Veränderte Kindheit oder veränderte Kinder?

Von Elke Rüpke, März 2017

Kinder verändern sich mit der Gesellschaft, in der sie aufwachsen. Das zeigt sich deutlich, wenn man die heutigen Kinder mit früheren Generationen vergleicht. Doch worin bestehen diese Veränderungen? Elke Rüpke vom Waldorferzieherseminar in Stuttgart fasst Beobachtungen von Waldorf-Erzieherinnen und -Erziehern zusammen.

Foto: © southnorthernlights/photocase.de

Kleine Individualisten

Viele Kinder ruhen heute weniger in sich, haben weniger Ausdauer und sind körperlich haltloser. Sie rutschen im Stuhlkreis vom Stuhl lehnen sich an oder wollen auf dem Schoß der Erzieherin liegen. Zunehmend gebrauchen Kinder ihre Hände nicht, zum Beispiel beim Ausziehen von Schuhen in der Garderobe; Schuhe und Stiefel werden einfach abgeschüttelt. Beim Tätigsein bemerkt man, dass die Nachahmungskräfte der Kinder tendenziell schwächer ausgeprägt sind als früher. Fingerspiele, Lieder und Reigen-Gesten werden weniger spontan und selbstverständlich mitvollzogen, viele Kinder stehen eher beobachtend dabei. Auch haben mehr Kinder als früher Schwierigkeiten damit, von selbst in ein freies Spiel zu kommen.

In einer geführten Beschäftigung verweilen sie oft nicht lange, sondern fordern schnell neue Anregung. Gleichzeitig sind sie empfindlicher und feinfühliger, sowohl in Bezug auf den eigenen Körper als auch im Seelischen und im Sozialen. Manche zeigen plötzliche Stimmungsschwankungen und suchen seelischen Halt beim Erzieher. Einige wirken gar durchgängig kummervoll. Intellektuell dagegen sind die meisten sehr aufgeweckt bis hin zur Frühreife. Sie zeigen mehr Eigenwillen als früher und äußern sich ihren Eltern gegenüber deutlich respektloser. Kinder zeigen sich schon von klein auf als Individualisten.

Die Waldorfpädagogik versteht den Menschen als Gesamtzusammenhang von Körper, Seele und Geist, der sich im Ineinanderwirken von vier »Wesensgliedern« zeigt: der sichtbare Körper (»physischer Leib«) ist von Lebenskräften durchdrungen (»Ätherleib«), beide vom Träger des seelischen Empfindens (»Astralleib«) und der jeweiligen Individualität (»Ich«). Aus diesem Blickwinkel lassen sich in den beobachteten Phänomenen Veränderungstendenzen in allen vier Wesensgliedern finden: eine geringere Verankerung im Körperlichen, weniger Kraft im Ätherischen, eine größere Offenheit und Sensibilität im Seelischen und in der Wahrnehmung, und eine in früherem Alter sich zeigende Ausprägung der Individualität.

Gesellschaftliche Veränderungen

Betrachtet man den Wandel, den unsere Gesellschaft seit den 1960er Jahren durchläuft, überraschen diese Veränderungen nicht. Um nur einige Aspekte zu nennen:

• Durch das Vordringen technischer Geräte in nahezu alle Bereiche unseres Lebens müssen wir kaum noch körperlich tätig sein und uns nicht mehr viel bewegen, um unseren Alltag zu bewältigen. Die stabile Verankerung der Individualität im Körper durch körperliche Tätigkeit und eigenständige Bewegung, die früheren Generationen durch ihre Lebensverhältnisse ermöglicht wurde, ist heute nicht mehr automatisch gegeben.

• Nahezu alle lebensnotwendigen Güter werden maschinell hergestellt oder verarbeitet. Auch die Mühen der Freizeitgestaltung werden uns oft durch Maschinen in Form von technischen Medien abgenommen. Ebenso kommen viele der Wissensbestände und Informationen auf dem Weg durch die Medien zu uns. Damit kommen sogenannte Primärerfahrungen, also vielfältige Sinneserfahrungen in natürlichen Zusammenhängen, seltener vor. Erlebnisse durch Eindrücke im Sehen und Hören sind durch die Unterhaltungs- und Informationsmedien leichter zugänglich geworden, müssen aufgrund ihrer Anzahl aber auch schneller verarbeitet werden und vertiefen sich weniger bis in den ganzen Körper hinein, weil weniger Sinne an der Wahrnehmung beteiligt sind. Die qualitativen Unterschiede zwischen der Wahrnehmung von Eindrücken aus erster Hand – wie zum Beispiel bei einem Waldspaziergang – oder künstlich erzeugter Eindrücke – zum Beispiel durch einen Naturfilm – liegen auf der Hand.

So kommt es in der täglichen Erfahrung nicht mehr selbstverständlich zu einer Verknüpfung und Wechselwirkung von Handeln und Wahrnehmen, wie es zum Beispiel beim Kochen, Backen, Waschen und Putzen von Hand, beim Wandern, eigenen Musizieren oder beim Austausch von Neuigkeiten der Fall ist.

• Das Leben in der Familie hat sich in den vergangenen Jahren in vielen Fällen geändert. Die veränderte Rolle der Frau und der zunehmende finanzielle Druck im Berufsleben im Zusammenhang mit hohen Lebenshaltungskosten bringen es mit sich, dass Mütter früh wieder berufstätig sind oder es bleiben. Für immer mehr Kinder bedeutet das früh einsetzende und oft auch im Schulalter den ganzen Tag lang andauernde Betreuung außerhalb der Familie mit wechselnden Bezugspersonen. Sie sind in diesen wechselnden Betreuungssettings stärker auf sich selbst verwiesen, als in gleichbleibenden Rahmenbedingungen. Sie werden dadurch notgedrungen wacher für die Verschiedenheit von Menschen.

• Der berufliche Leistungsdruck wirkt heute deutlich bis in die Zeitgestaltung der Familien hinein. Zuverlässige rhythmische Abläufe im Familienleben, die die Lebenskräfte stärken, sind unter diesen Umständen weit schwerer zu erreichen, als früher.

• Eine freiere Gesellschaft führt zu vielfältigen Familienformen. Gleichzeitig sind aber auch die Erwartungen an eine verantwortungsvolle Elternschaft gestiegen. Eltern wissen heute viel mehr über pädagogische Zusammenhänge, was zu veränderten Erziehungszielen und -stilen geführt hat. Die Eigeninitiative des Kindes erfährt heute deutlich mehr Anerkennung, und viele Eltern bemühen sich eher um die Förderung der Persönlichkeit als um deren Formung, wie es früher zum Beispiel durch Höflichkeitsregeln der Fall war. Das gewachsene Bewusstsein für pädagogische Zusammenhänge bringt aber gleichzeitig bei vielen Eltern eine größere Erziehungsunsicherheit mit sich. Eltern früherer Generationen, die sich an Traditionen orientieren konnten, hatten es da deutlich leichter.

• Dass in unsicherer werdenden wirtschaftlichen Verhältnissen der Leistungs- und Konkurrenzdruck auch in die Bildung Einzug gehalten hat, ist nicht nur in den Schulen zu spüren. Oft werden schon früh individuelle Förderung und Freizeitförderangebote wahrgenommen. Das wiederum grenzt die Zeit ein, die Kindern für ein freies Spiel noch zur Verfügung steht: Schon kleinere Kinder erleben das Diktat des Terminkalenders.

Gefühle rücken ins Zentrum

Darüber hinaus zeigen immer mehr Kinder im Kindergartenalter veränderte Verhaltens- und Reaktionsweisen, die weniger auffällig sind; sie werden von den Kindern manchmal nur dem feinfühlig-aufmerksamen und wertschätzenden Beobachter gezeigt. Sie stehen oft im Hintergrund eines »störenden Verhaltens« oder zeigen sich unmittelbar als Stärke. Dazu gehört die Fähigkeit, die seelische Verfassung ihres Gegenübers wahrzunehmen, Gefühle oder etwaige Spannungen zu spüren und diese auch zu benennen oder das Vermögen, die eigenen Gefühle sprachlich auszudrücken. Im praktischen Handeln zeigt es sich bei einzelnen oft erst dreijährigen Kindern während der Eingewöhnung in den Kindergarten in der versteckten Weisheit und liebevollen Umsicht, mit der sie ihren Müttern signalisieren, dass sie beruhigt gehen können, wenn sie sich nicht recht vom Kind zu trennen trauen. Man kann mitunter bei manchen Kindern den Eindruck haben, dass sie in dieser Hinsicht die Verantwortung für ihre Eltern übernehmen. Mit der verstärkten Empathiefähigkeit geht eine ausgereiftere Konfliktfähigkeit einher bis hin zu besseren Möglichkeiten, Konflikte zwischen Kindern selbstständiger und umsichtiger zu schlichten. Generell erscheint die Liebefähigkeit oft intensiver als früher.

Andererseits zeigt sich bei manchen Kindern eine im Vergleich zu früher bessere Fähigkeit, sich selbst vor Überforderung zu schützen, zum Beispiel, wenn ein Kind sich im Kindergarten bei zu viel Lärm und Trubel gezielt einen Rückzugsort sucht. Im Umgang zwischen Kind und Erzieher ist zu bemerken, dass die Kinder eine individuelle Beziehung zu den Betreuungspersonen und im Kontakt mit ihnen eine Begegnung »eins zu eins« suchen. Wird die Erziehungsautorität aber »als Amt« ausgeübt, so schrecken manche geradezu davor zurück. Die spontan im Alltag geäußerten Fragen und Überlegungen der Kinder zeigen häufig eine größere gedankliche Tiefe. Ausgeprägter finden sich auch Gerechtigkeits- und Wahrheitssinn. Ungerechtigkeiten werden deutlicher wahrgenommen und benannt und Wahrhaftigkeit klarer eingefordert.

Viele Kinder zeigen im Rahmen des Kindergartenalltags große Bereitschaft zu selbstständigem kompetentem Handeln, zum Beispiel im Übernehmen kleiner Aufgaben, und oft auch die Fähigkeit dazu. Gegenüber der Notwendigkeit, sich auf neue Gegebenheiten einzustellen, zeigen sie oft größere Flexibilität als viele Kinder früherer Generationen. Spitzt man diese Beobachtungen auf die Frage zu, welche Bedürfnisse von Kindern sich in diesem Verhalten zeigen, so könnte man sagen: sie suchen

• feinfühligen Umgang miteinander

• bewusste Begegnung, das Gefühl, wahrgenommen zu werden und individuelle Anerkennung

• authentische, ehrliche und gerechte Vorbilder

• die Möglichkeit, auch tiefere, immaterielle Zusammenhänge erfragen zu können

• Freiräume für Eigenwillen und eigenverantwortliches Handeln.

Diese Aspekte beziehen sich weniger auf Auffälligkeiten im Physisch-Ätherischen wie bei den eingangs genannten Phänomenen, als vielmehr auf den Bereich des Seelisch-Geistigen. Auffällig ist dabei, dass die genannten Phänomene in gesteigerter Form als typisch für das Jugendalter angesehen werden können: zunehmende gedankliche Tiefe, Sensibilität für Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit, Abneigung gegenüber amtlich ausgeübter Autorität, Suche nach Selbstbestimmung. Fragt man nach möglichen Ursachen, können diese Beobachtungen zunächst auch aus veränderten gesellschaftlichen Bedingungen erklärt werden: In einer Welt der Individualisierung kann sich auch die kindliche Individualität früher und selbstbewusster zeigen. Wenn in Familien die Einfühlung in die Bedürfnisse des Kindes Raum bekommt, kann sich auch beim Kind die Fähigkeit der Empathie entfalten. Hier wirkt bekanntermaßen das Prinzip von Vorbild und Nachahmung. Doch diese Erklärung reicht nicht. Denn wenn ein Kind in frühestem Alter häufig sich ändernde Rahmenbedingungen durch die außerfamiliäre Betreuung erlebt, wird es nicht zwangsläufig flexibler im Umgang mit diesen Veränderungen: Wie die Bindungsforschung nachweisen konnte, führt die Erfahrung unsicherer primärer Bindungen gerade nicht zu souveränem Umgang mit Veränderungen und größerer sozialer und emotionaler Kompetenz, sondern im Gegenteil zu verstärkter und lang anhaltender Verunsicherung und Destabilisierung der Persönlichkeit in ihrem gesamten Verhalten.

Ich ziehe daraus die Schlussfolgerung, dass die genannten Fähigkeiten zu großen Teilen – wenn sie nicht »altklug« und aufgesetzt oder wie einstudiert daherkommen – eine gewisse »mitgebrachte« geistig-seelische Reife beim Kind voraussetzen, die sich nicht allein aus den gesellschaftlichen und familiären Bedingungen herleiten lässt. Könnte es sein, dass sich heutzutage das Wesensglieder-Gefüge bei Kindern anders zu entwickeln beginnt? Und wenn ja, welche Folgen kann es haben, wenn die seelisch-geistige Entwicklung nicht mehr sukzessive auf eine stabile Verankerung im Körperlichen und in den Lebenskräften aufbauen kann, sondern schon früher einsetzt?

Vom Handwerk zur Kunst

Neu sind die genannten Aspekte nicht. Mein Fazit aus diesen Überlegungen ist die Überzeugung, dass die Kinder uns mit ihrem Verhalten zu einem Entwicklungsschritt auffordern: Wir sollten, um den Kindern gerecht zu werden, spätestens jetzt von der Waldorfpädagogik, die wie ein Handwerk nach einmal gelernten, festen Regeln praktiziert wird, zur Waldorfpädagogik als Erziehungskunst kommen: auf der Grundlage der pädagogischen Grundprinzipien diese nun geistesgegenwärtig, kreativ, im wachen Miteinander zwischen allen Beteiligten in der jeweils gegebenen Lage nach eigenem situativem Ermessen beweglich anwenden und weiterentwickeln. Verstehen wir die Herausforderungen des pädagogischen Alltags als Entwicklungsaufgabe!

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