Natur erfahren
Kinder stehen in einem unmittelbaren und lebendigen Verhältnis zu ihrer Umwelt. Der Natur und den Menschen gegenüber sind sie in einer Weise aufgeschlossen, die ihnen große Spontanität und Kreativität verleiht. Sie sind von Hingabe und Mitgefühl erfüllt.
Hinweis: Der Artikel ist in der Herbstausgabe der Zeitschrift »Frühe Kindheit« (03/2022) erschienen. Einzelne Ausgaben können Sie hier bestellen. Hefte, die älter als ein Jahr sind, stehen in unserem Archiv zum Download für Sie bereit.
Die Welt erscheint ihnen beseelt und voller Wesen, mit denen sie selbstverständlichen Umgang pflegen. Mit Pflanzen und Tieren reden sie, als wären sie ihnen ebenbürtig. Ihrem Erleben sind nicht jene Grenzen gesetzt, die die Umwelt als ein Gegenüber erscheinen lässt. Diese Unmittelbarkeit des kindlichen Erlebens ist Ausdruck der besonderen kindlichen Seelennatur, die ihnen ermöglicht, auf eine besondere Weise eins zu sein mit dem, was in ihrem Umkreis geschieht. Das Kind erlebt die Natur, ohne sich wie ein Erwachsener mit den Kräften des Verstandes gegen die Eindrücke, die es empfängt, zu wehren. Ein Baum, ein Tier, selbst fließendes Wasser, das Licht, der Wind stehen mit ihm auf einer Stufe. Es unterscheidet kaum zwischen sich und den Ereignissen in der Welt. Dieses Einssein mit dem Lebensumkreis macht den Zauber aus, der von Kindern ausgeht. Als Erwachsener wird man auf diesen Zauber auf schmerzliche Weise aufmerksam, weil man bemerkt, dass man ihn verloren hat. Man steht der Welt in einer Weise gegenüber, die man sogar als lästig, begrenzend und hemmend erfahren kann. Man erinnert sich an die Selbstvergessenheit des Kindes. Die Stunden treten vor das innere Auge, in denen man mit den Dingen wie mit Geschwistern gespielt hat. Vielleicht erinnert man sich daran, wie die Natur mit unsichtbaren Wesen erfüllt war, die ein eigenes Leben geführt haben, die einem vertraut waren und mit denen man mit großer Selbstverständlichkeit gespielt und gesprochen hat. In ihrer Einleitung zu ihrem Buch Gute Träume für die Erde schreibt Ursula Burkhard über ihre eigenen kindlichen Erfahrungen: »Schon als Kind beglückte mich die Ahnung von etwas Wesenhaften in der Welt, das uns nicht bloß fremd umgibt, sondern zu uns gehört und uns verwandt und befreundet ist. Erwachsene hatten damals noch wenig Verständnis für solche Gefühle, so war ich mit meinen Ahnungen recht einsam. Aber wie einen Trost und eine Offenbarung empfand ich Märchen, die von der belebten und beseelten Natur erzählten. Da nahm das Wesenhafte Gestalt an, wurde zu vielen Einzelwesen, die ihr eigenes Leben führten als Zwerge, Elfen oder Nixen. Was die alten Märchenerzähler berichteten, stimmte mit meinen eigenen Erfahrungen überein. Auch zu mir sprach alles um mich her, und was ich davon aufnahm, formte sich in mir zu neuen Geschichten und Gestalten.«
Rückhaltlose Hingabe
Nicht die Einsamkeit des sensiblen Kindes oder die Weisheit der Märchen soll hier behandelt, sondern Wege aufgezeigt werden, die es dem modernen Menschen ermöglichen können, Aufmerksamkeit für die verborgenen Naturgeister oder Elementarwesen zu entwickeln. Das kindliche Einssein mit jenen Wesen zurückzugewinnen, die unsichtbar die Natur und alle natürlichen Erscheinungen beleben und beseelen, ist für den Erwachsenen ein bewusster Weg. Dieser Weg besteht darin, die Seelenkräfte der Einfühlung und Hingabe zu üben und zu praktizieren.
Rudolf Steiner spricht in seinem Buch Theosophie von der »rückhaltlosen, unbefangenen Hingabe an dasjenige, was das Menschenleben oder auch die außermenschliche Welt offenbaren«. Diese Hingabe ist eine der Voraussetzungen, um eigene Erfahrungen in der Welt der Naturgeister und -wesen zu sammeln. Indem man der Sehnsucht und dem Wunsch nachgibt, sich mit der Welt der Naturgeister oder der Wesen der elementaren Welt vertraut zu machen, wird man die Erfahrung machen, dass man Wesenheiten begegnet, die sehr sensibel auf den Menschen reagieren. Ihre Welt, ihren Kontakt zu suchen, heißt, sich auf sie, ihre Eigenheiten, ihr Daseinsgefühl einstimmen zu müssen. Ansonsten werden die Naturgeister einem den Zugang nicht gewähren. Deshalb sind bestimmten Seelenstimmungen, Gefühlen, aber auch Gedanken Beachtung zu schenken, die dem suchenden Menschen den Zugang in diese geheimnisvolle Welt erst erlauben.
Beobachten, aufmerksam sein, mitempfinden
Der erste Schritt kann darin bestehen, den Wunsch nach einer unbefangenen und urteilsfreien Beobachtung der Erscheinungen, die sich den Sinnen in der Natur zeigen, zu beleben. Denn jede noch so geringe Erscheinung kann der Seele etwas Wesentliches offenbaren. Ein Tautropfen an einer Pflanze, das Grollen eines fernen Gewitters, das Schreien eines Tieres, die Farbe und Form einer Blüte, Himmelsfarben, das besondere Licht jeder Stunde, die vielfältigen Gesten in Pflanzen- und Tierwelt – alles sind Ereignisse, die die Seele berühren und bewegen. Indem man in dem sogenannten Zufälligen, Unbedeutenden das Große und Erhabene erahnt und empfindet, bereitet sich die Seele darauf vor, für das Wesenhafte und Elementare der Natur empfänglich zu werden. In einem zweiten Schritt kann man seine Aufmerksamkeit jenen Kräften des Einklanges und der Harmonie schenken, die in der Natur wirksam sind und ohne die die Existenz der Erde nicht möglich wäre. Das Dasein der Erde und unser Dasein ist eine unmittelbare Frucht des weisheitsvollen Zusammenspiels der großen kosmischen Ordnung. Die Naturgeister und ihr Tätigsein für die Erde und auch für uns sind eins mit dieser weisheitsvollen alles durchdringenden Harmonie des Daseins. Sich diese Harmonie auf lebendige Weise zu vergegenwärtigen, ist deshalb ein Weg, mit dem Dasein und den Lebensbedingungen dieser Wesen vertraut zu werden.
Die verschiedenen Naturgeister, die Elementarwesen der Bäume, der Flüsse und Berge können nur dank dieser Harmonie wirksam sein. Sie sind Wesen, die dem Wachstum, dem Erhalt und den Rhythmen des Lebens dienen und tief mit diesen hohen weisheitsvollen Kräften vereint sind. In ihnen finden diese Kräfte ihren Ausdruck. Indem sich der Mensch mit diesen Kräften innerlich vertraut macht, sich mit ihnen auf meditative Weise bewusst vereint, wird er vorbereitet, das Dasein der Naturgeister besser verstehen und wertschätzen zu können. Drittens wende man sich der Seelengeste der Empfindung zu. Sie spielt eine maßgebliche Rolle, um einen Zugang zur Wesenswelt der Natur zu bekommen.
Die Aufmerksamkeit lässt sich auf die Empfindungen lenken, die auf jede ruhige und urteilsfreie Naturbeobachtung folgen.
Das trägt dazu bei, die Wahrnehmung für jene Vorgänge zu schärfen, mit der die Seele die Tätigkeit in der unsichtbaren Wesenswelt begleitet.
Bewusstsein für die Qualitäten zu entwickeln, die als Empfindungen in der Seele auftreten, weckt den Sinn für das Wesenhafte in der Natur. Die wache Empfindung ist ein Organ, durch das Seelenaugen für die geheimnisvolle Wirksamkeit der Naturgeister geöffnet werden.
Viertens wird offenkundig werden, dass die bloße Empfindung nicht ausreicht, wenn nicht ein Mitempfinden hinzutritt. Eine Naturerscheinung mitempfinden, heißt, sie mit der eigenen Seele und ihrem weisheitsvollen Grund zu vereinen. Die Geste, mit der man die Eindrücke und Empfindungen sich zu eigen macht, zeigt, dass diese Eindrücke und Empfindungen tief in die eigene Seele hineinfallen. Sie werden vom goldenen Seelengrund aufgenommen, der als die verborgene Weisheitsnatur des Menschen in ihm ruht. Dieser Vorgang ist ein Geheimnis, das aber jeder erleben kann, der dem Fallen der Eindrücke und Empfindungen in die eigene Seele so bewusst wie möglich nachlauscht. Die verborgene Natur der Seele, ihr Goldgrund, kann einem auf diese Weise bewusst werden. Die Naturwahrnehmungen mitempfinden bedeutet, sie mit dem Goldgrund der eigenen Seele vereinen.
Unmittelbare Erfahrung
Erfahrungen dieser Art machen den Menschen mit Organen seiner Seele vertraut, die dazu dienen, die Natur wesenhaft wahrnehmen zu können. Erfahrbar wird, dass in der Seele Wahrnehmungsorgane liegen, die Schlüssel sind, um einen lebendigen Zugang zu den Naturwesen zu gewinnen. Hilfreich ist natürlich ein langes Verweilen in der Natur, der stille und geduldige Aufenthalt an gesunden und lebenskräftigen Orten. Nur wer sich der Natur aussetzt, wird schließlich von den Wesen, die in ihr leben, aufgesucht werden. Sie nähern sich nur Menschen, die sie durch ihre innere Haltung einladen. Damit ist eine Haltung gemeint, die sich bestimmten Vorstellungen, aber auch Wünschen und Erwartungen enthält. Man ist ohne bestimmte Vorstellungen und Erwartungen. Der unmittelbare Wesensgrund des Augenblicks, beginnt sich mitzuteilen.
Nicht man selbst ist es, der die Situation lenkt und führt, man empfindet, wie man von dem gelenkt wird, was gerade in unsichtbaren Welten um einen vor sich geht. Die Eigenheit des Menschen tritt vor dem grandiosen Schauspiel, in dem man sich befindet, zurück. Der Waldrand, das Meeresufer, der Baumriese, der weiß leuchtende Berggipfel, die stille, farbige Blüte, das stürzende Wasser saugen das Eigenwesen in sich hinein auf eine Art, dass man nicht verschwindet, sondern auf eine ungeahnte Weise erneuert hervortritt.
Tatsächlich sind tiefe Naturerlebnisse immer persönliche Erlebnisse. Das eigene Wesen des Menschen wird in einer Weise berührt, durch den er Gebiete und Länder in sich kennen lernt, von denen er bisher keine Ahnung gehabt hat. Man wird das Gefühl nicht los, sich durch die wundersamen Erscheinungen der lebendigen und wesenhaft empfundenen Natur, selbst neu zu erfahren.
Solche intimen Erlebnisse weisen darauf hin, dass die Erde und die mit ihr verbundenen Naturwesen noch viel mit uns vorhaben. Wir können erahnen, dass der Beziehung zwischen den Naturwesen und dem Menschen eine besondere Zukunft beschieden ist. Eine Wesenswelt beginnt aufzugehen, die kennen zu lernen, uns erst in ein stimmiges Verhältnis zur Erde setzt. Immer häufiger wird man spüren, wie die Augen stiller Wesen uns aus jeder Naturerscheinung anblicken. Erst wenn wir diese Wesensnatur der Erde kennen lernen, werden wir ihre Lebendigkeit wahrhaft schätzen und unsere Verantwortung ihr gegenüber wirklich wahrnehmen können.
Autor: Karsten Massei erforscht seit vielen Jahren die Phänomene des Lebens mit den Methoden der übersinnlichen Wahrnehmung. Er ist Seminarleiter und Autor mehrerer Bücher, die im Futurum-Verlag erschienen sind.
Kommentar hinzufügen