Übergänge in der frühen Kindheit
Der Begriff des Übergangs ruft unweigerlich Assoziationen hervor: ein Steg, eine Brücke über einen Bach, eine tiefe Schlucht oder ein reißender Strom. Sorge und Angst können sich vor der Überquerung einstellen, ob es gelingt, auf die andere Seite zu gelangen und wieder sicheren Boden unter den Füßen zu bekommen.
Übergänge begleiten den Menschen ein Leben lang. – Sie stehen am Anfang des Lebens und am Ende. Die Geburt ist ein Grenzerlebnis. Dieser erste große Übergang ins physische Dasein ist für das Kind, wie für die Mutter mit einer großen existenziellen Anstrengung verbunden. Hat das Kind das Licht der Welt erblickt, löst sich die Anstrengung in Erleichterung, Freude und Tränen auf. Für das Kind bedeutet diese Grenzüberschreitung eine völlige Neuorientierung – von der Schwerelosigkeit im Fruchtwasser zur Schwerkraft der Erde, vom Rundum-versorgt-Sein durch den mütterlichen Organismus zur eigenständigen Atmung und unabhängigen Blutzirkulation. Dies gelingt dem Neugeborenen, indem es sich an die Verhältnisse der Erde nach und nach anpasst – ein Kraftakt.
Das Kind nimmt eine Beziehung zu seinen Eltern und seinem Umfeld auf, lernt und bildet sich in Riesenschritten. Auch für die Eltern des Neugeborenen gibt es Herausforderungen. Zur Zweisamkeit eines Paares kommt ein Drittes hinzu, die Konstellation verändert sich. Aus der Dyade wird nun eine Triade, und für die nächsten Monate bestimmen die Bedürfnisse des Neugeborenen den Alltag des Paares.
Liebe und Freiheit
Jedes Kind bringt zwei grundlegende Bedürfnisse mit zur Welt. Das ist zum einen das Bedürfnis nach Anerkennung und Liebe, das sich primär in der Bindung zu den Eltern ausdrückt und entwickelt. Zum andern der Wunsch nach Selbstständigkeit, Unabhängigkeit und Freiheit. Diesen beiden Bedürfnissen kommt das Kind im frühen Alter im Wechsel zwischen Liegen und Schauen und später im freien experimentellen Spiel nach, durch das es beginnt, seine Umgebung zu erforschen.
Dafür braucht es Zeiten, in denen es ohne Anweisungen des Erwachsenen sein kann. Diese polaren Grundbedürfnisse sollten einen ausgewogenen Tagesablauf bestimmen, in dem der Übergang von einem Pol zum anderen Pol bewusst gestaltet wird.
Vorausgreifen und Zeit lassen
Übergänge im Tagesablauf sind für Eltern eine Herausforderung und manchmal auch mit großen Widerständen des Kindes verbunden. Dabei ist zu bedenken, dass das kindliche Gehirn sich innerhalb der ersten Jahre erst formt und ausbildet. Dies bedeutet, dass Kinder sich nicht sofort auf neue Situationen einstellen können, da die neurologische Reife fehlt. Damit das Kind sich besser in neuen Situationen und Übergängen zurechtfinden kann, hilft es ihm, rechtzeitig anzukündigen, was nun als nächstes geschehen wird. Das kann durch Blickkontakt, Ansprache, aber auch nur durch Gesten geschehen. Neugeborene und Säuglinge brauchen diese Vorbereitung. An der Mimik, der Körpersprache, dem Sprachklang orientiert sich der Säugling und lernt daran, zu verstehen, was mit ihm geschehen wird. Dies betrifft schon so einfache Handlungen, wie die Aufnahme des Säuglings aus dem Bettchen, das Stillen, Waschen oder den Windelwechsel. So gewöhnt sich der Säugling allmählich daran, sich immer wieder auf neue Situationen einzustellen. Geschieht dies immer in einer ähnlichen Art und Weise, erhält er Orientierung und Sicherheit.
Zu berücksichtigen ist auch, dass es dem Kind hilft, wenn der Erwachsene dabei nicht hastig oder planlos vorgeht, sondern ruhig und umsichtig.
Einschlafen und Aufwachen
Einer der schwierigsten Übergänge ist der vom Tag in die Nacht und umgekehrt. Das Kind bringt von sich aus keinen Tag-Nacht-Rhythmus mit. Es muss diesen erst lernen. Vielen Kindern fällt es schwer, loszulassen. Dabei mag vielleicht anfänglich eine Unsicherheit der Eltern eine Rolle spielen. In ihnen muss auch erst die Sicherheit wachsen, dass die Grundbedürfnisse des Kindes gestillt sind. Ist dies nicht der Fall, überträgt sich die latente Sorge der Eltern auf das Kind und das Einschlafen fällt schwer. Hilfreich für diesen wichtigen Übergang vom Wachen zum Schlafen sind Abläufe, die regelmäßig stattfinden und an denen das Kind lernt, sich zu orientieren. Nach der Abendmahlzeit mag das eine frische Windel sein, ein Schlafsack oder Schlafanzug, später das Waschen vor dem Zubettgehen und das Zähneputzen. Ein fester Schlafplatz ist zu empfehlen, denn wenn das Kind nachts an einem anderen Platz wach wird, als an dem, an dem es einschläft, ist es irritiert.
Es ist eine schöne Gepflogenheit, ein Schlaflied zu singen oder auch ein kleines Gebet zu sprechen. Ältere Kinder mögen eine kleine Geschichte hören, bevor das Schlaflied oder auch ein Gebet erklingt. Gelingt es dem Erwachsenen, gedanklich ganz anwesend beim Kind zu sein, zu hören, was es eventuell noch mitteilen möchte, fühlt es sich gesehen und verstanden.
Kleine Rituale und Lieder reichen aus, um dem Kind Geborgenheit und Sicherheit zu geben. Je jünger das Kind, desto kürzer ist das Ritual. Das verändert sich mit zunehmendem Alter, aber das Ritual, das den Übergang begleitet, sollte eine Hilfe, eine Brücke zu einem anderen Bewusstseinszustand sein.
Das Aufwachen aus dem Schlaf bedeutet Neuorientierung im Hier und Jetzt für das Kind. Es gibt Kinder, denen das Ankommen sehr schnell gelingt und die ihre Eltern beim Aufwachen schon blitzwach begrüßen. Andere wiederum brauchen lange, um zu sich zu kommen, sich zu orientieren und wieder Anschluss an die irdischen Verhältnisse zu finden.
Da entsteht oftmals der Eindruck, dass diese Kinder noch in einer anderen Welt sind. Auch hier helfen Brücken. Manche Kinder brauchen ganz schnell etwas zu essen oder zu trinken, andere wiederum möchten für sich sein und erst einmal in Ruhe spielen.
Gelingt es dem Erwachsenen, diese individuellen Bedürfnisse wahrzunehmen, kann er das Kind beim Aufwachen und Eintauchen ins Tagesgeschehen gut begleiten. Ebenso wie beim Einschlafen geben gleiche Abläufe beim Aufstehen, wie das Wechseln der Kleidung, das Waschen, Zähneputzen und Kämmen der Haare, dem Kind Halt und Orientierung.
Abschiednehmen
Der Abschied und die Trennung, die Bereitschaft, sich auf neue Beziehungen und Erfahrungen einzulassen, sind eng verknüpft mit der eigenen Biographie. Übergänge bedeuten immer einen Bruch mit Vertrautem und lieb Gewonnenem. Die gewohnte Sicherheit wird für etwas Neues, Unbekanntes aufgegeben, an der Grenze zum »Neuland« steigt die Sensibilität. Viele Kinder erleben heute ihre Kindheit als eine Abfolge außerfamiliärer Betreuungsformen. Das beginnt mit der Krippe, geht weiter mit dem Kindergarten und in der Schulzeit folgt der Hort. Ein wesentlicher Teil der Kindheit findet in solchen Betreuungseinrichtungen statt. Neben äußeren Übergängen – wie zum Beispiel Umzug, Trennung der Eltern – bilden die Übergänge in der Betreuungs- und Bildungsbiographie eine zusätzliche Herausforderung für das Kind.
Ein erster großer Schritt findet mit dem Übergang von zu Hause zur Tagesmutter, in eine Krabbelgruppe oder eine Krippe statt. Das bedeutet für das Kind und die Eltern eine große Veränderung im Alltag. Die Triade muss um neue Beziehungspersonen erweitert werden. In allen Beteiligten ruft das Unsicherheit hervor, da Vieles in der neuen Situation unbekannt ist. Die Beziehung zu den Betreuern muss sich erst bilden. Das Kind lernt schrittweise, mit dem Trennungsschmerz umzugehen. Auch die Eltern müssen lernen, mit ihrer Verlustangst zurechtzukommen und nach und nach Vertrauen in die Bezugspersonen und das neue Umfeld erwerben.
Trennung und Neubeginn
Steht der Übergang in eine außerfamiliäre Betreuung an, ist es für Eltern hilfreich, alle Fragen, die sie bezüglich der Krippe oder Tagespflege haben, aufzuschreiben und mit den neuen Bezugspersonen zu besprechen. Bei diesem Loslassen ist es wichtig, auch eigene Ängste und Sorgen anzusprechen. Sobald alle Zweifel ausgeräumt sind und eine eindeutige, klare Entscheidung für die Betreuung außerhalb der Familie gefallen ist, unterstützt dies das Kind bei der Eingewöhnung. Die innere Haltung der Eltern spielt eine große Rolle, da das Kind in diesem Alter emotional noch sehr mit ihnen verbunden ist, insbesondere mit der Mutter. Steht diese zu ihrer Entscheidung, fällt es dem Kind leichter, sich in der neuen Situation zurecht zu finden. Ein schlechtes Gewissen der Mutter trägt nicht zum Gelingen der Eingewöhnung bei.
Begleiten Mutter oder Vater die Eingewöhnung aktiv, wirkt sich dies positiv auf die Trennung und den Neubeginn aus. An der Hand seiner Eltern kann das Kind mit der neuen Umgebung vertraut werden. Es kann anfangs immer wieder in den »sicheren Hafen« zurückkehren. Auch die neue Bezugsperson kann das Kind beobachten und seine Bedürfnisse gut kennenlernen. Hilfreich ist in dieser Phase, dass vertraute Dinge wie ein Schnuller, Schmusetuch, Stofftier oder eine Puppe dabei sind. Der Austausch darüber, was in bestimmten Situationen das Kind tröstet, trägt ebenfalls zur Vertrauensbildung bei. Es spürt intuitiv, dass die Erwachsenen in einem gemeinsamen Prozess Klarheit und Vertrauen vermitteln. Wenn es erleben kann, dass die Eltern verlässlich nach der Trennung zurückkehren, lernt es, mit seinem Trennungsschmerz immer besser umzugehen. Deshalb ist das Einhalten der ersten Trennungszeiten äußerst wichtig, damit das Kind keine Enttäuschung erlebt.
Eingewöhnungsprozesse verlaufen sehr individuell und richten sich nach den Bedürfnissen des Kindes und der Familie. Dabei ist es eine große Hilfe, Eltern über das Eingewöhnungskonzept vorab zu informieren und mit ihnen zu besprechen, welche Aufgaben und welche Rolle jeder Beteiligte in diesem gemeinsamen Prozess übernimmt.
Zur Autorin: Marie-Luise Compani ist Krankenschwester, Waldorferzieherin, Dozentin und systemische Beraterin.
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