Partizipation

Von Wolfgang Saßmannshausen, November 2015

Das Menschenrecht der Kinder erfüllt sich, wenn sich der Erziehende zurücknimmt.

Foto: © jock+scott/photocase.de

Fast alle auf dieser Welt verantwortlichen Parlamente haben die von der UNO 1989 verabschiedeten Menschenrechte der Kinder ratifiziert. Nie wurde die Anerkennung von Kindheit als einer allen anderen Altersphasen gleichberechtigten Zeit des menschlichen Daseins so klar und unmissverständlich formuliert.

Entgegen der gelebten Praxis in weiten Teilen der Welt erfahren Kinder durch die ihnen zugesprochenen Menschenrechte eine Wertschätzung, die auf der einen Seite an der Zeit ist, auf der anderen Seite aber in ihrer weiten Fassung verwundert. So ist ein zentrales Motiv der Kinderrechte die Partizipation der Kinder an allen sie betreffenden Vorgängen und Ereignissen. Weltweit betrachtet geschieht dies nur in wenigen Lebenszusammenhängen der Erwachsenen, und dabei ist gerade dieses Menschenrecht ein zentrales Recht der Kinder.

In der jüngeren Vergangenheit hat es immer wieder Initiativen gegeben, gerade die Partizipation der Kinder deutlicher im Alltag zu verankern. So ist es heute selbstverständlicher Teil der Qualitätsbeschreibung und -entwicklung der Arbeit in Kindergärten, das Element der Partizipation ausdrücklich zu definieren. Seit 2011 ist es Gesetz (SGB VIII, BGBl. I S.2975), dass Träger, die eine Betriebserlaubnis erhalten wollen, ein Verfahren nachweisen müssen, wie sich Kinder beteiligen und beschweren können.

Die regelmäßig tagende Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter hat auf ihrer Sitzung im April 2013 beschlossen, Beteiligungs- und Beschwerderechte von Kindern in Kindergärten und Kindertageseinrichtungen deutlicher als bisher zu verankern.

Wenn in dem genannten Beschlussbericht steht: »Es muss nicht gleich die Schaffung eines Kinderparlamentes sein, um Partizipation von Kindern in der Einrichtung zu leben«, dann spricht sich hier deutlich die Tendenz des vorherrschenden Grundverständnisses von Partizipation und Beschwerdemanagement aus: Auf dem Boden der Auswertung der realen Lebensverhältnisse durch das einzelne Kind kommen die Kinder zu einer demokratisch herbeigeführten Abstimmung, wie eventuell bestimmte Verhältnisse in der Einrichtung verändert werden sollen. So ist nicht nur gewährleistet, dass Kinder egozentrisch ihre eigenen Lebensschritte bestimmen, sondern auch die Bedürfnisse aller anderen Kinder berücksichtigen und zu einem gemeinsam gefassten Konzept der Lebensbedingungen kommen. Im Grunde ist hier die hochentwickelte Form des demokratisch bestimmten Lebensrahmens einer modernen Gesellschaft beschrieben – eine Zielperspektive, die sicherlich jedem Erziehungs- und Bildungskonzept gut zu Gesichte steht.

Aber ist die direkte Anpassung an ein bestimmtes Bild von Lebensformen der pädagogisch und entwicklungspsychologisch optimale Weg? Muss nicht die den Erwachsenen gegenüber völlig andere Art und Weise, wie kleine Kinder lernen, berücksichtigt werden, um Kindern Wege zu öffnen, die oben beschriebene verantwortliche Haltung zu entfalten?

Selbstbestimmung ist Ausdruck des Ichs eines Menschen

Hierfür muss der Mensch gereift sein und sich die innere Möglichkeit der Freiheit errungen haben. So kann zum Beispiel ein drogenabhängiger Mensch in einem bestimmten Maße nicht selbstbestimmt leben, da er Sklave seiner Drogenabhängigkeit ist und deren Bedingungen erfüllen muss. Wir nennen einen Menschen, der in der Lage sein kann, selbstbestimmt zu handeln, erwachsen oder mündig.

Nun stellt sich das Erwachsen- oder Mündigsein nicht über Nacht ein, sondern ist eine Entwicklung, die in der Kindheit und im Jugendalter verschiedene Stufen durchläuft.

Beispielsweise wird das fünfjährige Kind am Abend vom Vater gefragt, was es im Kindergarten erlebt und gemacht habe. Auch, welche Geschichte es denn heute gehört habe. Das Kind nennt ein Märchen, das die Erzieherin erzählt haben soll. Das Märchen hat die Erzieherin nicht erzählt, das Kind kennt es von der Mutter, die dieses Märchen ab und zu zu Hause vorliest. Bevor das Kind zu Bett geht, erzählt es seinen Puppenkindern und Stofftieren noch eine Gute-Nacht-Geschichte, eine sprachlich schwierige rhythmische Geschichte, nahezu vollständig und textgetreu. Das Kind hat diese Geschichte heute im Kindergarten gehört, erst das vierte Mal.

Das kleine Kind ist ganz Sinnesorgan

Der Vater hat das Kind auf eine sinnlich nicht präsente Situation angesprochen, der es nur aus der Erinnerung begegnen kann. Selbstverständlich gibt es Kinder, die auf eine solche Frage des Vaters sachlich angemessen reagieren, aber insgesamt ist die Vorstellung noch sinnesgebunden und das Kind letztlich noch nicht fähig, abstrakte – also vom Sinnesraum losgelöste – Vorstellungen sicher zu bilden. Das heißt andererseits, dass das Ich des Kindes noch eingebunden ist in seine sinnliche Umgebung.

Seine »Lebensentscheidungen« und sein Handeln stehen in Wechselbeziehung zu seiner sinnlichen Umgebung, auf die das Kind angewiesen ist. Rudolf Steiner bezeichnet das Kind in den Lebensjahren vor der Schulreife des öfteren treffend als »ganz Sinnesorgan«. Für die Gestaltung dieser sinnlichen Umgebung benötigt das Kind erziehende Erwachsene. Dabei ist die sinnliche Umgebung des Kindes sehr weitreichend zu verstehen. Eine erste Ebene ist die materielle Umgebung im physischen Raum. Ein Experiment des Autors mit Studierenden während eines Ausbildungspraktikums zeigte, dass Kindergartenkinder morgens besser den Raum und die Materialien ergreifen konnten und somit besser in ihr Spiel fanden, wenn die Studierenden einige Minuten eher als üblich in den Kindergarten kamen, alle Gegebenheiten des Raumes noch einmal in ihr Bewusstsein nahmen und dort, wo es nötig schien, die Dinge an die gewohnte Stelle rückten. Kinder brauchen physische Räume, die vom Bewusstsein der Erzieher durchdrungen sind.

Die gleiche Bewusstseinsqualität des Erwachsenen ist nötig in der zeitlichen Ebene. Eine innere Ordnung der Abläufe (Rhythmus), ohne dass daraus ein fester Zeittakt wird, aber eben auch alles Rituelle und innerlich garantierte Gewohnheiten schaffen einen Halt gebenden Rahmen für das Kind.

Eine weitere Stufe ist die seelische Qualität der Geschehnisse. Sind die Handlungen und Ereignisse so, dass diese für die Kinder transparent und verständlich sind, wenn sie sie sinnlich nachvollziehen? Waltet in den Handlungen Folgerichtigkeit und Tatsachenlogik?

Die intimste sinnliche Erfahrung für die Kinder ist der Grad der Authentizität des erziehenden Erwachsenen. Diese äußert sich beispielsweise dadurch, dass der Erwachsene bereit ist, in der Begegnung mit den Kindern zu lernen und nicht aufgrund seiner Erfahrung weiß, was richtig oder falsch ist. Oder auch dadurch, wie weit der Erzieher bereit und in der Lage ist, als einmaliger Mensch und nicht als ein Rollenträger oder Funktionär den Kindern zu begegnen. Bedingung für ein gedeihliches Aufwachsen der Kinder ist ein im weitesten Sinne von den Erwachsenen durchdrungener Lebensraum, in dem ein höchstes Maß kultureller Qualität lebt. Hierfür ist ausschließlich der mit den Kindern lebende und arbeitende Erzieher verantwortlich.

Die Kinder, die in einem solchen vielschichtigen Lebensraum sind, können sich frei bewegen und ihre eigenen Lebensentscheidungen treffen. In einem solchen Raum muss den Kindern nicht gesagt werden, was sie dürfen oder nicht dürfen, auch nicht, wann und wo sie mitmachen müssen. Die Kinder entscheiden alle ihre Schritte selbst; alle Ideen und Impulse der Kinder können integriert werden, ohne dass in der Lebensqualität einer Gruppe Beliebigkeit und Formlosigkeit entsteht.

Machtlosigkeit und Absichtslosigkeit

In einem Vortrag am 29. Dezember 1921 beschreibt Steiner die Situation des Kindes und die Möglichkeit des erziehenden Erwachsenen unmissverständlich: »In der allerersten Zeit seines Lebens vollbringt der Mensch – man kann das ganz ohne Einschränkung sagen – einfach dasjenige, was er will. Wenn der Erwachsene es sich nur recht eingesteht, muss er einsehen, er ist gegenüber dem, was das Kind will, in einem hohen Grade machtlos…«

Diese Entwicklungssituation des Kindes korrespondiert mit einer Haltung, die der Erwachsene sich immer mehr erringen muss und die am besten mit »Absichtslosigkeit« beschrieben werden kann. Der Erzieher baut die Beziehung zu seinen Kindern dadurch auf, dass er immer mehr seine Absichten gegenüber dem Verhalten der Kinder zurückzudrängen lernt – eine Aufgabe, die ihn immer wieder an seine Grenzen führt.

Der hier beschriebene Anspruch an den Pädagogen ist keine definierbare Forderung, sondern die Beschreibung einer inneren Folgerichtigkeit, wie der Erwachsene im Sinne der Waldorfpädagogik dem kleinen Kind gerecht werden kann. Das Kind kann sich seinem Eigenwesen gemäß nur selbst erziehen. Dafür braucht es eine Umgebung, die das ermöglicht. Diese entsteht aus der Selbsterziehung des Erwachsenen, der von dem Kind immer weniger will. »Diese richtige Stellung des Erziehenden […] zum Kinde kann man durch nichts anderes sich erringen als immer mehr und mehr durch die Ausbildung dieses Bewusstseins, dass es eben so ist«, so Steiner in einem Vortrag am 20. April 1923.

Absichtslosigkeit dem Kind gegenüber bedeutet auf der anderen Seite die höchste Absicht, die Umgebung des Kindes und sich selbst zu kultivieren.

Der Erziehende muss die Kinder frei lassen

Die Teilnahme und Selbstbestimmung der Kinder in und an ihren Lebensverhältnissen ist nicht eine Frage des pädagogischen Konzepts oder von Programmen, sondern der Selbsterziehung und Haltung der Erwachsenen. Die Qualität der Umgebung des Kindes und der Grad der Absichtslosigkeit des Erziehers bestimmen, wie sehr sich Kinder selbstbestimmt beteiligen können. Sie sind gleichzeitig das Maß der »Normalität« des Lebensvollzugs.

So wie auch die 2006 beschlossene UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ist in ihrem Kern die UN-Kinderrechtskonvention von 1989, in der die Partizipation als ein Grundrecht der Kinder weltweit beschrieben und anerkannt ist, kein politisches Programm, sondern ein hohes geistiges Ideal des Menschen und der Menschheit.

Sichtbar in der sozialen Wirklichkeit wird dieses nur, wenn der Mensch, respektive der Pädagoge, in Freiheit dieses Ideal zu seinem macht und es lebt.

Zum Autor: Dr. Wolfgang Saßmannshausen ist Erziehungswissenschaftler, Lehrer und viele Jahre in der Ausbildung von (Waldorf-)Erzieherinnen, heute im Kontext der Waldorfkindergartenbewegung in Fragen der Fortbildung und Beratung weltweit tätig.

Literatur:

R. Steiner: Anthroposophische Menschenkunde und Pädagogik. GA 304A. Dornach 1979

Ders.: Die gesunde Entwicklung des Leiblich-Physischen als Grundlage der freien Entfaltung des Seelisch-Geistigen. GA 303. 7. Vortrag vom 29.12.1921. Dornach 1969

Ders.: Die pädagogische Praxis vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft. GA 306. 6.Vortrag vom 20.4.1923. Bern 1956

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