»Man sieht nur mit dem Herzen gut« – oder wie Eltern Erziehungskünstler werden
Die Erziehung eines Kindes scheint heute für viele Eltern eine fast nicht zu bewältigende Aufgabe. Physische und psychische Verwahrlosung, Schulversagen, zunehmende Gewalt unter Kindern und Jugendlichen – das sind Schlagworte, die uns täglich in den Medien begegnen. Mit Ratgebern zum Thema »Erziehung« lassen sich mehrere Regalmeter füllen. Erziehungsgurus pilgern durch die Talkshows. Während die einen mehr Strenge und Disziplin anmahnen, fordern die anderen eine Rückkehr ins Bullerbü-Idyll.
In der Waldorfpädagogik sprechen wir von Erziehung als einer Kunst. Der Begriff »Kunst« steht für ein besonderes, herausragendes Können. Ein Künstler braucht Wissen, Übung und die Fähigkeit, genau wahrzunehmen, um intuitiv tätig zu werden. Mütter und Väter sind Übende, Stunde um Stunde, Tag für Tag und dies über viele Jahre. Aber bei aller Übung sehen sich Eltern selten als Erziehungskünstler. Sie trauen ihren eigenen Wahrnehmungen und ihrer Intuition nicht, halten sich eher an Erziehungsrezepten fest und lassen sich von den verschiedensten, pädagogischen Theorien verunsichern.
Ehrfurcht vor dem Kind
Erziehungskünstler werden Mütter und Väter, indem sie dankbar und ehrfürchtig auf ihr Kind schauen. Erinnern Sie sich, wie Sie ihr Kind zum ersten Mal im Arm hielten? Sie betrachteten die winzigen Finger und Zehen, die Augen, die Ohren, Nase und Mund.
Dabei wurde jede noch so kleine Regung wahrgenommen und es war kein Platz für »hoffentlich schläft es bald durch« oder »studieren muss auf jeden Fall sein«. Vielmehr bewegten die Fragen: »Wer bist Du?«, »Was ist deine Frage an die Welt und wie können wir Dir helfen, Deinen Platz in ihr zu finden?«, »Was können wir tun, damit Du gesund und fröhlich heranwachsen kannst?« Dabei spürte das Kind das wache Interesse der Eltern und fühlte: »Hier bin ich willkommen.« Wer sein Kind auf diese Weise betrachtet, bildet damit die Basis aller Erziehungskunst. So wird die Liebe, die Eltern für ihr Kind empfinden, zu einer täglichen, spürbaren Erfahrung.
Joshua und Maria
Joshua, 4 Monate alt, ist ein Schreikind. Deshalb tragen die Eltern den Jungen viel im Tragetuch, nehmen sich beim Wickeln ausreichend Zeit und lassen Störungen von außen, soweit es geht, nicht zu. Nur so findet er zur Ruhe.
Durch Ratschläge von Freunden und Verwandten, den Jungen nicht zu sehr zu verwöhnen, lassen sie sich nicht verunsichern. Sie spüren, ihr Kind braucht Schutz und engen Körperkontakt.
Die Geburt von Joshua verlief nicht ohne Komplikationen. Eine lebensbedrohliche Erkrankung der Mutter erforderte einen Notkaiserschnitt. Von Anfang an entspannte sich Joshua nur in den Armen seiner Mutter oder seines Vaters. »Er kommt mir vor wie ein Vögelchen, das aus dem Nest gefallen ist.« – Dieser Gedanke leitet das Handeln der Eltern und sie bauen für ihr Kind ein sicheres Nest.
Seit drei Monaten besucht Maria mit Begeisterung den Kindergarten. Malen, Singen, Fingerspiele und Geschichten – alles saugt sie in sich auf und bei allem ist sie mit großer Freude und Eifer dabei. Die Nachmittage zu Hause gestalten sich jedoch immer schwieriger. Trotz Mittagsschlaf weint sie häufig und die Spiele mit den Geschwistern oder den Nachbarskindern enden im Streit. Am liebsten spielt sie für sich allein. Die Mutter spürt Marias Bedürfnis nach mehr Ruhe, damit sie all die Erlebnisse des Kindergartenalltages verarbeiten kann. Sie vereinbart mit der Erzieherin, dass Maria immer am Freitag zu Hause bleibt und ermöglicht ihr auf diese Weise ein langes, erholsames Wochenende. An den Nachmittagen achtet die Mutter darauf, dass Maria, trotz der Geschwister, Raum und Zeit für sich alleine hat.
Auf Augenhöhe sein
Die Eltern von Joshua und Maria fühlen sich in die Situation ihrer Kinder ein und begeben sich auf Augenhöhe mit ihnen. So »wissen« sie, was ihre Kinder wirklich brauchen und können situationsgerecht handeln.
Das Familienleben sieht jedoch häufig anders aus. Wir verstehen das Verhalten unseres Kindes nicht und haben keine Erklärung dafür, wenn es trotzig, traurig oder ängstlich ist. Wir fühlen uns überfordert. Besonders in Phasen, in denen uns die Kinder an die Grenzen unserer Belastbarkeit bringen, reagieren wir häufig aus der Situation heraus. Die wahren Bedürfnisse der Kinder nehmen wir dabei nicht mehr wahr und seine inneren Konflikte bleiben uns verborgen. So gestaltet sich das Familienleben zunehmend schwieriger.
An diesem Punkt zweifeln Eltern sehr oft an ihren »Erziehungskünsten«. Gespräche mit Menschen, die sich mit dem Kind verbunden fühlen, können nun eine große Hilfe sein und wertvolle Anregungen geben.
Hilfe von der anderen Seite
Doch Eltern wird auch von anderer Seite Hilfe zuteil, nämlich vom Engel des Kindes. Die Kinder kehren in der Nacht zurück in die schützende Hülle ihres Engels und erfahren hier Trost und Stärkung. Der Engel »weiß« um das Schicksal des Kindes und wir dürfen dessen Zukunft in seine Hände legen.
Doch wie können wir diesem Schicksal vertrauen, wenn wir spüren, dass wir nicht mehr im Kontakt mit unserem Kind sind und nur noch seine Fehler, Schwächen und Unzulänglichkeiten wahrnehmen?
Stellen Sie sich ihr Kind vor, versuchen Sie es sich ganz zu vergegenwärtigen. Seine Haarfarbe, Augenfarbe, die Form seines Gesichtes … . Wie bewegt es sich? Stellen Sie sich vor, wie es vor Freude lauthals lacht oder vor Kummer weint. Wie liegt es in seinem Bett, entspannt und fest in seine Decke gekuschelt oder ballt es seine Fäustchen? Atmet es ruhig und gleichmäßig?
Vielleicht steigt der Ärger des Tages in Ihnen hoch, vielleicht fällt Ihnen eine lustige Begebenheit ein. Nach einer Weile merken Sie, wie viel Ihnen dieser kleine Mensch bedeutet, und es ist, als sähen Sie ihr Kind zum ersten Mal. Sie werden erfüllt sein von Dankbarkeit, Ehrfurcht und Liebe. Ihr Ärger und ihre eigene Ratlosigkeit stehen nicht mehr im Vordergrund, sondern die Sorge um ihr Kind. Die Frage: »Wie kann ich Dir helfen, Deinen Weg zu finden?«
Plötzlich fällt es Ihnen »wie Schuppen von den Augen«, warum ihr Viertklässler nicht mehr zur Schule gehen mag.
Es steigt ein Bild in Ihnen hoch, das ihre aufbegehrende 14-jährige Tochter zeigt, die »wie ein aufgescheuchtes Huhn« mal in die eine, mal in die andere Richtung rennt. Sie spüren die Kraft in sich, das Aufbegehren ihrer 14-Jährigen auszuhalten und ihr Klarheit und Festigkeit zu vermitteln.
Mit solchen Bildern, Ideen und Geistesblitzen wirkt der Engel des Kindes in unseren Alltag hinein. Diese Eingebungen lassen sich nicht erzwingen und nicht immer wird uns sofort Rat und Hilfe zuteil. Manchmal erwachen wir am Morgen und »wissen« um den nächsten Schritt. Manchmal ringen wir über Tage und Wochen mit einem Problem und die Lösung präsentiert sich uns mitten in einer alltäglichen Situation. Doch unabhängig davon wachsen in uns die Zuversicht und das Vertrauen in das Schicksal unseres Kindes. Statt »was soll nur aus diesem Kind werden« gewinnt der Ausspruch »es wird seinen Weg finden und gehen« immer mehr an Bedeutung. Unsere Kinder erfahren in der Nacht durch ihren Schutzengel Trost und Stärkung und unser intuitives Wissen entspringt derselben Quelle. Bemühen wir uns um einen liebevollen, wertfreien Blick auf unser Kind, geprägt von Dankbarkeit und Ehrfurcht, bereiten wir den Weg für die Hilfe des Engels.
Diese Hilfe können wir uns nicht anlesen. Diese Hilfe wird uns geschenkt und lässt uns zu Erziehungskünstlern werden, die mit Wissen, Übung und Intuition ihre Kinder auf ihrem Weg ins Leben begleiten.
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