Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute. Zur salutogenetischen Wirkung von Märchen

Von Almut Tobis, April 2018

Das freie Märchenerzählen, das heute vorwiegend für Kinder praktiziert wird, wurde im Jahr 2016 von der UNESCO in das Verzeichnis der immateriellen Kulturgüter aufgenommen. Und doch – immer mehr Kinder zeigen eine wachsende Verarmung ihrer Phantasiekräfte. Computerspiele, Filme und andere durch digitale Medien vermittelte Inhalte ersetzen zunehmend das Vorlesen oder freie Erzählen von Geschichten. Was können Märchen zu einer gesunden Entwicklung der Kinder beitragen?

Schauen wir um einige Jahrhunderte in der Geschichte zurück, bevor es digitale Medien gab und als noch weite Teile der Bevölkerung Analphabeten waren. Die Menschen haben damals sich selbst und ihren Kindern mit mündlich tradiertem Erzählgut (Märchen, Sagen und Legenden) die Zeit vertrieben. Auch längst bekannte Erzählstoffe wurden für Jung und Alt immer wieder von Neuem gestaltet: Der bereits bekannte Inhalt wurde durch die Atmosphäre wiederkehrend verlebendigt. Hierdurch wurde die zentrale Handlungsbotschaft der Erzählung in den Mittelpunkt gerückt.

Was geschieht in unserer Phantasie beim Lauschen einer Erzählung?

Wir gestalten beim Zuhören die im Volksmärchen gerüsthaft gezeichneten Menschen, Dinge und Tiere individuell aus. Die gegebenen Hinweise färben wir subjektiv ein und malen das Geschehen mit vielen kleinen Details aktiv aus, die unserer Phantasie entspringen. Den Figuren geben wir eine individuelle Stimme mit einer passenden Tonlage, Lautstärke und stellen uns den entsprechenden Gesichtsausdruck dazu vor. Wir sind die Schöpfer dieser Welt, die ganz unsere eigene und doch eine allgemeingültige ist. Wie fade ist es, wenn wir zum Beispiel einem Märchen lauschen, von dem wir schon einmal eine Verfilmung gesehen haben. Unausweichlich steigen dann immer wieder die bereits gesehenen Bilder in uns auf.

Märchen fordern aktiv die eigene Phantasie heraus, die sich vor allem in der Wachstumsphase positiv auf die Gehirnentwicklung auswirkt (Neuroplastizität), das heißt, die Förderung der Phantasiekräfte unterstützt nicht nur die Entwicklung eines kreativen Denkens, sie ist auch rein physisch an einer gesunden Entwicklung des zentralen Nervensystems beteiligt.

Die Sicht auf das Leben und wie sie durch Märchen geprägt wird

Der Erzählstoff der Haus-und Volksmärchen führt seine Zuhörer in die ganze Bandbreite an Urbildern des menschlichen Seins ein: z. B. in die Polarität von Leben und Tod, was Liebe und Hass sowie Schuld und Vergebung (im Unterschied zu Rache) bedeuten. Kinder werden durch den Themenkatalog der Märchen vorbereitet auf all jene Phänomene und Fragen, die das spätere Leben in sich birgt.

Das Entscheidende ist, dass hier, ohne zu moralisieren oder das Kind auf der Verstandesebene anzusprechen, moralisches Handeln vermittelt wird. Stets siegt das Gute über das Böse, das durch die Handlung bestraft wird. Ein offenes Ende gibt es nicht im Märchen, es ist stets zielführend. Die klare und verlässliche Ordnung der Welt wird zuletzt immer wiederhergestellt.

Den Zuhörern gibt das Märchen damit eine innere Orientierung, die verlässlich ist und Halt gibt, ein Grundvertrauen in das moralisch Gute kann sich entwickeln.

Die Figuren im Märchen sind meist wenig individualisiert und kommen Typisierungen gleich. Zuweilen tragen sie auch keine Namen im eigentlichen Sinne. Häufig bringt der Name die Rolle des Protagonisten innerhalb der Handlung zum Ausdruck (»Der Dümmling«, »Das tapfere Schneiderlein« etc.). Zentral und weitgehend allen mündlich tradierten Märchen gemeinsam ist ein zentraler Konflikt, den die Hauptfigur selbständig löst. Hieraus geht ein Handlungswandel hervor, der meist an die inneren Fähigkeiten oder Tugenden des Protagonisten geknüpft ist: z. B. dessen Durchhaltevermögen oder seine innere Unschuld.

Hieraus kann der Zuhörer nicht nur Vertrauen in das Leben ableiten, sondern auch in sich selbst: Die Hauptfigur im Märchen kann für das zuhörende Kind zum Vorbild werden für die Fähigkeit, sich innerlich zu wandeln, durchzuhalten, für das Gute zu kämpfen etc. Zum Vertrauen in das Leben kommt das Vertrauen in sich selbst und in die eigenen Möglichkeiten hinzu.

Die Salutogenese wendet sich – im Gegensatz zur Pathogenese – der Frage zu, wie Gesundheit entsteht. Antonovsky hat aufgezeigt, dass eine hoffnungsvolle Grundüberzeugung vom Leben, wie sie Märchen vermitteln, Menschen tendenziell (seelisch und körperlich) gesünder bleiben lässt.

Stimmung schaffen

Die moralische Ordnung des Märchens findet ein Abbild im klar gegliederten Aufbau sowie in der Tatsache einer überschaubaren, einsträngigen Handlung; das Kind kann somit das Geschehen gut verfolgen. Würde die Handlung aus mehreren Strängen bestehen, so würde dies gerade kleine Kinder leicht überfordern.

Diese innere Ordnung der Handlung können wir fortsetzen, indem wir beim Vorlesen oder Erzählen eine überschaubare Situation schaffen. Äußere Reize (z. B. Geräusche durch andere Personen oder Musik im Hintergrund) sollten möglichst vermieden werden.

Je tiefer man als Vorlesender oder Erzähler die im Text vermittelte Stimmung in sich fühlt und ausmalt, desto stärker werden die lauschenden Kinder davon erreicht. Insofern werden wir als Erwachsene durchaus zu Co-Regisseuren. Auch unruhige Kinder lassen sich nur dann erreichen und können der Handlung folgen, wenn durch die Stimmung eine Gemeinschaft zwischen Zuhörern und Erzähler entsteht. Dann gibt es keine Zwischenrufe der Kinder wie »das Märchen kenne ich aber schon«. Die lauschenden Kinderohren wollen vielmehr immer wieder neu in die Atmosphäre der Geschichte mit hineingeholt werden: in die Handlung, in der eine Spannung aufgebaut wird und allmählich bzw. schlussendlich alles gelöst und erlöst wird.

Vor diesem Hintergrund sind auch die viel kritisierten Grausamkeiten der Märchen in einem anderen Licht zu sehen: Mit dem Verbrennen der Hexe in »Hänsel und Gretel« wird kein Individuum hingerichtet, sondern das Böse wird vernichtet und die Unschuld von Hänsel und Gretel gerettet. Assoziieren wir als vorlesende Erwachsene hingegen damit reale Grausamkeiten, so fließen unsere Assoziationen in die vermittelte Stimmung mit ein und können sich den lauschenden Kindern mitteilen.

Das Vorlesen als Lebensgestaltung

Wenn wir gleichsam in einem Ritual regelmäßig Märchen erzählen oder vorlesen, so vermitteln uns diese Zeitfenster die Erfahrung, dass das Schöne und die Entspannung verlässlich im Leben stets wiederkehren. Erlebtes kann verarbeitet, Zukünftiges kann geplant werden.

So wie der Mensch durch die Beziehung zu Eltern oder anderen Bezugspersonen Urvertrauen erlernen kann, so kann er ein Grundvertrauen in das Leben selbst entwickeln, wenn verlässlich wiederkehrend auf Anspannung und äußere Aktivitäten ein Ruhepol folgt.

Die wechselnden Jahreszeiten und ihre Feste regen dazu an, regelmäßige Zäsuren zu schaffen, um Märchen zu erzählen oder vorzulesen. Rhythmus im Alltag und künstlerisch-phantasievolle Betätigung tun auch Erwachsenen gut und sind die beste Vorbeugung dagegen, vom Leben ausgebrannt zu werden. Das »immaterielle Kulturgut« des Märchenerzählens ermöglicht für Jung und Alt, den Glauben an das Leben immer wieder neu zu entwerfen und sich daran aufzubauen.

Zur Autorin: Almut Tobis ist Ärztin, niedergelassen in eigener Praxis und schulärztlich tätig an der Freien Waldorfschule Vaihingen/Enz.

Literatur:

A. Antonovsky: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, Tübingen 1997 | B. Bettelheim: Kinder brauchen Märchen, München 2002 | G. Hüther: Was wir sind und was wir sein könnten, Frankfurt a.M. 2011 | www.unesco.de/kultur/immaterielles-kulturerbe/bundesweites-verzeichnis/eintrag/maerchenerzaehlen.html

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