Stroh zu Gold spinnen. Vom Leben im unendlichen Raum der Phantasie

Februar 2018

Im Gespräch mit Beate Wohlgemuth. Beate Wohlgemuth ist Waldorfkindergärtnerin in Lübeck, Musikerin und Mitglied im Vorstand der Vereinigung der Waldorfkindergärten.

Foto: pollography / photocase.de

Erziehungskunst | Was ist Phantasie für das Kind?

Beate Wohlgemuth | Phantasie ist für das Kind ein Seinszustand. Es lebt in der Phantasie. Mit den Dingen phantasievoll umzugehen, ist für es normal. Phantasie ist nicht gesondert von der Wirklichkeit. Es ist eine Fähigkeit, die das Kind hat, um die Welt zu gestalten. Das geschieht unbewusst, gibt dem Kind aber Sicherheit.

EK | Wie wird die Phantasiekraft angeregt?

BW | Durch Materialien, die veränderbar und nicht festgelegt sind. Bekommt ein Kind einen Legohubschrauber zu Weihnachten geschenkt, so ist nicht der Hubschrauber an sich schlecht, sondern die mit ihm verbundene Einschränkung. Denn das Kind kann aus diesen Legoteilen ausschließlich diesen Hubschrauber bauen und nichts anderes. Es kann bei solchen Dingen gar nicht mehr gegen die festen Vorstellungen an, die die Erwachsenen vorgeben. Alles, was das Kind anders macht, ist von diesem Gesichtspunkt aus falsch. Seine Tätigkeit wird daran gemessen, was von der Welt gewünscht wird und nicht an dem, was es von sich aus tun würde. Es kann die Welt nicht mehr als gestaltbar erfahren. Es ist ihr ausgeliefert.

EK | Braucht Phantasie Anregungen von außen?

BW | Phantasie braucht als erstes, dass sie nicht gestört wird. Viele Kinder brauchen eine gewisse Zeit, um in das Spiel hineinzukommen. Sie müssen durch Langeweile hindurchgehen, bevor sie anfangen zu spielen. Es gibt aber auch Kinder, die brauchen eine Hilfe­stellung, um ins Spiel zu kommen. Man regt an, indem man beispielsweise sagt: Mache mir doch einmal einen Tee oder Kaffee. Da können die meisten Kinder in das Spiel einsteigen. Weiter bedarf es vor allem der Urteilsenthaltung. Man darf die Phantasie nicht beurteilen, nicht einmal positiv. Das heißt nicht, dass ich nicht sagen kann: Der Tee schmeckt sehr gut. Aber nicht: Das hast du toll gemacht.

EK | Warum ist das schlecht, wenn ich sage, das hast du toll gemacht?

BW | Das ist insofern nicht richtig, als das Kind wieder dazu gebracht wird, sich nach außen zu orientieren. Es ist eine extrinsische Motivation und nicht eine intrinsische. Lobe ich das Kind, dann handelt es, um zu gefallen. Ein anderer Punkt ist, dass das Spiel ungestört sein soll. Wenn ich im Spiel sage: Denke aber daran, du musst die Murmeln nachher wieder aufräumen, dann kann sich das Spiel gar nicht entfalten. Ich ersticke das Spiel im Keim. Das Kind weiß ja noch gar nicht, was alles mit den Murmeln passieren wird. Das ist der Prozess der Phantasie: Die Murmeln kullern erst einmal die Murmelbahn hinunter, dann kullern sie durch den ganzen Raum, dann findet man ein kleines Loch im Fußboden, wo sie alle versteckt werden. Zu Beginn des phantasievollen Spieles ist nicht klar, wo es endet. Wenn ich am Anfang auf das Aufräumen hinweise, steuere ich schon das Spiel. Es ist ein großer Störfaktor, wenn man sagt: Bringe bitte alles so in Ordnung, wie ich das gerne hätte.

EK | Wie sieht die Korrespondenz zwischen Innen und Außen im phantasievollen Spiel aus?

BW | Ich habe hunderte Stunden mit Beobachtung zugebracht, um mitzubekommen, wann der Bauklotz, der gerade ein Handy ist, sich in ein Bügelbrett verwandelt. Und ich habe nur beobachten können, man braucht jetzt ein Bügelbrett, also ist es das jetzt. Ich bin nicht dahintergekommen, warum keiner in der Gruppe sagt: Das ist aber kein Bügelbrett, das ist ein Handy. Alle anderen gehen mit in dem Moment, in dem ein Kind sagt, das ist ein Bügelbrett. Und in dem Moment, in dem es sagt, es ist ein Handy, ist es das wieder. Da gibt es keinen Streit. Aber, wie das passiert, da bin ich als Erwachsener gar nicht dahinter gekommen. Das finde ich großartig. Dem liegt ein Geheimnis zugrunde.

Anders ist das mit Dingen, die schon fertig sind. Wir hatten im Kindergarten einmal ein Holzbügeleisen. Um dieses Bügeleisen gab es immer Streit. Denn neben ihm konnten die anderen erfundenen Bügel­eisen nicht bestehen. Jeder hat sich an diesem fertigen Modell orientiert. Das ist gar nicht zu vermeiden. Damit erklärt sich auch, warum wir so viel Spielzeug überall in den Kinderzimmern haben. Denn für jede Sache brauche ich ein eigenes Spielzeug. Das ist eine ganz einfache Logik, die dem zugrunde liegt. Ich kann aus einem fertigen Bügeleisen kein Handy machen oder umgekehrt. Das lässt das Bügeleisen einfach nicht zu. Ein Bauklotz schon.

EK | Was bedeutet es für die Zukunft und das Dasein als Erwachsener, wenn Kinder diese Art von Verwandlungskräften haben?

BW | Der Mensch erübt sich Fähigkeiten für das ganze Leben. Er lernt, ohne Vorlage mit jeder Situation zurechtzukommen. Durch die Phantasietätigkeit in früher Kindheit habe ich soviel Erfahrung gesammelt, dass ich mit allem umgehen kann. Ich kann mir jederzeit neue Möglichkeiten ausdenken, kann Dinge, die fehlen, durch andere ersetzen. Ich bewege mich und die Dinge.

EK | Phantasie hängt mit dem griechischen »phainein«, scheinen, zur Erscheinung bringen zusammen. Was nicht ist, wird kreiert. Wie lässt sich das verstehen?

BW | Wenn ich eine Vision verwirklichen will, dann muss ich auf die Kraft der Phantasie bauen. Ich muss in der Lage sein, mir eine innere Vorstellung zu bilden, die über das Vorhandene hinausreicht. Anhand einer inneren Wirklichkeit schaffe ich neue zukünftige Wirklichkeiten. Ich bin also fähig, in einen Werdeprozess einzusteigen. Vorausgesetzt die Kinder im Kindergartenalter werden nicht abgebremst in ihrer Phantasietätigkeit. Sie üben, eine Idee auszugestalten und ihr zu folgen.

EK | Was ist der Unterschied zwischen Phantasie und Phantastik?

BW | Die Phantastik kommt in das Kinderzimmer hinein, weil Erwachsene ihre Phantasie haben spielen lassen. Es ist die gefrorene Phantasie einer ausgedachten Erwachsenenwelt. Damit beschäftigen sich die Kinder. Meine Beobachtung ist die: Die Kinder spielen mit den Phantastiksachen genau das, was dazu gehört. Sie können sich mit ihnen nicht selbstständig ver­wandeln und sie können die Dinge nicht verwandeln. Das Spiel ist ein erstarrter Prozess. Sie wissen, Spider­man hat diese und jene Rolle oder Funktion. Sie können Spiderman nicht in neue Situationen versetzen. Wenn sie stolpern, können sie nicht fragen, was würde Spiderman machen. Das funktioniert nicht, da Spiderman niemals stolpert. Sie lösen also keine Situationen ihres eigenen Lebens mit Spiderman oder Anna und Elsa, Bibi und Tina und wie sie alle heißen. Das heißt weiter, sie spielen jeden Tag dasselbe, da sie die Rollen nachspielen und in diesen nur die festgelegte Rollenvarianz enthalten ist. Es kann nichts Neues entstehen und es kann auch nicht fünf Prinzen geben. Falls der Versuch gemacht wird, dann wird sofort die Korrektur der Wissenden als eine Art Spielzensur ausgeübt. Haben die Kinder hingegen nicht diese Rollenvorstellung, dann können auch fünf Kapitäne im Schiff sein, die alle in eine andere Richtung schauen und alle nach Afrika fahren und dort auch ankommen.

Und natürlich haben die Themen, die diese Phantastikfiguren repräsentieren, nichts mit der Kinderseele zu tun. Es sind Probleme von Zehnjährigen oder Pubertierenden. Dadurch kommen zu früh Gefühlsqualitäten in das Kind, die es noch gar nicht aus sich heraus gestalten kann.

Wenn große Geschwister da sind, ist das natürlich nicht zu vermeiden, dass die Kleinen Dinge übernehmen, die eigentlich nicht für sie bestimmt sind. Ich hatte einmal einen Jungen in der Gruppe, der als Jedi-Ritter in den Kindergarten kam. Er wusste allerdings nicht, was ein Jedi-Ritter ist. Er hat nicht gewusst, was das Kostüm soll. Ein echter Jedi-Ritter kann nicht im Puppenhaus sitzen und Essen kochen. Es kommt also immer darauf an, inwieweit die Rollen als solche festgelegt sind. Damit können Eltern dann sensibel umgehen. Nicht nur verbieten und vermeiden, sondern darauf achten, dass der Spielraum und der Freiraum erhalten bleiben.

EK | Wo liegt der Unterschied zwischen den Märchenhelden und den Phantasy-Feen Anna und Elsa, zwischen einer Dreikönigsfigur und einem Jedi-Ritter?

BW | Bei dem Märchen ist die Frage einfach zu beantworten. Erzähle ich ein Märchen, so macht sich jeder sein eigenes Bild von der Prinzessin oder der Hexe. Auch im Krippenspiel greifen wir auf Urbilder zurück und doch sollten diese Urbilder so offen sein, dass die Kinder da hineinschlüpfen können. Verwandle ich mit Gesten und sprechend eine Puppe aus dem Puppenhaus in das Jesuskind in der Krippe, so ist das etwas anderes, als wenn ich es einfach »umfunktioniere«. Man muss darauf achten, dass das, was man da gestaltet auch so ist, dass die Kinderseele darin leben kann.

Ein weiterer Unterschied ist, dass das Kind immer das sein kann, was seinem Seelenzustand entspricht. Im Krippenspiel eben einmal ein Schäfchen, dann ein Esel oder Maria oder Joseph. Es gibt Kinder, die wollen nie Maria sein. Das muss man respektieren, da dies aus einem ganz tiefem inneren Wissen heraus geäußert wird.

EK | Was hat es zur Folge, dass Phantasiegestalten überall auftauchen – auf Brotdosen, dem Zahnputz­becher, der Tapete?

BW | Dahinter steckt natürlich als erstes die Industrie, die damit Geld verdienen will und vor allem auch einen Kundenstamm heranziehen möchte. Das ist die eine Seite. Und als Folge tritt zu Tage, dass die Sache nicht mehr als Sache betrachtet wird. Es genügt nicht, einfach einen Waschlappen zu haben. Die Sache an sich wird nicht mehr geschätzt, man dringt nicht mehr durch zu dem Wesen eines Dinges. Dadurch wird der Gegenstand auch abgewertet. Und was weiter hinzukommt ist, dass der schöne Lilifee-Waschlappen auch Streit produziert. Man möchte nur diesen einen Waschlappen haben. Alle anderen sind nichts wert.

Das ist anders, wenn im Kindergarten sich die Kinder um eine Schaufel streiten. Wir haben zwanzig Schaufeln, aber wochenlang ist die eine blaue Schaufel, die einen etwas anderen Griff hat, die Schaufel, mit der alle nur schaufeln können. Die Qualität dieser Schaufel allerdings ist eine von den Kindern selbst zugesprochene. Sie sind Mitgestalter, denn sie entscheiden, dass das nun die schönste, beste Schaufel ist. Bei dem Lilifee-Waschlappen ist das nicht so. Hier wird von außen vorgegeben, was richtig und schön zu sein hat.

EK | Was steckt hinter der Sehnsucht, in die Welt der Phantasie zu entschwinden?

BW | Das Kind entschwindet nicht in die Welt der Phantasie. Dem Kind steht die Phantasie als Schöpferkraft zur Verfügung. Es bringt durch die Phantasie die geistige Welt zur Erscheinung. Es ist noch ganz in dieser geistigen Welt. Die Sehnsucht nach dieser Welt tritt erst im späteren Leben auf, wenn wir den Zusammenhang mit ihr verloren haben. Es ist ja auch die Frage, wo ich in meinem Leben schöpferisch tätig werden kann. Nicht nur in Pausen und in den Ferien, sondern im Alltag. Die Sehnsucht, an diese Kraft zu kommen, die liegt in jedem Menschen. Es ist auch die Sehnsucht des Menschen, dass das Leben so schön wird, wie es in mir lebt. Und darauf baut die Phantasie.

EK | Nehmen Sie wahr, dass die Phantasiekräfte sich verändern?

BW | Viele Kinder sind nach wie vor in der Lage, aus dem Nichts heraus zu spielen. Sie können aus Stroh Gold spinnen. Es ist natürlich viel schwieriger, Räume zu schaffen, wo das möglich ist. Denn die Kinderzimmer sind voll mit den gut gemeinten fertigen Sachen. Es gibt inzwischen mehr Kinder, die die Nähe des Erwachsenen suchen oder die Tätigkeiten mitmachen, die dieser ausführt. Sie helfen viel mehr als früher, sei es in der Küche oder auch im Garten.

Ich muss dann auch mehr Anregungen geben, dass ein Kind anfängt zu spielen. Eigentlich will ich gar keine Anregungen geben, sondern ich möchte es durch meine Tätigkeit so beleben, dass es von selbst loslegt. Dieser Prozess dauert heute länger als früher. Doch ist dieser Prozess einmal in Gang gekommen, dann spielen die Kinder – wenn man sie nicht stört.

EK | Wie gehen Sie als Kindergärtnerin mit den Figuren um, die in den Kindergarten mitgebracht werden?

BW | Es gibt da zwei Haltungen, die mich bestimmen – das sind Verantwortung und Akzeptanz. Zum einen ist es ein Waldorfkindergarten und ich sehe es als meine Aufgabe an, den Raum zu schaffen, in dem die Kinder phantasievoll spielen können. Das andere ist, dass ich wahrnehme, dass das Kind sein Liebstes mitbringt. Wenn ich das beurteile, dann verletze ich das Kind. Das heißt, ich muss dieses Liebste annehmen, auch wenn es meiner Meinung nach scheußlich aussieht. Konkret heißt das, dass wir in unserem Kindergarten eine Ecke haben, wo nach einer gewissen Zeit die mitgebrachten Dinge ihren Platz finden. Solange sie noch mit dabei sind, versuche ich sie zu integrieren. Das heißt, eine nackige Barbiepuppe wird zum Beispiel mit schönen Tüchern angezogen.

Was ich aber richtig schlimm finde, ist, wenn im Mittagsschlaf die Spieluhrenpuppen quaken, klingeln oder sonstige Geräusche von sich geben. Darauf sollte man schon achten, dass die Schmusetiere keine Geräusche machen. Denn dagegen ist sehr schwer anzukommen.

EK | Wie rege ich die Kinder an, ins Spiel zu kommen?

BW | Platz schaffen im Kinderzimmer, Platz schaffen im Wohnzimmer und auch Platz schaffen in der Küche. Und dann: dass unsere Ordnung störende Spiele zulässt. Wenn das nicht ausreicht, kann ich die Kinder zum Spielen anregen, indem ich ihnen einfache Dinge gebe, aus denen sie Sachen gestalten können. •

Das Gespräch führte Ariane Eichenberg

Mehr desgleichen finden Sie in der Erziehungskunst »Frühe Kindheit«

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