Vergangenheit – Kindheit – Zukunft

Von Bernhard Hanel, April 2021

Ein sozialkindlicher Essay, handelnd von Augenblicken, Schmetterlingen und der (un-fassbaren) Blindheit der Erwachsenen.

»Die Kinder sind der Fortschritt selbst – vertraut dem Kinde.«

Rainer Maria Rilke

Ein Augenblick. Nicht der Augenblick der Zeit, der Augenblick eines Kindes. Glücklich strahlende Augen. Gewissheit, alles ist gut und richtig. Die Welt spiegelt sich in diesen Augen und ist eins mit dem Kinde. Auch wenn es zuweilen verweinte, traurige, wütende Augen sind. Schaut man in die Augen eines Kindes und schauen diese einen aufrichtig an, so blickt man in eine uralte, weise Vergangenheit und gleichzeitig, also gegenwärtig, in die geheimnisvolle Zukunft. »Was war« und »Was kommt« wird zum »Was ist«. Es sind diese Begegnungen mit Kindern, die einem unmittelbar den Sinn des Lebens – nicht nur des eigenen, nein, des Lebens im Allgemeinen – klar machen.

Kinder sind am meisten Kind, wenn sie spielen. Mit ihren liebgewonnenen und immer neu geliebten Spielkameraden: anderen Kindern, Hölzern, Blumen, Matsch, Wasser und Sand – der Welt eben. Hier verbinden sie sich, sind angebunden an all das Lebendige, das sie umgibt und dessen Teil sie sind. Ihr so wichtiges Zukunftsgepäck wird in diesem Spiel eingesammelt. Eichhörnchen sammeln Nüsse vor dem Winter, Kinder Momente der Begegnung, des Aufnehmens, des Begreifens für ihr Leben. All die Schätze können gesammelt werden, wenn … Ja, wenn die Erwachsenen ihnen die Räume, die Gelegenheiten, die Freiheiten, die Begleitung, das Rüstzeug, die Liebe geben, die sie dafür brauchen – und wenn sie die nötige Distanz wahren, die es ebenfalls braucht. Das ist Aufgabe des erwachsenen Menschen, der aus der Welt der Kindheit verstoßen wurde, wie einst Adam und Eva aus dem Paradies. Das ist, wie Rilke sagte, die vornehmste Aufgabe überhaupt. Dem Kind zu dienen, damit es gut gerüstet ist, mit einem Rucksack voller Erfahrung, um in der Welt außerhalb des Paradieses, außerhalb der Kindheit, bestehen zu können und bereit zu sein, den Zauber dieser Zeit mitzunehmen und damit die Welt schöner, besser zu machen.

Das alles klingt für manche Ohren romantisch, fast kitschig, überhöht. Kindheits-Romantik. Die Poesie der Kindheit rührt einen, macht die Herzen warm, bleibt aber doch seltsam folgenlos. Warum? Warum lassen wir, die Verstoßenen, uns hier nicht leiten von der Erinnerung an die eigenen Kindheitstage – ob geglückt oder nicht – und in dem Wissen, dass Zukunft alleine darin liegen kann, diesem heranwachsenden Leben den Weg zu bereiten. Nicht als Anführer, als Besserwisser und gar als Lehrer. Nein – bloß als Begleiter, als liebevoller Weggefährte. Und nun offenbart die Pandemie auf nahezu grausame Weise, wie es mit uns als den Wegbegleitern bestellt ist. Nicht dass dies erst seit der Pandemie so wäre. Nein – diese Pandemie legt die ganze Misere auf ein Silbertablett: »Schaut, wie es bestellt ist um euch.« »Schaut in euren Spiegel.«

Obwohl die Beschäftigung mit »der Kindheit« seit einiger Zeit salonfähig ist, es unzählige Ratgeber gibt, wie man diese erste Zeit am besten zu organisieren hätte, unzählige Profis sich um das »Kind-Sein« kümmern und es einen riesengroßen Markt für unnützes »Kindheits-Zeug« gibt – ist die Unfähigkeit geblieben, Kindheit als das Schützenswerteste und damit Wertvollste, das wir haben, anzuerkennen – ist sie doch gefährdet oder nie wirklich gemeint gewesen.

Und was tun wir? Ja, was sollen und können wir, die Erwachsenen, auch tun, so ganz entkoppelt von dem Eigentlichen, Wesentlichen? Aus der Kindheit sind wir verbannt und treiben meist ahnungslos umher, hauptsächlich damit beschäftigt, uns von unserem Versagen abzulenken. Wozu sonst der ganze Luxus, wozu diese dekadente Art des Materialismus? Wozu in viel zu schnellen, völlig unsinnigen Autos durch die Gegend rasen, wozu auf viel zu großen Schiffen über die Meere reisen, wozu Armeen aufrüsten, um sich gegen die jeweils andere Dummheit zu wehren und vieles, vieles, vieles mehr? Schulen, deren Hauptfach das »Durchkommen« ist und deren einzige Bestrebung der allgemein gültige Abschluss ist: sollte Schule nicht vielmehr einen Aufschluss liefern, ein Aufschließen der jungen Erwachsenen, damit sie die Welt gestalten? Wie oft sind doch Schulen nur Abschluss- und Aufbewahrungsorte statt Aufschluss-Orte? Wie soll sich ein Kind seinen Rucksack mit wertvollen Erfahrungen packen, wenn es im frühen Kindesalter einen Manager vorgesetzt bekommt, der ihm sagt, wann es noch eine Lücke gibt, um zu spielen, um Kind zu sein? So viele bemühte und sicherlich zum Teil auch ehrlich – oder sollte man sagen herrlich – bemühte Erwachsene. Aber doch so viel Versagen und Versprechen.

Anstatt das Kind und sein Wohl an die allererste Stelle zu setzen und alles zu tun, damit es für das Kind gut ist, wird es eingereiht – das ist in der jetzigen Pandemie besonders verheerend – in all die anderen, zugegeben auch wichtigen, aber nicht alles entscheidenden Fragen. Wann können Restaurants und Läden wieder öffnen? Wann kann ich wieder auf Reisen gehen? Wann wieder das geliebte Spiel der Lieblingsmannschaft anschauen? Wie schütze ich die alten Menschen? Die Betriebe? Die Menschen in den Krankenhäusern? Mich selbst? Und das Kind? Es macht, wie es sein Wesen ist, vorerst einfach mit. Es will dabei sein – auch, wenn es dabei seine ganzen Bedürfnisse noch mehr unterdrücken muss als sonst. Und unterdrückte Bedürfnisse füllen den Lebensrucksack mit schweren Steinen statt mit Schmetterlingen, und die Steine wird man so schnell, wenn überhaupt, nicht wieder los.

So kann Zukunft nur misslingen. Welche Ideen wir auch haben, egal auf welchem gesellschaftlichen Feld: der Wissenschaft, um mit moderner und kluger Technik die Natur zu retten, dem pädagogischen Feld, auf dem nach neuen Formen (nicht nur innerhalb der heilsversprechenden digitalen Lernwelten) gesucht wird, dem politischen und rechtlichen Feld, wo es Ansätze gibt wie die Gemeinwohl-Ökonomie, die Transition-Town-Bewegung, das bindungslose Grundeinkommen – und vieles mehr. All diese Ideen werden scheitern, werden erst gar nicht wirklich aufkommen, wenn da nicht junge, für ihr Leben gut gerüstete Menschen sind, die diese Ideen aufgreifen, mit Leben füllen und auf ihre Weise tragfähig machen. All unser Bemühen bleibt eben ein Bemühen, wenn wir die Aufgabe, aufrichtige Reisebegleiter der Kinder in ihre Biographie zu sein, nicht an die erste Stelle rücken. Was ist eine Marslandung gegen vom Spielen im Matsch verdreckte Kinderhände? Welchen Wert hat das schnellste Internet, wenn ich die gelebten Augenblicke mit dem Kinde nicht mehr wahrnehmen kann? Es ist allem voran die reale Gegenwart und nicht die digitale Gleichzeitigkeit der Ereignisse, die wir brauchen, um in Resonanz mit dem Lebendigen zu treten. Erst, wenn wir wieder hier anknüpfen, können wir darüber sprechen, was es heißt, Leben zu schützen.

Könnte ein Kind im klassischen Sinne plädieren, so würde es sich auf einen Stein, in die Astgabel eines Baumes, auf einen Sandhügel stellen und uns Erwachsenen zurufen: »Bemüht euch nicht weiter. Versucht nicht, alles gut, besser, schneller zu machen. Richtet euch nach uns. Wir sind noch nicht verstoßen. Wir erzählen euch noch die Geschichte vom Paradies, von der Kindheit. Wenn ihr uns nur lasst. Was wir von euch brauchen, ist eure Liebe, uns ganz in unserem Eigen-Sinn aufwachsen zu lassen, uns Wissen zu vermitteln, das wir be-greifen können. Und wir brauchen Freude, Mut, Verwegenheit und alle von euch gecharterten Schutzengel. Was wir nicht brauchen und nicht wollen: Eure Anfeindungen gegeneinander. Eure Kriege, die viele von uns als Opfer fordern oder zur Flucht treiben. Eure Ungerechtigkeit, dass die einen alles haben und die anderen nichts. Wir halten nichts von eurer Ausbeuterei der Natur, wo ihr doch selbst der Natur angehört und Teil davon seid. Wie kann man sich nur ein so wichtiges Lebensglied freiwillig amputieren und dazu noch denken, damit besser zu leben. Absurd! Warum streitet ihr euch um Grenzen, Religionen, Herkunft und Abstammung, politische Systeme?«

Kinder, wenn sie so sprechen dürften, würden die alten Strukturen, die sich schon längst überlebt haben, für überwunden erklären. In der Kindheit spielt das, was Erwachsenen so wichtig ist, keine Rolle. Kinder spielen miteinander, wollen gemeinsam die Welt entdecken, mit uns als ihren sicheren Lebenspartnern – es ist doch nur eine kurze Zeitstrecke, die wir als Menschenkinder, als Gäste hier verbringen dürfen. Wo ist da unsere Dankbarkeit, Zurückhaltung und Ehrfurcht? Dient, sagen uns die Kinder, dient der Natur und allen Geschöpfen – und alles wird euch dienen.

Wenn sie so sprechen dürften, würden sie uns zurufen: »Gerade jetzt, in der Pandemiezeit, haben wir gespürt, wie weit ihr von all dem entfernt, wie selbstbezogen, egoistisch und blind ihr seid. Das Leben retten zu wollen und dabei gleichzeitig das Lebendige zu opfern, ist wirklich einfach nur absurd.«

Dann werden sie von ihrem Stein, ihrer Astgabel, ihrem Sandhügel steigen, werden sich das Wundern abschütteln und wieder in ihre reale Gegenwart, die uns so abhandengekommen ist, abtauchen, um sich wieder in Resonanz mit sich, den Geschöpfen, den Pflanzen zu begeben. Eine Welt kann nur eine Spiel-Welt sein.

Ich beende dieses Plädoyer für eine kindgerechte und damit menschliche Welt mit Friedrich Schiller: »Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.«

Bernhard Hanel ist Gründer / Kindheitsforscher / Künstler.

www.freispiel-akademie.com | www.kukuk-kultur.de

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