Stallnachrichten
Begegnungen mit Tieren im Kindergarten auf dem Bauernhof.
Jeden Morgen drehen Julius und Marie erst einmal ihre Runde durch den Kuhstall, bevor sie in den Kindergarten kommen. Mit wachen Augen beobachten sie, was dort geschieht. Julius schaut jeden Tag, ob es seinem Kalb auch gut geht. Gibt es etwas zu berichten, so bringen die Kinder an manchen Tagen gleich die neuesten Kuhstallnachrichten mit in den Kindergarten und manchmal ziehen wir dann alle los, um zu schauen, was sich dort ereignet hat oder ereignen wird.
Julius und Marie gehen in den Bauernhofkindergarten »Das Bienenhäuschen«. Der Kindergarten gehört zu Hof Dannwisch in Schleswig-Holstein, der seit 1957 biologisch-dynamisch bewirtschaftet wird.
Vierzig Milchkühe und ihre Nachzucht sind im Kuhstall beherbergt. Hier wird gefressen, wiedergekäut und verdaut. Ein unüberhörbares Stöhnen und vielfältige Verdauungsgeräusche sind wahrzunehmen. Der ganze Hof wird an diesem Ort verstoffwechselt. Berge von Heu gehen im Winter durch die Kuhmägen und bestimmen die Qualität der Produkte, die aus der Milch, dem Fleisch und dem Mist hervorgehen. Die Kinder aus unserem Kindergarten wissen, wo die Milch herkommt und was aus ihr alles hergestellt werden kann. Sie lernen Heu von Stroh unterscheiden und erkennen im Heu den getrockneten Klee und die Gräser von der Wiese, auf der sie im Sommer herumgetollt sind. Im Kuhstall findet das Leben statt. Er ist das Zentrum des Hofes. Er steht da und ist unerschütterlich.
Die Kindergartenkinder nehmen die Qualität dieses Ortes wahr. Sie erleben: Die Kühe sind immer da, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Täglich werden sie von den Bauern gefüttert, gemolken und ihr Stall wird ausgemistet. Es ist ein Ort, der immer im selben Rhythmus schwingt, der Ruhe, Kontinuität und Verlässlichkeit ausstrahlt. Die Kühe und Kälber sind ein wesentlicher Teil der Hof-Gemeinschaft, ebenso wie die Kindergartenkinder. Diese erfahren auf dem Hof, dass die Kühe und alle anderen Tiere wie selbstverständlich dazu gehören. Sie erleben es so und lernen, dass der Mensch eine Verantwortung gegenüber den Haus- und Nutztieren hat. Sie erfahren, wie ein würdiger Umgang mit den Tieren aussieht und wie nahe Geburt und Tod beieinander liegen. Gibt es mal eine kleine Aufgabe zu verteilen, dann sind die Kindergartenkinder immer dabei. Mal geht es darum, Heu nachzuschieben, Stroh bei den Kälbern nachzustreuen oder ihnen die Milch zu bringen. Die meiste Zeit aber verbringen wir mit den Kindern beobachtend im Stall. Das gemütliche, wiederkäuende Wesen der Kühe strahlt Ruhe aus. Es macht so viel Freude, im Heu sitzend zu schauen, welche Kuh die schönsten Hörner hat. Ein Besuch im Kuhstall kann an manchen Tagen sehr ordnend und heilsam auf die Gruppe wirken.
Die einzelnen Kinder reagieren sehr unterschiedlich auf die Begegnung mit Tieren. Manche haben zu den Kühen eine große Affinität, andere zu den Schweinen oder den Hühnern.
In einigen Fällen hat eine Kind-Tier-Beziehung sogar einen therapeutischen Charakter, wenn durch den intensiven Kontakt mit dem Tier – und sei es nur für kurze Zeit – extreme Verhaltenstendenzen aufgelöst werden.
Es ist ein gesundender Prozess, wenn ein sogenanntes hyperaktives Kind beim Striegeln eines Kälbchens zur Ruhe findet und für Momente eins mit dem Tier wird. Oder wenn Kinder mit taktilen Problemen nach langem Üben den Mut zur Berührung finden, indem sie das Tier streicheln oder sich abschlecken lassen.
Die Tiere vermitteln uns seelische Qualitäten und sind sehr eindeutig in ihrem Verhalten, wenn wir uns die Mühe machen, ihre Sprache zu verstehen. Stürzen die Kinder voller Übermut auf die Kälber zu, machen diese erst einmal vor Schreck einen Satz zurück. Für das Kind ist diese Reaktion unmittelbar erfahrbar und es kann daraus lernen, sein Verhalten zu korrigieren. Möchte das Kind, dass das Tier ihm die Hand schleckt, muss es ruhig an es herantreten und sich in Geduld üben. Das Tier spiegelt direkt und ohne moralische Beurteilung das menschliche Verhalten. Soll sich das Wesen der Tiere offenbaren, ist viel Ausdauer und Geduld erforderlich. Es gibt Kinder, die sich erstaunlich gut zurücknehmen können, für andere wiederum ist es ein langer Prozess. Viel deutlicher wird dieser Prozess in der Begegnung mit Tieren in freier Wildbahn. Entdecken wir im Wald oder auf dem Feld Rehe und sind nicht augenblicklich still, dann laufen sie sofort davon und sind verschwunden.
Ein Tag voller Tierbegegnungen
Noch etwas verträumt und verschlafen sitzt Liam auf einem Baumstamm und blickt auf die große Wiese. Er wartet auf den Augenblick, in dem die große Hühnerschar aus dem Stall gelassen wird und mit ihnen ihre zwei Leibwächter Kasimir und Ferdinand, die zwei Esel. Die Hühner im mobilen Hühnerstall sind für einige Wochen unsere Nachbarn und die Kinder können ihnen täglich beim Scharren zusehen. Ganz anders verhalten sich dagegen Kasimir und Ferdinand. Voller Freude über ihren Freigang galoppieren und springen sie in Eselmanier über die Weide. Wen wundert es da, dass Lotta und Karla sofort die Pferdeleinen holen und ebenso durch den Garten galoppieren?
Inzwischen ist auch Joke angekommen. Sie schleppt einen großen Eimer mit Eicheln in den Kindergarten, die sie zuhause gesammelt hat, denn sie weiß noch vom letzten Jahr, dass die Schweine sich laut grunzend über die Eicheln hermachten, die wir für sie gesammelt hatten. Marie kommt von ihrer morgendlichen Runde aus dem Kuhstall zurück und erzählt uns, dass das ausgebüchste Huhn sich heute Nacht Schutz bei einem der Kälber im Stroh gesucht hat. Nun sei es für ein Frühstück auf dem Weg zur Scheune, denn da liegen noch viele Getreidekörner zum Aufpicken verstreut. Wo es wohl sein Ei gelegt hat?
Völlig aufgeregt ist Hannes. Auf dem Weg zum Kindergartentor lag auf der Wiese ein toter Maulwurf! Sofort werden Eimer und Schaufel organisiert. Der Maulwurf wird eingesammelt, wie eine Trophäe allen vorbeikommenden Erwachsenen gezeigt und dann beginnt die Organisation seiner Beerdigung. Wer gräbt das Loch? Wer holt Heu für ein weiches Bett aus dem Stall oder gibt es irgendwo Moos? Wer pflückt Blumen auf der Wiese? Wer sucht Stöckchen und bindet daraus ein Kreuz? Eine ganze Gruppe ist in Aktion und jeder Einzelne hat ein Ziel. Noch schauen sich die Kinder den Maulwurf ein letztes Mal an. »Er hat die Augen zu«, sagt eines der Kinder. »Aber seine Seele ist schon im Himmel«, weiß ein anderes. »Er hat so samtiges Fell, am liebsten würde ich ihn noch einmal streicheln!«, wünscht sich ein anderes. Sind alle Attribute besorgt, wird die Beerdigung meist sehr sachlich und schnell abgehalten und die Kinder gehen danach wieder ihrem Spiel nach.
Schon längst besitzt der Kindergarten am Ackerrand einen eigenen Friedhof für alle auf unbekannte Weise verstorbenen Kleinstlebewesen. Ein Spitzmäuschenbaby, ein Maikäfer, ein Schmetterling – alle haben sie dort ihre letzte Ruhe gefunden und somit wieder Ruhe in die Kindergruppe gebracht. Als Kindergärtnerin musste ich erst lernen, dass ein toter Maulwurf nicht warten kann und eine ganze Tagesplanung verändert. Während der Vorbereitungen zur Beerdigung oder am Grab ergeben sich dann manchmal die tiefsinnigsten und philosophischsten Gespräche unter den Kindern. Gedanken über Leben und Tod, Gott und Engel werden ausgetauscht. Und ich lerne von den Kindern, dass derartige Beerdigungen und andere wesentliche Ereignisse gar nicht immer so umständlich sind und so viel Zeit in Anspruch nehmen, wie wir Erwachsenen denken. Warum nicht mal eine kleine Beerdigung dazwischenschieben? Wichtig ist, dass alles so stattfinden kann, wie es stattfinden muss und die Weltordnung wiederhergestellt ist. Das ist das Wesentliche für die Kinder, denn sie leben in der Gegenwart.
Und weil es so ist, wie es immer ist, piepst uns auch schon energisch der Buchfink vom Weißdorn herüber. Er ist es gewohnt, dass er unsere Brotkrümel aufpicken darf, die wir nach dem Frühstück aus dem »Bienenhäuschen« fegen. Heute sind wir aufgrund der spontanen Beerdigung ein bisschen später dran. Herr Buchfink hat es sogleich gemerkt und uns unüberhörbar darauf aufmerksam gemacht. Es zeigt sich auch hier: Tiere und Kinder brauchen ihren gewohnten Rhythmus!
Wenn es aus dem Laubhaufen hustet
Es gibt eine Vielzahl an Tieren aus Wald und Flur, die uns durch den Alltag begleiten. Im Frühjahr sind wir immer ganz gespannt, ob auch wieder Familie Meise in Hausnummer 9 bei der Blätterhöhle einzieht. Letztes Jahr konnten wir über Monate unsere Gießkannen nicht benutzen, weil sich zwischen Vordach und aufgehängter Gießkanne ein Hausrotschwanz sein Nest gebaut hatte. Eine zweite Familie zog auch gleich mit unter das Dach und einige Kinder konnten den Moment beobachten, in dem die Kleinen das erste Mal das Nest verließen.
Einen großen Schrecken jagte uns ein Unhold in der Nähe unserer Komposttoilette ein. Eines Vormittags ruschelte und hustete es dermaßen aus dem Blätterhaufen, dass manche Kinder meinten, ein Gespenst würde bei uns wohnen. Es stellte sich aber heraus, dass es der Igel persönlich war, der aus seinem Winterschlaf erwacht war und sich erst einmal regelrecht freihusten musste.
Im selben Frühjahr fanden wir auch Jakobs geringelten Schal wieder, der den ganzen Winter unauffindbar war. Ein kleiner Zipfel schaute unter einem Baumstamm aus dem Laub hervor. Er war eindeutig von einer Maus zur Winterherberge umfunktioniert worden.
Letztes Jahr haben unsere Steckenpferde etwas gelitten. Sie stehen draußen und schauen am Staketenzaun unter dem Schleppdach hervor. Als Herr und Frau Meise Hausnummer 9 bezogen, entdeckten sie die Vorteile dieser Wollmähne und waren das ganze Frühjahr damit beschäftigt den Pferden die Mähne auszuzupfen. Die Kindergartenkinder sahen es gelassen, schließlich diente die Mähne ihrer Steckenpferde einem guten Zweck. In diesem Jahr befestigten wir bunte Märchenwolle mit einer Zopfspange an der Mähne: Ob wir wohl bald bunte Nester finden?
So wie der Kindergarten von Wiesen und Feldern umgeben ist, die der Jahreszeit entsprechend ihr Kleid verändern, so sind die Kindergartenkinder täglich auch von Tieren umgeben. Tiere beseelen einen Ort und eine Landschaft und sie rufen in uns verschiedenste Emotionen hervor. Sie verlangen uns angemessene Eigenschaften und Verhaltensweisen ab, damit es zu einer wahrhaften Begegnung kommen kann. Echtes Mitgefühl und Demut können sich dabei beim Menschen einstellen.
Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Nicht nur das Nutztier, sondern auch die in freier Natur lebenden Tiere sind vom Menschen abhängig. Wir bestimmen bewusst oder unbewusst mit unserem Verhalten, wie wir mit ihren Lebensräumen umgehen. Viele Fragen stellten sich, wenn wir die Begegnung zwischen Mensch und Tier genauer betrachten würden. Eine Frage ist allerdings wesentlich und auch für Kinder unmittelbar erlebbar: Welche Einstellung vertrete ich als Erwachsener grundsätzlich gegenüber Lebensthemen wie Geburt und Tod, Gesundheit und Krankheit und einer bewussten Ernährung? Sind diese Themen eingebettet in ein großes Ganzes?
Der Bezug zu einem Bauernhof, Tierbeobachtungen im eigenen Garten oder Spaziergänge in der Natur können dabei für die ganze Familie eine große Unterstützung sein und die Lebenseinstellung des kleinen Kindes wegweisend beeinflussen. Mit Kindern zusammen in der Natur Tierbegegnungen zu haben, gibt Lebenskraft und Lebensfreude und es stellt sich das Gefühl ein: Die Welt mit all ihren Lebewesen ist ein Ganzes. Sie ist gut und wahr und schön!
Zur Autorin: Sabine Gehle ist Waldorfklassenlehrerin mit dem Nebenfach Musik und Waldorfkindergärtnerin; sie leitet den Kindergarten »Das Bienenhäuschen e.V.« auf Hof Dannwisch.
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