Beim Sand im Förmchen handelt es sich noch nicht um Kuchen, sondern um interessant sich anfühlenden Sand. Hieran wacht das Kind auf und lernt, die Dinge richtig zu benennen, seine Glieder und Sinnesorgane ordentlich zu gebrauchen und entwickelt langsam ein Bewusstsein von sich und der Welt.
Ist dieses Bewusstsein erwacht, sagt das Kind »Ich« und beginnt zu trotzen. Es hat vollkommen unbewusst das Wichtigste »gelernt«: Es läuft, es spricht, und es kann gedankliche Verknüpfungen erzeugen.
Nun beginnt die zweite Etappe. Zwischen etwa zweieinhalb und fünf Jahren entwickelt sich eine besondere Art von Phantasie, die sich in dieser sprudelnden Fülle später nicht wieder beobachten lässt. Jetzt werden die Dinge nicht nur sinnlich kennengelernt, sondern dazu auch noch phantasievoll verinnerlicht. Die Sägespäne auf dem Boden sind erst Puderzucker und eine Minute später Parmesan. Das Kind läuft auf allen Vieren, sagt »Miau« und bezeichnet sich kurz danach als Hund. Alles kann nun alles sein. Die Kinder gehen mal hierhin, mal dorthin, wie Bienen von Blüte zu Blüte, haben häufig im Kindergarten wechselnde Spielpartner und halten sich nicht sehr lange an einer Sache auf. Alles ist in ständiger phantasievoller Verwandlung. Auch die Bilder, die gemalt werden, werden nun bunter, und die Kinder »sehen« in diesen Bildern vor ihrem inneren Auge, mit der ihnen innewohnenden Phantasie, allerhand. Und nun die dritte Etappe, um die es hier geht.
Planspiele
Mit etwa fünf Jahren verändert sich das Spiel. War es bisher ein Feuerwerk an Phantasie, wird es nun von aufsteigenden Vorstellungen geleitet. Vorher ließ sich das Kind von der Umwelt zum Spiel anregen, jetzt kann es die »eigene« Vorstellung sein, die alles bestimmt. Konnte zuvor jeder Holzklotz Bügeleisen und Teekanne gleichermaßen sein, so »plant« das größere Kindergartenkind nun immer mehr, was gespielt werden soll, wie es genau aussehen soll und was man dafür alles braucht. Je näher der sechste Geburtstag rückt, desto mehr wird auch über das bevorstehende Spiel diskutiert. Es wird argumentiert, verworfen, neu geplant – manchmal sogar ohne hinterher tatsächlich in die Tat zu kommen. Diese Entwicklungsphase ist die letzte Etappe der frühen Kindheit. In diese Phase fallen Langeweile, Anstoßen, wackelnde Zähne und ein gestreckterer, dünnerer Körper. Die gesamte Gestalt verliert an »Rundlichkeit«. Der Kopf mit seinen Vorstellungen taucht nicht mehr ab im runden Einerlei, sondern schwebt auf langem Halse frei und abgesetzt über dem Rest. Auch philosophische Fragen werden nun gelegentlich erörtert, und es melden sich die Moral und das Gewissen. Vor allem müssen jetzt aber mit Vorstellung und Realität zwei Dinge zusammengebracht werden, die zunächst überhaupt nicht zusammenpassen. Aufgrund dieses ersten Erlebens der Polarität zwischen Denken und Handeln kann es sogar zu Trotzattacken wie bei Zweijährigen kommen. Der Widerspruch zwischen vorgestellter Innenwelt und realer Außenwelt führt zu einem Herausfallen aus dem frühkindlichen Einheitserleben. Mitunter liegen Kinder dann sogar gelangweilt und verzweifelnd am eigenen Unvermögen langgestreckt auf dem Boden. Und das ist gut so.
Errungenes Selbstvertrauen
Lassen wir den Kindern den Durchgang durch dieses Nadelöhr ihrer Entwicklung, dann erringen sie sich ein selbst erworbenes und nicht von außen herbeigeredetes Selbstvertrauen. Sie lernen ihre eigenen Zeichnungen wieder schätzen, indem sie viel Zeit zum Malen haben. Sie erleben beim Sägen und beim Teigkneten, dass sie Kraft haben. Und sie erfahren am eigenen Leib, dass sie sehr wohl eine Vorstellung in die Tat umsetzen können, wenn sie nur Zeit und Muße dafür haben – beim freien Spiel. Dafür braucht es inneren und äußeren Spielraum. Die Welt muss nun täglich bewegt und erprobt werden, das Spielen muss wieder neu geübt werden – und das Scheitern ebenso. Wer im freien Spiel und in der sinnvollen lebenspraktischen Betätigung unreflektiert erfahren darf, dass er selbst es ist, der eine Intention zur Handlung werden lässt, wer im täglichen lebenspraktischen Vollzug immer geschickter werden darf, der wird sich im späteren Leben mit Selbstvertrauen von innen heraus motivieren können.
Die Fähigkeit, im späteren Leben Intention und Handlung, Vorstellung und Realität, Ideal und Wirklichkeit in ein angemessenes Verhältnis zu bringen, hängt maßgeblich an den Freiräumen zum Spielen ab, zum »Welt-Ausprobieren« – weit über den sechsten Geburtstag hinaus.
Wechselnde Bestimmer
Diese Freiräume sind für die Entwicklung auch deshalb günstig, weil dadurch das Rollenspiel weiterhin praktiziert werden kann. Dafür ist in der Schule dann kaum noch Zeit. Kinder können am Ende der Kindergartenzeit meist sehr gut zu viert oder zu fünft zusammen spielen, brauchen aber oft einen »Bestimmer« im Spiel. Wenn die Kinder in dieser Weise ausgiebig zusammen spielen können, dann erleben sie ganz ohne jede intellektuelle Unterweisung, dass es ratsam ist, beim Hausbauen den einen, beim Essenkochen diesen und beim Flugzeuglenken jenen bestimmen zu lassen. Besteht Raum für freies, unangeleitetes Rollenspiel, kann geübt werden, was für eine demokratische Gesellschaft unabdingbar ist: Es gibt keinen Chef für alles, sondern Fachleute für bestimmte Aufgaben. Es gibt dann keine absoluten Hierarchien oder Stände, sondern Kompetenzhierarchien je nach Arbeitsbereich. Wenn sich dies als Erlebnis einstellt, ist das die beste Förderung von sozialer Kompetenz und eine gelungene Prävention gegen den Wunsch nach autoritärer Führung im Erwachsenenalter. Der Wert des letzten Kindergartenjahres liegt also darin, eben noch keine Lernanforderungen im schulischen Sinne bewältigen zu müssen, sondern die Kraft zu entwickeln, alle zukünftigen Hindernisse selber überwinden zu können. Erst dann ist das Kind reif und frei für aktives Lernen – und muss nicht passiv »beschult« werden.
Zum Autor: Philipp Gelitz ist Kindergärtner im Waldorfkindergarten des Bildungshauses Freie Waldorfschule Kassel.
Stephan Heinzmann, 22.04.17 10:04
Der Artikel war uns sehr nützlich bei der Überarbeitung des letzten Kg Jahres..
Königskinder sollten sich auf etwas freuen dürfen
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