Therapie durch Geschichten. Wie man Kindern das Klauen abgewöhnen kann

Von Sebastian Jüngel, Januar 2016

Fritzi ist ein aufgewecktes Kind. Neuerdings verschwinden in seinem Umfeld Dinge. Als Fritzi einmal krank ist, ist alles normal. Schnell ist klar: Fritzi stiehlt. Was tun? Die Ermahnung, dass man nicht stehlen dürfe, fruchtet nichts. Und doch ist dieser naheliegende Schritt nicht ganz falsch. Es kommt eben auf die Art der Ermahnung an.

Foto: © Francesca Schellhaas / photocase.de

Heute ist aus verschiedenen Bereichen bekannt, wie man durch Visualisierungen und Geschichten eine innere Entwicklung steuern oder Fähigkeiten steigern kann. Eine Leistungssportlerin stellt sich den Wettkampfablauf vor, bevor sie startet. Ein Patient stellt sich vor, wie er seinen gelähmten Arm bewegt, um Nervenwege neu zu bahnen. Und in der Krebstherapie nach Simonton stellen sich Patienten vor, wie sie die schwachen Krebszellen bekämpfen. Insofern ist es heute nicht mehr überraschend, dass Rudolf Steiner in pädagogischen und heilpädagogischen Situationen empfohlen hat, Kindern, die klauen, eine Geschichte zu erzählen. Die neurologische Forschung bereichert das Verständnis, warum solche Geschichten wirken können. Vor Heilpädagogen fasste Steiner einmal die Eigenschaften einer solchen Geschichte zusammen: »Mit innerer Lebendigkeit erfindet man Geschichten, wodurch dasjenige, was das Kind tut, im Leben ad absurdum geführt wird. Man erzählt ihm einen Fall von Stehlen und macht das wiederum und immer wiederum.«

Mit innerer Lebendigkeit

Der Pädagoge oder Erzieher ist Vorbild, wirkt durch das, was er tut und fühlt. Indem er an das, was er vorträgt, wirklich glaubt, bringt er »Wahrheit« (Steiner) zwischen sich und das Kind. Da ja nicht einfach nur ein Sachverhalt mitgeteilt wird, sondern die Geschichte etwas bedeutet, jedes Element also bildhaft aufzufassen ist, geht ein »feiner geistiger Strom hinüber zu dem, dem die Mitteilung gemacht wird« (Steiner). Auf einen solchen Zusammenhang weist auch der Neurologe Gerald Hüther hin: Ein Kind übernehme von einer »Bindungsperson« unter anderem Haltungen, wenn es zu ihr in einer »engen emotionalen Beziehung« steht. Die Voraussetzung für die Wirksamkeit einer Geschichte ist also eine aktive Beziehung zwischen Erziehendem, Geschichte und Fritzi.

Keine Moral à la Wilhelm Busch

Im Kern ist eine Geschichte, die sich auf das Klauen von Fritzi bezieht, eine Lehre: Sieh, was in der Geschichte geschieht, das geht nicht gut aus! Doch geht es nicht vordergründig um eine Moral à la »Max und Moritz« oder der schwarzen Pädagogik à la »Struwwelpeter«. Vielmehr geht es um eine sachliche Darstellung einer unmoralischen Handlung. Wann ist aber eine Handlung absurd? Nun, eigentlich immer, wenn das, was geschieht, nicht im Sinne des Handelnden abläuft. Er blamiert sich. Das Kind in der Geschichte könnte sich als unreif für den Besitz zeigen, indem es sich am geklauten Messer schneidet oder sich am Feuerzeug verbrennt, ihm könnte auch schlecht werden, weil es zu viel von dem isst, was es gestohlen hat. Oder es fällt vom gestohlenen Pferd …

Eine andere Möglichkeit ist, dass sich das Kind selbst etwas durch den Diebstahl nimmt. Weil es Überraschungen liebt, hätte es sich sehr über den »Kalten Hund« gefreut. Nun hat es ihn geklaut – und die Eltern können das Kind nicht mehr mit seiner Lieblingsspeise überraschen. Bei all diesen Fällen muss das Kind die Sache mit sich selbst ausmachen. Es könnte aber auch sein, dass das Stehlen »öffentlich« wird. Dies könnte beispielsweise dadurch geschehen, dass sich das Kind etwas so Seltenes, Einmaliges angeeignet hat, dass jedem klar ist, dass ihm dieses Unikat nicht gehört. Oder das Kind könnte sich mit jemand anderem über den Besitz des gestohlenen Gegenstands streiten, wodurch Aufmerksamkeit entsteht. Die Möglichkeiten, eine Handlung ad absurdum zu führen, sind vielfältig!

Interessanterweise kann zum zwanghaften Stehlen das unbewusste Handeln gehören. Daher ist das Leugnen keine Bosheit, sondern es entspricht dem Bewusstseinszustand, in dem gestohlen wurde. Hüther erwähnt, dass alles, was von außen die innere Ordnung nicht stört, nicht wahrgenommen werde – das könnte erklären, dass das Stehlen oft unbewusst bleibt, geschieht es doch in Übereinstimmung mit der inneren Verfasstheit. Durch das Ad-Absurdum-Führen wird die Störung »erlebbar« gemacht – das Stehlen wird auffällig. Da in der Geschichte die Tat nicht toleriert, ja sogar lächerlich gemacht wird, kommt es zu einer Störung des bisherigen Zustands. Bei einer starken, »unkontrollierbaren« Störung spricht Hüther davon, dass sie eine »Neuorientierung und Reorganisation von bisherigen Verhaltensmustern« ermögliche. Allerdings kann eine Überforderung auch zum Aufgreifen alter Verhaltensmuster führen.

Heilung braucht Zeit

Wie bei allen Lernvorgängen reicht es nicht aus, solch eine Geschichte ein Mal zu erzählen. Erst die Wiederholung schafft die Möglichkeit, sich mit den durch sie vermittelten Werten und Prozessen zu verbinden. Das lässt sich so erklären, dass neuronale Verschaltungen – hier als physische Grundlage für das Handeln – durch häufige und intensive Aktivierung besonders gut herausgeformt und leichter aktivierbar werden, später auch ohne äußere sinnliche Wahrnehmung aus dem Gedächtnis. Das weist darauf hin, dass möglichst frühzeitig dieser therapeutische Weg eingeschlagen werden sollte. Natürlich muss Fritzi reif genug sein, um den moralischen Gehalt einer solchen Geschichte auch aufnehmen zu können. Doch selbst die Wiederholung reicht noch nicht aus – es braucht auch Geduld: »Heilung« über Geschichten ist ein langwieriger Prozess, durch den man oftmals »erst nach sehr langer Zeit etwas erreichen kann«, sagt Steiner selbst. Auch Hüther weist darauf hin, dass im Fall der Verarbeitung von Stressreaktionen Zeit nötig ist, was von Tagen oder Wochen bis zu Jahren reichen kann.

Fritzi hat aber Chancen, seine »Impulskontrollstörung«, wie der zwanghafte Trieb zum Stehlen auch genannt wird, erfolgreich anzugehen.

Zum Autor: Sebastian Jüngel ist Redakteur, Schriftsteller und Publizist. In seinen Geschichten »Auf Luzia fiel das Los« (2013) und »Luzia lernt kämpfen« (2015) wird auch Stehlen thematisiert.

Kontakt: juengel(at)gmx.ch

Literatur: S. Jüngel: Wirksame Geschichten bei Kleptomanie, Zeitschrift »Seelenpflege« Nr. 4/2015; G. Hüther: Die Macht der inneren Bilder, Göttingen 2010; ders.: Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn, Göttingen 2011; ders.: Biologie der Angst, Göttingen 2012; R. Steiner: Lucifer – Gnosis (GA 34); ders.: Die Kunst des Erziehens aus dem Erfassen der Menschenwesenheit (GA 311); ders.: Heilpädagogischer Kurs (GA 317)

Kommentare

Keine Kommentare

Kommentar hinzufügen

* - Pflichtfeld

Folgen