Machen Krippen aggressiv?

Von Claudia Grah-Wittich, Februar 2014

In Krippen betreute Kinder leiden unter massiven Stressbelastungen, behauptet Rainer Böhm, Leiter des Sozialpädiatrischen Zentrums in Bethel. Die Erhöhung des »Stresshormons Cortisol« entspreche den Werten hochbelasteter Topmanager.

Foto: © Charlotte Fischer

Claudia Grah-Wittich vom »Haus des Kindes« in Frankfurt-Niederursel setzt dem Stress eine gute Betreuung entgegen.

Der Stress, dem Krippenkinder ausgesetzt sind, führt, wie Böhm sagt, vermehrt zu Infektionen und Neurodermitis. Eine dauerhafte Erhöhung des Stresshormons wirke zudem nicht nur schädlich auf bestimmte Regionen des sich entwickelnden Gehirns, sie führe kurzfristig zu Verhaltensauffälligkeiten und langfristig zu einem erhöhten Risiko für psychische Störungen wie Depressionen oder Angst.

Böhm bezieht sich in der Hauptsache auf eine Längsschnittstudie, die das National Institute of Child Health and Development (NICHD) seit 1991 in den USA durchführt. Sie hat nachgewiesen, dass ehemalige Krippenkinder in der Pubertät vermehrt aggressiv-impulsive Verhaltensauffälligkeiten zeigen. Je früher und länger die Betreuung, desto stärker zeigten sich diese Auffälligkeiten.

Susanne Viernickel, Professorin für Pädagogik der frühen Kindheit, zweifelt an der Übertragbarkeit der Studie auf Deutschland. Das deutsche Bildungs- und Erziehungssystem sei stärker reguliert, als das der USA. Dort könne praktisch jeder eine Kinderkrippe eröffnen. In Deutschland sei außerdem eine sanfte Eingewöhnung Standard, die in den USA nahezu unbekannt sei. Viernickel weist darauf hin, dass bisher keine Studie, auch nicht die NICHD-Studie,  zeigen konnte, dass sich Krippenkinder besser oder schlechter entwickelten als Kinder, die zu Hause betreut wurden. Da es noch keine langjährige Erfahrung gibt und Wissenschaftler selbst noch auf der Suche nach Erklärungen sind, rät Viernickel beim Thema Cortisol zu Vorsicht. Sie warnt davor, pauschal Ängste vor der Krippenbetreuug zu schüren.

Auch Wolfgang Hartmann, Leiter des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, und Carola Bindt, stellvertretende Direktorin der Kinderpsychiatrie des Hamburger Universitätsklinikums, zweifeln an Böhms Urteilen. Cortisol könne ein Warnsignal sein, jedoch sei dessen Bedeutung noch nicht hinreichend erforscht.

Die günstigste Umgebung für ein kleines Kind ist die Familie

Böhm macht die Öffentlichkeit zu Recht auf ein mögliches Problem aufmerksam. Wer möchte schon verantwortlich für Gesundheitsschäden durch Krippenbetreuung sein? Aber geschulte Erzieher oder interessierte Eltern benötigen keine Messungen von Hormonspiegeln, um zu beurteilen, wie es einem Kind geht. Sie stellen dies am Aussehen und Verhalten des Kindes mit dem »gesunden Menschenverstand« ebenso gut fest. Die günstigste Umgebung für das kleine Kind ist zweifellos sein vertrautes Zuhause, in dem es von den Bezugspersonen seiner engsten Familie umgeben ist. Hier kann auf die Bedürfnisse des Kindes am besten eingegangen werden, hier können sich wie selbstverständlich tragfähige individuelle Gewohnheiten herausbilden.

Als Pädagogen sollten wir Eltern anregen, sich zu fragen, ob sie den Krippenplatz nur aufgrund eines gesellschaftlichen Modetrends in Anspruch nehmen oder aufgrund zwingender Lebensumstände der Familie. Es geht weder darum, zu bewerten, noch darum, ein schlechtes Gewissen zu erzeugen. Wir sollten Eltern dazu ermutigen, sich die kostbarste Zeit mit ihrem Kind nicht entgehen zu lassen. Auf der anderen Seite ist es natürlich unser größtes Anliegen als Waldorfpädagogen, Kindern, deren Familiensituation nur diese Lösung zulässt, möglichst gute Krippenplätze anzubieten.

Dass Eltern eine freie Wahlmöglichkeit haben, ist nicht nur politisch wichtig, sondern auch angemessen. Betreuungseinrichtungen sind aus der modernen Gesellschaft nicht mehr wegzudenken und werden es auch künftig nicht sein. Die vielfältigen Erfahrungen von Erzieherinnen und die Forschungen zum Cortisolspiegel machen jedoch darauf aufmerksam, dass die Bedingungen für Kinder in vielen Einrichtungen heute nicht optimal sind und sich aufgrund des schon jetzt wieder spürbaren Finanzdruckes eher verschlechtern werden. Seit ich mich hospitierend als Beraterin durch die Landschaft der privaten und städtischen Träger bewege, stelle ich fest, dass der Würde des Kindes in vielen Fällen nicht Rechnung getragen wird. Auch der Verlust natürlicher Erziehungsinstinkte und des elterlichen Erfahrungswissens bedroht die Gesundheit der Kinder. Wie vereinbaren wir also als Eltern und Familien unseren Er­-ziehungsauftrag mit unserem Beruf, ohne den Kindern Schaden zuzufügen?

Entwürdigung des Kindes

Viele Menschen, die mit Kindern zu tun haben, wissen nicht, was die Würde des Kindes konkret bedeutet und welcher inneren Haltung es bedarf, sie zu wahren. Das betrifft nicht nur unsere Krippen. Die Entwürdigung beginnt mit der »Mode« Wunsch-Kaiserschnitt, geht über falsche Kleidungs- und Ernährungsgewohnheiten bis hin zur Verletzung ihrer Sinne, beim Einkaufen im Supermarkt, auf öffentlichen Spielplätzen, in U-Bahnen  – um nur einige Beispiele zu nennen. Die Rechte des Kindes werden gegenwärtig überall da selbstverständlich eingefordert, wo sie sichtbar übertreten werden: bei Gewalt, Missbrauch und Kindeswohlgefährdung. Was aber geschieht mit Kindern, die zwanzigmal in einer halben Stunde statt ihres Namens Max ein schrilles »Maahaax« hören, die permanent mit Ausrufen wie »Maahaax naheiinn«, »Schon wieder«, »Immer Du«, »Lass das«, »Das habe ich schon hundert Mal gesagt« malträtiert werden?

Gute Betreuung zeigt sich an der Art, wie wir mit dem Kind sprechen, wie wir es pflegen und eine Umgebung anbieten, in der es sich auf dem Wege zur Selbstständigkeit als freies, autonomes Wesen begreifen lernt. Die Kommunikation mit Säuglingen und kleinen Kindern wird oft mit dem Begriff »Ammensprache« umschrieben: Nicht gemeint ist damit das »Eiteitei«, sondern dass man über das Mienenspiel und über Worte mit dem Kind in einen Dialog tritt, ihm zum Ausdruck bringt: »Ich sehe dich und deine Bedürfnisse.« Dies stärkt die Lebenskräfte des Kindes und dient als Basis für den Aufbau einer sicheren Bindung. Das gilt vor allem  für den Krippenalltag.

Die Krippe hat in unserer Gesellschaft nicht nur den Auftrag, Kinder zu betreuen, sie soll auch dazu beitragen, das Besondere an den ersten Lebensjahren zum Wohle der Kinder bewusst zu machen. Die kindlichen Entwicklungsbedürfnisse müssen in Zeiten wie unseren zur zentralen gemeinsamen Aufgabe von Krippen und Eltern werden.

Statt über den Cortisolspiegel zu streiten, muss eine Reihe von konkreten Aufgaben in Angriff genommen werden.

Pädagogische Einrichtungen sollten sich der Bedeutung ihrer heilsamen Ressourcen bewusst werden, Netzwerke bilden und konsequent an der Qualität ihrer Betreuung arbeiten; ihre Tätigkeit dokumentieren und verbindliche, pädagogisch-medizinische Richtlinien erarbeiten; die Bedeutung der Elternpartnerschaft anerkennen und diese professionell praktizieren; Angebote für Eltern entwickeln, in denen der Zusammenhang von Erziehung und Gesundheitsförderung erfahrbar wird und individuelle Betreuungsangebote für die konkreten Familien schaffen.

Dazu bedarf es unserer Einsicht und einer entsprechenden Bewusstseinshaltung. Selbsterkenntnis, Selbsterziehung und Selbstverwandlung benötigen wir, damit wir den Kindern nicht unsere eigenen Belastungen oder über Generationen tradierte falsche Bindungsstile weitergeben. Das Thema Krippe ist eine wichtige Chance, die nicht zu überschätzende Bedeutung der ersten drei Lebensjahre ins Bewusstsein zu rufen und das Gewissen der Gesellschaft aufzurütteln.

Zur Autorin: Claudia Grah-Wittich ist Diplom-Sozialarbeitern und in der Frühforderung am »hof« in Frankfurt-Niederursel tätig. Mitverantwortlich für die Weiterbildung: »Eltern beraten – Kinder neu sehen lernen« (www.der-hof.de). Eine neuer Kurs beginnt im November 2014.

Links:

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Wortprotokoll. 74. Sitzung, Öffentliche Anhörung

Focus – Stresstest für die Kleinen

 

Kommentare

Keine Kommentare

Kommentar hinzufügen

* - Pflichtfeld

Folgen