Partizipationsmöglichkeiten in der Waldorf-KiTa

Von Urs Kaiser, November 2017

Die Forderung nach Partizipation in Kindertageseinrichtungen hat in den letzten Jahren den Fachdiskurs der Elementarpädagogik sehr geprägt. Insbesondere im Bereich der Krippe sind zum Teil kontroverse Diskussionen entstanden. Gerade Vertreter der Waldorfpädagogik sahen viele Bedenken, wie das Kind im ersten Jahrsiebt oder gar in den ersten drei Lebensjahren verantwortbar mit partizipativen Ansätzen im pädagogischen Bezug sinnvoll angesprochen werden kann.

Partizipation und auch Beschwerdemanagement sind aber nicht verhandelbar, da diese Forderungen in den relevanten Rechtskreisen wie dem SGB VIII (§§5, 45ff) als Voraussetzung für eine Betriebserlaubnis definiert sind.

Die Waldorfkindertagesstätten in Fellbach haben sich auf den Weg gemacht, diese Forderung als Chance zu begreifen und ein Konzept zu entwickeln, hinter dem die Erziehenden stehen können und welches das Kind als Gestalter seiner eigenen Bildungserfahrung in stärkerer Weise in den Blick nimmt. Die Ergebnisse des Workshops sind im Folgenden zusammengefasst.

Die Idee des Vorbildes und des nachahmungswürdigen Verhaltens des Pädagogen als Grundaussage Rudolf Steiners für die Pädagogik des ersten Jahrsiebtes bedeutet nicht nur, dass man vorlebt, wie man Situationen und Herausforderungen meistern kann, es bedeutet auch, dass die Erziehenden durch das Gewähren von Spiel- und Entscheidungsräumen ermöglichen zu gemeinsamen Lösungen zu kommen, die den Bedürfnissen und Handlungsimpulsen der Kinder gerecht werden. Am Erziehenden kann das nachahmende Kind also auch eine Haltung lernen, die geprägt ist vom Ernstnehmen der Impulse der Kinder, vom Ermöglichen von Selbstwirksamkeitserfahrungen und vom gemeinsamen Ringen um die für alle gute Lösung, die weder die Kinder noch die Pädagogen zu Verlierern eines Machtkampfes macht. Damit ist der Pädagoge in der Tageseinrichtung Vorbild für eine demokratische, Vielfalt und Pluralität begrüßende Gesellschaft, in der es aber ausreichend Struktur und Führung für das Kind gibt.

Die partizipative Haltung wurde von den Teilnehmenden so zusammengefasst:

  • Dass Gestaltung grundsätzlich durch die Kinder geschehen kann
  • Dass Erzieher keine »Gerichtsurteile fällen«, sondern Verhalten der Kinder in einer Weise spiegeln, an der sich das Kind selbst ausrichten kann.
  • Uneingeschränkte Akzeptanz
  • Paraphrasieren der Erlebnisse der Kinder, um ihnen Selbstwirksamkeitserfahrung zu ermöglichen und zu einer eigenen Sprache zu verhelfen
  • Verständnis den Kindern gegenüber aufbringen
  • »Die Kinder sind körperlich kleiner, vielleicht sind sie aber innerlich größer als wir?«
  • Bewusster Umgang mit Machtgefälle und Manipulation
  • Die Kinder im Bewusstsein ansprechen, dass sie ein Mandat für die eigene Kindheit und den »heutigen Tag« (Anleihe an Reggiopädagogik) haben Macht als positiven Faktor nutzen im Sinne von: »Wir sind gemeinsam Macher«.
  • Jeder Mensch ist mächtig und hat das Recht etwas zu »machen«
  • Fähigkeit zur Selbstreflexion ausbilden, um beurteilen zu können, was Motiv ist für das Verhindern von Impulsen der Kinder Machen und machen lassen im Sinne von »ich bin selbsttätig als Erzieher, gebe aber den Raum, in dem das Kind selbst etwas tun kann«
  • Geistesgegenwart im Umgang mit der jeweiligen pädagogischen Situation

Beispiele gelingender Partizipation in der Waldorf Kita

Partizipative Interventionen in Gruppenprozessen.

Kinder lösen Probleme selbst, weil sie nicht unsere Probleme haben.

Nach Schneefall sind die Kinder in der Freispielphase und es steht nur ein Schlitten für 20 Kinder zur Verfügung. Die Erzieherin entscheidet sich, nicht zu reglementieren und vorzuschreiben, wie der Schlitten genutzt werden soll, sie macht es auch nicht zum Problem, dass nur ein Schlitten da ist, sondern öffnet den Raum für Exploration der Kinder. Die Kinder nehmen den Schlitten, nehmen aber auch im Garten befindliche leere Weinkisten, Bretter usw. und erforschen das Rutschen und haben gemeinsam sehr viel Freude, ohne das Gefühl zu haben, dass ihnen etwas fehlt.

Tagesstruktur und Ausnahmen.

Ein Kind ist kreativ vertieft in ein Spiel, der Erzieher spürt die Bedürfnisse ab und hat Flexibilität in der Planung, er ist bereit, die Freispielphase zu verlängern, weil die Kinder gerade ein Theaterstück einstudiert haben, das dann auch noch zur Aufführung kommen darf und abgerundet wird, bevor die Regelzeit wieder eingehalten wird.

Konfliktlösungskompetenz aufbauen.  

Wenn Kinder in ihrem dialogischen Prozess an Grenzen stoßen, ist es sehr hilfreich zu intervenieren, aber so, dass die Kinder selbst die Situation weiterführen können und die Intervention des Pädagogen im systemischen Sinne eine Unterschiedsbildung darstellt, die aber im Prozess und Flow der Kinder selbst kreiert und angewendet wird. Nicht die Erzieher lösen den Konflikt, sie spiegeln das Verhalten und geben Impulse, die den Kindern helfen selbst weiterzukommen.

Hilfreich ist es Freiräume zu geben und wahrzunehmen, wo die Kinder individuell gerade stehen mit ihrem Bedürfnis. Die Erzieherin hat den Anpassungsprozess des einzelnen Kindes an die Gruppensituation da zu gestalten, wo die Bedürfnislage der Gruppe ein Einlenken des einzelnen Kindes erfordert.

Der Rhythmus der Gruppe als atmendes Prinzip, das nicht nur strukturell und an der Uhr orientiert Räume einengt, sondern wirkliche Belebung ermöglicht, ist handlungsleitend, ohne ein individuelles Eingehen auf die Geschwindigkeit der Kinder auszuschließen.

Beispiele aus der intentionalen Arbeit im Einzelbezug

Beispiel für Teilhabeermöglichung.

Ein 5-jähriger Junge ist mit einer Umzugssituation in seiner Herkunftsfamilie konfrontiert, er nässt wieder ein und verspürt große Unsicherheit. Die Mitarbeiter sind bereit, auf ihn zuzugehen und auf seine individuellen Bedürfnisse einzugehen. Strukturell wird angeboten, ihm alle 45 Minuten einem Toilettengang anzubieten, sodass er sehr schnell die gute Erfahrung macht, wieder auf die Toilette gehen zu können und die Hose trocken zu haben und er dadurch wieder in den Alltag finden kann.

Feinfühlige Begleitung.

Ein Kind kommt nicht aktiv ins Spiel, sitzt da, schaut um sich, und das über lange Zeit. Hilfreich ist hier, das Kind erst gewähren zu lassen und dabei zu sein und es gedanklich empathisch zu begleiten, dann feinfühlig Angebote zu machen und es einzuladen mitzumachen, Kontaktaufnahme mit anderen Kindern zu begleiten, das Kind wird aktiv und kommt auch in Bewegung und arbeitet am Ende am gemeinsamen Projekt mit.

Gelingensbedingung für Partizipation ist »Selbstbestimmung und Freiheit der Kinder, indem sie entscheiden können, ob sie mitmachen oder nicht.« Wenn man das aushalten kann als Pädagoge  und abwägt, welche unterschiedlichen Bedürfnisse die Kinder gerade haben und wie man sie kreativ einbinden kann in den Prozess, so kann man einen pädagogischen Bogen über eine Gruppenphase spannen. Vielleicht muss man aber auch auf die eigene Idee verzichten, weil man sie nur selbst umsetzen will.

Wie kann sich eine Kultur der Partizipation auf Kollegenebene etablieren?

Ein hilfreiches Instrument, das die Gruppe verabredet, ist die gegenseitige Hospitation. Jede Gruppe erlebt sich weitgehend als geschlossenes System, Hospitationen sind unüblich. Für die Hospitation als sicherer Ort wird folgende Regelung verabredet:

Man lädt sich gegenseitig ein, die einladende Gruppe darf formulieren, welche Fragen sie gerne an den Gast stellen möchte, z.B. Umgang mit einem Kind oder Rückmeldung zu Bezugsqualitäten, Feinfühligkeit, Responsibilität usw.

Dann findet die Hospitation statt, im Anschluss findet in der Gruppe, die gastgebend ist, ein wertschätzendes und an Stärken orientiertes Rückmeldungs- und Reflexionsgespräch statt, das vertraulich behandelt wird.

Partizipation konkret im Gruppenalltag

Die Teilnehmer sind sich einig, dass die Tagesstruktur und Rahmensetzung sehr wesentlich ist als Voraussetzung für Partizipation auf struktureller Ebene.

Mehr Partizipation wagen wollen sie aber

  • In einer täglichen Erzählrunde, wo Kinder aus ihrer Lebenswelt berichten können (z.B. was sie heute erlebt haben)
  • Wünsche bezüglich Geschichten oder Kreisspiel aufnehmen
  • Kinder dürfen selber Häuptling sein oder Kreisspiele als Abschluss des Tages initiieren oder vorschlagen,
  • Bei der Schulkindarbeit und bei Projekten dürfen Kinder stärker eigene Akzente setzen
  • Sensiblerer, aufgreifender Umgang mit Spielideen der Kinder. An Ostern wird für das Häschen ein Osternest gebaut auf Anregung und Idee der Kinder, bei Fasching dürfen sie den Raum selbst gestalten,
  • einmal in der Woche dürfen sie entscheiden, welche Mahlzeit eingenommen wird.

Die Grundhaltung »Die Welt ist gut« muss erlebbar werden, mein Verhalten als Erzieher muss immer so sein, dass es von den Kindern nachgeahmt werden kann. Das gilt sowohl in einer Situation, in der ich direktiv eingreife, als auch in der Form, wie ich mich zurücknehme und Ermöglicher von Entscheidungen der Kinder bin.

Die spirituelle Dimension einbinden

Partizipation und geistige Welt.

Die dialogische Ebene des Waldorferziehers, die er mit dem höheren Selbst, der Entelechie des Kindes möglicherweise aufsuchen kann, ist eine weitere Bedeutungsebene der Partizipation. Der Versuch durch Meditation und Rückschau auf pädagogische Begegnungen zu erahnen, welche Gaben und Fähigkeiten im Kind schlummern und sich entwickeln wollen ermöglicht dem Pädagogen als Vorbild Impulse zu setzen, die das Kind in der Nachahmung stärken bei der Entfaltung seiner Individualität im Entwicklungsprozess. Dabei stellt sich die Frage nach den Rhythmen, die ich als Pädagoge in der Praxis lebe und nach meiner Schulung von situationsorientierter Geistesgegenwart, denn die Einbindung dieser Ebene setzt Selbstschulung voraus.

Situationsorientierte Geistesgegenwart im Alltag bedeutet nicht nur die Gegenwart dessen, was emotional und durch die Wahrnehmung der physischen Welt von Relevanz ist, (z.B. die Abwehr von Gefahren oder Erforderlichkeiten der jeweiligen Situation), sondern auch eine Ebene, auf der wahrnehmbar ist, wie sich das Geistig-Seelische der Gruppe gerade inkarniert, wie sich das Geistig-Seelische des Kindes zeigt und wie sich erahnen lässt, welche tiefere Wahrheitsebene sich dem Erziehenden zeigt im Sinne von: was will sich zwischen uns ereignen und wie kann ich dabei hilfreich sein?

Fazit

Die Gruppe muss ein sicherer Ort sein, der sich bildet durch verlässliche Regeln, den Tagesablauf, die Jahresfeste, die Raumgestaltung und gestaltete Mahlzeiten. Das Prinzip von Nachahmung und Vorbild prägt das Handeln der Erzieherin im alltäglichen Arbeiten und im pädagogischen Bezug.

Innerhalb dieses haltgebenden Rahmens, der um der Kinder willen da ist, gibt es situationsbedingte Räume, wo je abgespürt werden muss, in welcher Form Partizipation möglich ist.

Beim Essen stellt sich die Frage, will ich Süßes oder Salziges essen?

In der Freispielphase ist Flexibilität im Umgang mit den Zeiten gefragt. Man kann sie verlängern oder verkürzen.

Individuelles Eingehen auf das Kind ist erforderlich, um Teilhabe und Ideensetzung der Kinder zu ermöglichen und damit einhergehend Beweglichkeit des Erziehers, um diesen Prozess in Atmung zu bringen.

Hilfreich für gute Partizipation ist Gelassenheit, Hinschauen, wie ist die Situation, welche Kinder sind dabei, in welchem Moment ist was geeignet, welche Rahmensetzung gebe ich, aktiv in die Situation eingreifen.

Gelingt es, die partizipativen Elemente situationsorientiert und an den Möglichkeiten der Kinder orientiert einzusetzen, so sind sie nicht nur hilfreich um Selbstwirksamkeit und Freude zu fördern, sondern auch Erziehungskunst als kreativen Teilhabeprozess für alle gemeinsam zu gestalten, weil sich ereignen kann, was als Selbstbildungsimpuls des Kindes sich ereignen will in der Vorwegnahme eines mündigen und selbstbestimmten Lebens.

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