Spielmaterial in Waldorfeinrichtungen

Von Susanne Vieser, Juli 2020

Meist erinnern wir uns als Erwachsene an Spielmaterialien, mit welchen wir emotional stark verbunden waren. Die Atmosphäre und die Stimmung, die wir auch heute noch damit verbinden, spiegeln die kindliche Erlebniswelt im Spiel und an den Spielmaterialien wider.

Foto: © Charlotte Fischer

[Hinweis: Der Artikel erschien im Frühjahrsheft 2020 der Zeitschrift »Frühe Kindheit«. Das Heft können Sie hier bestellen. Hefte, die älter als ein Jahr sind, stehen in unserem Archiv zum Download für Sie bereit.]

Die Welt, in die das Kind im Spiel eintaucht, ist zeitlos, scheinbar ziellos und ständig im Prozess der Um- und Neugestaltung. Das Kind ist im Spiel Gestaltender und Schöpfer seiner Welt. Gleichzeitig ist das kindliche Spiel Abbild der kindlichen Entwicklung. Die Kräfte, die im kindlichen Spiel wirken, sind verwandt mit den gestaltenden, bildenden Kräfte, die im Wachstum und der kindlichen Entwicklung wirksam werden.

Waldorfkindergarten und Waldorfkrippe bieten dem Kind Raum und Zeit, schöpferisch tätig zu sein: die Spielmaterialien sind wenig ausgestaltet, natürlich und vielfältig verwendbar, damit das Kind sie handhaben kann und in seinem sich entwickelnden Willen gestärkt wird.

Die Kinder spielen mit Materialien, die sie erforschen und phantasievoll verwenden können, um diese später gekonnt und zielgerichtet einzusetzen. Nicht die differenzierte, bunte und möglichst wahrheitsgetreue Ausgestaltung regt das Spiel des Kindes an, sondern das Unfertige, das Unkonkrete, das Wandelbare und das Lebendige. Viele der im Handel angebotenen, sogenannten Waldorf-Spielmaterialien, die für uns Erwachsene ansprechend sind, entsprechen erst dem Vorschul- oder Schulkindalter. Das kleine Kind bildet Kreativität und phantasievolles, freies Denken an den alltäglichen, naturbelassenen und dadurch freilassenden Materialien aus.

Die Welt erkunden

Im ersten Spielalter erkundet das Kind das Spielmaterial mit allen Sinnen. Es wird betastet, geschmeckt, untersucht, ausprobiert und das Kind erfährt, welche Eigenschaften das Spielmaterial hat und wie es funktioniert. Es kann in die Schüssel etwas hineinlegen und wieder ausleeren, es lernt die Schüssel hinzustellen, umzudrehen, hochzuheben, kreiseln und fallen zu lassen. Es hört die unterschiedlichen Geräusche, die dabei entstehen und benutzt die Schüssel immer vielfältiger.

In Waldorfkrippen findet man unterschiedliche Behälter: Körbe, Kisten, Becher aus unterschiedlichen Materialien in unterschiedlicher Größe. Mit Kastanien, kleineren Steinen, Muscheln oder Obstkernen werden die Behälter befüllt, um zu rühren und um sie von einem Behälter in den anderen zu kippen oder im Wägelchen hinter sich herzuziehen.

Daneben haben die Kinder in Krippen verschiedene Kletterelemente, die zum Bewegen, zum Klettern, Hüpfen und Rutschen anregen. Mit Schemeln und Bänken bauen sie Züge und Omnibusse. Hineinschlüpfen und herausschauen, einsteigen und aussteigen, hinaufklettern und herunterhüpfen – die Kinder erproben sich und die Welt. Das Kind erlebt an diesen einfach gehaltenen Materialien die Welt als kohärent – es erlebt die Sinnhaftigkeit der Zusammenhänge in der Welt, es kann sie verstehen und lernt sie handhaben.

Die Dinge verwandeln und beleben

Wenn das Kind in den Kindergarten kommt, erwacht in ihm die Seelenkraft der Phantasie. Die Materialien scheinen im Spiel ein Eigenleben zu entwickeln. Die kindliche Phantasie lässt die Schüssel zum Hut, später zum Stuhl oder zum Lenkrad und vielem mehr werden. Sie entzündet sich an äußeren Eindrücken und entfacht eine starke innere Aktivität, wodurch ein farbenfrohes, sich ständig wandelndes Phantasiespiel entsteht. Dabei erlebt das Kind ein hohes Maß an Freiheit. Sind die Spielmaterialien differenziert und wirklichkeitsgetreu ausgestaltet, verblasst und verkümmert die Phantasie – sie wird nicht angeregt.

Im Kindergarten entstehen erste Rollenspiele und das Bauen von Behausungen rückt in den Mittelpunkt. Das Kind ergreift in diesem Alter seinen Körper immer bewusster, wird geschickt und beweglich, es drückt diesen Prozess im Spiel aus.

Mit roten Backen und großem Eifer werden schwere und große Spielmaterialien getragen, an- und aufeinander gebaut und mit Schneckenbändern befestigt. Aus Tischen, Holzständern, Leitern und Brettern entstehen dunkle Höhlen, mehrstöckige Häuser, Fahrzeuge oder Schiffe. Stehen die Gebäude, werden sie mit Fellen und Kissen eingerichtet und erst dann kommen Puppengeschirr und die Puppenkinder mit ins Spiel.

Auf einem Hocker entsteht der Herd, Puppenkinder werden auf dem Schemel gewickelt, gefüttert und im Arm gehalten. Kastanien, Eicheln und Bucheckern werden Äpfel, Kartoffeln oder Eier, die Schneckenbänder sind Spaghetti und die gefilzten Sitzkissen werden als Pizza ausgeliefert. Meist benötigen die Kinder für das Bauen und Einrichten der Spielsituationen den allergrößten Teil der Spielzeit. Neben diesen großflächigen Spielsituationen gestalten sie im Phantasiespielalter Landschaften aus Tannenzapfen, Rindenstücken und kleinen Tieren oder Stehpüppchen. Das Kind lebt sich im Gestalten der Landschaften phantasievoll in die Natur- und Kulturlandschaft seiner Umwelt ein.

Aus der Vorstellung heraus spielen

Die Entwicklungskräfte, die nun nicht mehr so intensiv zur Ausgestaltung der Organe und des Gehirns gebraucht werden, stehen jetzt der Ausbildung des Denkens und der Vorstellung zur Verfügung.  Die inneren Bilder des Kindes wandeln sich zu ersten Vorstellungsbildern und die dritte Spielphase bahnt sich an. Das Kind beginnt, die Fähigkeit auszubilden, sich und die Welt distanziert zu betrachten. Verkündete der dreijährige Peter mit dem schönen blauen Mantel bisher, »Ich bin der König«, so sagt er nun, zwei Jahre später, »Ich wäre der König und du wärst die Prinzessin!« Das Kind lernt, abstrakte Vorstellungen zu bilden und kommt mit konkreten inneren Spielimpulsen in den Kindergarten. Feuerwehrautos, Krankenwagen, Arztpraxen, Schulen oder Baustellen und viele gemütliche Häuser entstehen. Die bisherigen Materialien werden weiter bespielt, aber jetzt brauchen die Kinder immer denselben runden Klotz als Lenkrad, sie benutzen nur diese Edelstahlschüssel als Spülbecken und im Zug brauchen die Passagiere »richtige« Fahrkarten. Kinder im Vorschulalter sind morgens damit beschäftigt, sich die Materialien, die sie an diesem Tag benötigen, zusammenzusuchen oder sie herzustellen. Der Maltisch wird zur Druckerei für die Plakate des Zirkus, es werden dort die Fahrkarten hergestellt oder aufwändige Schulhefte gebastelt. Am Werktisch werden allerlei Holzklötze oder ein kleines Puppenhaus mit Mobiliar gebaut und am Nähtisch können Zwerge oder Täschchen genäht und manchmal sogar einfache Puppen hergestellt werden. Wenn die Kinder dann mit ihren selbst gestalteten Spielmaterialien spielen können, ist dies oft der Impuls nochmals in ein ganz intensives Spiel einzutauchen, bevor sie in die Schule kommen. Man kann eine starke Verbindung erleben, wenn die Kinder ihre Spielmaterialien selbst hergestellt haben.

Aufräumen macht Spaß

Die vielfältigen Materialien in Krippe und Kindergarten sind die unmittelbare Umgebung der Kinder, die ihnen Orientierung und Sicherheit geben. Für sie ist es ein Geschenk, wenn diese Materialien alle ihren Platz haben, einen eigenen Ort, wo sie sichtbar aufgeräumt sind und wo die Kinder sie immer wiederfinden können. Dies stärkt das kindliche Vertrauen und vermittelt ihnen das Gefühl von Geborgenheit.

Das Anregen des Ordnungssinnes im Verständnis des Erwachsenen bleibt dabei weit im Hintergrund; für das Kind bedeutet das Aufräumen ein »Zurückspielen«, ähnlich der Heimkehr nach einer langen Reise. Kinder räumen gerne auf, wenn sie in einer gelassenen und heiteren Stimmung beim kindgemäßen Aufräumen vom Erwachsenen unterstützt werden.

Spielmaterial statt Spielzeug

Der Begriff »Spielzeug« wird hier bewusst vermieden. »Zeug« ist in unserem Sprachgebrauch negativ konnotiert. Material bedeutet seiner Wortherkunft nach »Stoff«; Spielmaterial ist also der Stoff aus dem Spiel gemacht wird.

Sucht man eine allgemeingültige Antwort auf die Frage nach gutem und vielleicht auch förderlichem Spielmaterial für das Kind, so kann ein möglicher Anhaltspunkt der Blick in die Natur sein, dort, wo das Wachsen und Werden am unmittelbarsten erlebbar ist. Spielmaterialien, die das Kind draußen in der Natur findet, bieten für jede Altersstufe ein unendlich reiches Erlebnisfeld.

Allein der Waldboden ermöglicht so abwechslungsreiche Sinneserfahrungen und Spielmöglichkeiten, wie es kein fertiges Spielmaterial bieten kann. Wie wertvoll ist es daher, wenn die Kinder am Waldtag Materialien in der Natur sammeln und diese anschließend im Kindergarten zum Spielen benutzen oder gemeinsam Spielmaterialien daraus hergestellt werden können.

Zur Autorin: Susanne Vieser ist Heilerzieherin und Kindheitspädagogin (M.A.). Nach vielen Jahren der Tätigkeit im Waldorfkindergarten und einer Waldorfkrippe ist sie seit 2013 Dozentin für Pädagogik und Methodik am Waldorferzieherseminar, Fachschule für Sozialpädagogik in Stuttgart.

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