Verschieden sind wir gleich

Von Nurtac Perazzo, Juni 2022

In meiner Tätigkeit als Dozentin, aber auch als Zeitgenossin, erlebe ich, wie viel Verwirrung es im Umgang mit Begriffen wie Diskriminierung, Rassismus, Inklusion, Critical Whiteness, gendersensible Sprache und Diversität gibt. Es sind Begriffe, die im Zusammenhang mit den Themen Gerechtigkeit, Chancengleichheit und vorurteilsbewusstes Leben stehen.

Foto: © Santiago Nunez / photocase.de

Hinweis: Der Artikel ist in der Frühlingsausgabe der Zeitschrift »Frühe Kindheit« (01/2022) erschienen. Einzelne Ausgaben können Sie hier bestellen. Hefte, die älter als ein Jahr sind, stehen in unserem Archiv zum Download für Sie bereit.


Ich erlebe, wie dynamisch und schnell sich in den letzten Jahren die Theorie, die Sprache und das Bewusstsein für diese Themen entwickeln und verändern. Immer mehr Betroffene werden aktiv und setzen sich für ein barrierefreies, wertschätzendes, respektvolles Leben in der Gesellschaft ein, für eine Gesellschaft, die eine Gleichstellung jedes einzelnen Menschen in der Gemeinschaft gewährleisten soll. Ich meine damit die Würde des Menschen, die laut Artikel 1 des Grundgesetzes unantastbar ist.

Durch Gesetze werden immer mehr Rahmenbedingungen geschaffen, die ein gutes Zusammenleben in der Gemeinschaft ermöglichen sollen. Strukturelle Diskriminierung soll dadurch abgebaut und Gleichstellung gewährleistet werden.

In der BRD ist am 18. August 2006 das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) in Kraft getreten. Es soll den Einzelnen vor Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft, der Religion, des Geschlechts, der Weltanschauung, des Alters, der Behinderung und der sexuellen Identität schützen. Auch die UN-Kinderrechtskonvention setzt sich für ein Recht auf ein Leben ohne Unterscheidung nach verschiedenen Kategorien wie ethnische Zugehörigkeit oder Hautfarbe ein. Kinder haben – unter anderem – ein Recht auf ihre eigene Sprache, ihre Religion und die Zugehörigkeit zu ihrer Familie. Die Erwachsenen haben den Auftrag, das Wohl des Kindes zu schützen. Wichtige Bestandteile der Konvention sind Demokratie, Partizipation und Mitbestimmung eines jeden Menschen in der Gesellschaft.

Die genannten Diskurse, Theorien und gesetzlichen Veränderungen sind für Erziehungs- und Bildungseinrichtungen von Bedeutung.

Eine wichtige Errungenschaft stellt zum Beispiel Paragraph 8a des Sozialgesetzbuches (SGB) dar: der Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung. Der Schutz ist zu gewährleisten und gleichzeitig über den Partizipationsauftrag von Kindern und Eltern in allen Belangen zu realisieren. Die Kinder sind als autonome Menschen zu respektieren. Wir Erwachsene haben den Auftrag, sie in ihrer Verselbstständigung zu unterstützen und gleichzeitig ihr körperliches und seelisches Wohl zu schützen. Zur Demokratie gehört die Tatsache, dass wir einerseits Individuum, andererseits auch Mitglied der Gemeinschaft sind. Wie kann im Rahmen der Demokratie die individuelle Gleichberechtigung, Teilhabe und gleichzeitig das Recht auf »Anders-Sein« umgesetzt werden, ohne dass alle Menschen »gleich gemacht« oder »ausgegrenzt« werden? Annedore Prengel schreibt dazu: »Differenz ohne Gleichheit bedeutet gesellschaftliche Hierarchie, kulturelle Entwertung, ökonomische Ausbeutung. Gleichheit ohne Differenz bedeutet Assimilation, Anpassung, Gleichschaltung, Ausgrenzung von ›Anderen‹« (Prengel 2006, S. 184).

Bezogen auf die Pädagogik sind selbstverständlich alle Kinder in ihren Grundbedürfnissen wie Schutz, Nahrung, Wohnung, Bildung, Beziehung gleichberechtigt, um nur einige zu nennen. Sie sind aber auch »individuell-verschieden«, einzigartig, mit einer eigenen Dynamik und Biographie. Kein Mensch hat nur ein Merkmal. Wir bewegen uns in verschiedenen Systemen und Rollen, wir sind Tochter, Sohn, Schwester, Bruder, Dozentin, Familienmitglied, Mitglied eines Kollegiums oder Schach-Clubs. Der Gedanke der Homogenität ist nicht haltbar. Die Realität ist Vielfalt.

Wie aber können Ideologien, Stereotypen und Vorurteile gelöscht und in eine die Vielfalt anerkennende und wertschätzende Haltung verwandelt werden? Es soll ein Zusammenleben gewährleistet werden, in dem jeder Mensch mit seinen Ressourcen seinen ihm eigenen Platz in der Gesellschaft einnehmen kann, ohne dass der Platz in Frage gestellt wird:

»Inklusive Pädagogik stellt sich die Aufgabe, das Verhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit neu zu definieren und neu auszubalancieren. Inklusive Pädagogik arbeitet daran, im Sinne der gleichen Freiheit das demokratische Gleichheitsprinzip ohne den Zwang zur Ausgleichung gelten zu lassen und Freiheit für Vielfalt ohne den Drang zur Hierarchiebildung wertzuschätzen« (Prengel 2010, S. 6).

Widersprüche aushalten können

Jedes Mitglied der Gesellschaft stellt mit seinen Fähigkeiten und Stärken eine Bereicherung dar. Wie können wir gemeinsam von Anfang an dafür die Rahmenbedingungen schaffen, dass tatsächlich Vielfalt gelebt wird und eine barrierefreie Haltung und Chancengleichheit ermöglicht wird? Alle Neigungen zu Kategorien-Bildungen wie: Türke / Frau, faul / begabt usw. müssen erkannt werden, denn Kinder sind »unbestimmbar«! Zuschreibungen, Etikettierungen und gruppenbezogene Diskriminierungen dürfen nicht akzeptiert werden. Für mich ist bedeutsam, dass jedes Individuum sich selbst achtet und wertschätzt und seine Wurzeln, seine Ich-Identität und Gruppenzugehörigkeit annehmen und pflegen kann; dass es seine individuelle wie auch seine kollektive Geschichte kennt; seine Selbstwirksamkeit erleben, sich selbst wahrnehmen und zum Ausdruck bringen kann. Es ist für die seelische Gesundheit wichtig, sich mit sich selbst identisch zu fühlen, integer zu sein. Dafür tragen wir als Pädagogen und Pädagoginnen die Verantwortung.

Daher ist es wichtig, Methoden kennen zu lernen, wie ich wertschätzend in meiner Haltung bleiben und gewaltfrei kommunizieren kann. Die von Krappmann in Soziologische Dimensionen der Identität (2021) benannte Ambiguitätstoleranz ist eine essentielle Voraussetzung dafür. Es ist notwendig, zuhören zu können, andere Meinungen zuzulassen und sie aushalten zu können, dialogisch Kompromisse zu finden und den Standpunkt des anderen zu verstehen, ohne seine Sichtweise gleich zu bekämpfen.

Ich finde, dass wir es nicht zulassen dürfen, dass Kinder und Jugendliche tagtäglich auf Grund ihrer individuellen Merkmale Verletzungen und Beschämung erleben müssen, die durch Ausgrenzungs-, Herabwürdigungs- und Stigmatisierungserfahrungen entstehen.

Inzwischen gibt es gute Literatur, zum Beispiel von Nkechi Madubuko, die in Empowerment als Erziehungsaufgabe (2018) darstellt, wie Erwachsene einen schützenden Raum schaffen und wie sie Kinder und Jugendliche stärken können. Hierbei wird deutlich, wie wichtig die innere Haltung ist.

Es muss ein Bewusstsein dafür entstehen, welche Ideologien, Stereotypen und Vorurteile durch die eigene Persönlichkeit und institutionell weitergegeben und tradiert werden.

Die Erziehenden sind aufgerufen, sich immer wieder selbst zu reflektieren und im Team verlässliche Konzepte wie zum Beispiel »Gewaltfreie Kommunikation« zu erlernen, Partizipation in den Alltag der Einrichtung zu etablieren, eigene Normen, Werte und Vorurteile zu überprüfen und neu zu gestalten. Kinder und Jugendliche brauchen Räume, in denen sie ohne (Rollen-) Zuweisungen, Schädigungen und Leid aufwachsen und ihre Potenziale entwickeln können. Sie brauchen Erwachsene, die sich für ihr Wohl einsetzen.

Selbstkonzepte und ihre Auswirkungen

In der Praxis sind Erwachsene zu oft der Meinung, sie könnten selbst entscheiden, welches Verhalten verletzend, beschämend und diskriminierend ist. Doch nur die Betroffenen selbst können darüber Auskunft geben, ob sie verletzt worden sind oder nicht.

»Jede Erziehung ist Selbsterziehung, und wir sind eigentlich als Lehrer und Erzieher nur die Umgebung des sich selbst erziehenden Kindes. Wir müssen die günstigste Umgebung abgeben, damit an uns das Kind sich so erzieht, wie es sich durch sein inneres Schicksal erziehen muss.« Rudolf Steiner, 1923

Was Rudolf Steiner hier vor hundert Jahren formulierte, hat heute noch seine Bedeutung (Steiner 1989, S. 131). Die Umgebung des Kindes sind wir – die Erziehenden, die Eltern und die Gesellschaft. An uns erzieht sich das Kind selbst. Unser Verhalten kann seine Entwicklung behindern oder fördern. Louise Derman-Sparks, die das Konzept »Anti-Bias Approach« entwickelte, belegte durch Studien (vgl. Derman-Sparks, 1989), dass Kinder bereits ab dem 15. Monat anfangen, über die Spiegelung der Bezugspersonen ihr Selbstkonzept zu entwickeln.

Sie nehmen die Reaktionen der Mitmenschen, die Art und Weise, wie mit ihnen umgegangen wird, wahr.

Alles, was um sie gelebt, gesprochen und gedacht wird, wird von ihnen aufgenommen und bildet die Basis ihrer Persönlichkeit, beeinflusst ihre Haltung zu sich selbst und zu ihren Mitmenschen. Das Kind erlebt, wie sein Wert von den anderen beschrieben wird. Das Selbstkonzept hat eine positive oder negative Wirkung auf die psycho-emotionale und psychokognitive Entwicklung. Über die Nachahmung werden Vorurteile, Ideologien, Normen und Werte übernommen und verinnerlicht.

In der Fachwelt spricht man von »internalisierter Diskriminierung«, wenn das Kind die »Fremdzuschreibung« auf sich selbst überträgt und glaubt, dass es so ist und sich dafür verantwortlich fühlt. Wenn ein Kind erlebt, dass es aufgrund seiner Hautfarbe abgelehnt wird, kann es von sich das Bild entwickeln, dass es selbst nichts wert ist, weil es eine andere Hautfarbe hat.

Genauso können Kinder beobachten und wahrnehmen, welchen Status ihre Familie, ihre Sprache, ihre Religion etc. in der Gesellschaft hat. Damit wird den Kindern unter Umständen keine »günstige« Umgebung geboten. Rudolf Steiner verlangt von den Pädagogen, dass sie sich »selbst erziehen«. Dazu gehört meiner Auffassung nach, Ideologien, verletzende Handlungen und Vorurteile zu vermeiden.

Bildungseinrichtungen sind Lern- und Begegnungsorte. Kinder sollten hier im Zusammenleben miteinander von Anfang an Vielfalt erleben, diese leben und sie schätzen lernen. Sie sollen Respekt und Wertschätzung erfahren und eine klare Haltung gegenüber diskriminierendem Verhalten erleben. So können sie individuell in einem aktiven Prozess des Lernens das eigene Weltbild entwickeln.

Vorurteilsbewusste Erziehung

Um dieses zu verwirklichen, bietet etwa der Ansatz »Anti-Bias-Approach«, die von Petra Wagner als »Vorurteilsbewusste Erziehung und Bildung« übersetzt wurde, eine gute Vorlage. Vorurteilsbewusste Erziehung und Bildung orientiert sich an folgenden vier Punkten:

  1. Ich-Identität und Familienzugehörigkeit stärken
  2. Alle Kinder sollen aktiv und bewusst Vielfalt leben und Vielfalt soll ermöglicht werden.
  3. Kritisches Denken über Vorurteile, Diskriminierung, Unfairness soll angeregt und gelebt werden.
  4. Die Kinder werden dabei unterstützt, sich gegenüber jeglicher Form von Diskriminierung und Einseitigkeit zu wehren (vgl. Derman-Sparks, 1989).

Die Waldorfpädagogik lebt die bewusste Annahme von Diversität und legt einen großen Wert auf die Förderung des Kindes und seiner ureigenen Individualität: »Was gelehrt und erzogen werden soll, das soll nur aus der Erkenntnis des werdenden Menschen und seiner individuellen Anlagen entnommen sein. Wahrhaftige Anthropologie soll die Grundlage der Erziehung und des Unterrichtes sein. Nicht gefragt soll werden: Was braucht der Mensch zu wissen und zu können für die soziale Ordnung, die besteht; sondern: Was ist im Menschen veranlagt und was kann in ihm entwickelt werden? Dann wird es möglich sein, der sozialen Ordnung immer neue Kräfte aus der heranwachsenden Generation zuzuführen« (Steiner 1961, S. 37). 

Steiners Maxime der Sozialethik spiegelt dieselbe Haltung zu Individuum und Gesellschaft wider: »Heilsam ist nur, wenn im Spiegel der Menschenseele sich bildet die ganze Gemeinschaft; und in der Gemeinschaft lebet der Einzelseele Kraft« (Steiner 1998, S. 298). Der Erwachsene hat laut Steiner darauf zu achten, dass er sein Weltbild und seine Ordnung nicht auf das Kind überträgt, sich aktiv mit Diversität beschäftigt und sich von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit abgrenzt. (Vgl. Adam & Schmelzer 2019.)

In der Alanus Hochschule wird zu diesen Themen geforscht und gelehrt. In der Fachschule, in der ich tätig bin, erlebe ich eine offene Auseinandersetzung mit der im Alltag angewendeten Sprache, den Inhalten der Bücher, den »Fingerspielen« und Liedern in Bezug auf ihre Stereotypen, gendersensible Sprache und das Abbilden von Einseitigkeiten.

Ich plädiere dafür, an diesen Themen zu arbeiten, damit Kinder, Jugendliche, Eltern, Kollegen und Kolleginnen in den Bildungseinrichtungen nicht verletzt, ausgegrenzt, herabgewürdigt oder etikettiert werden.

Zur Autorin: Nurtac Perazzo ist in Istanbul geboren und als Grundschülerin nach Deutschland gekommen. Sie studierte in Berlin und hat dort ihren Mann, der aus Argentinien kommt, kennengelernt. Der gemeinsame Sohn ist in einem multikulturellen Kontext mit drei Sprachen aufgewachsen. Sie vertritt Interkulturalität in eigener Person als Deutsch-Türkin, in der bikulturellen Ehe, in der Lehre als Dozentin, in der Tätigkeit am Waldorfkindergarten-Seminar Istanbul und in ihrer Arbeit als Systemische Therapeutin.

www.system-perazzo.de

Literatur: C. Adam & A. Schmelzer (Hrsg): Interkulturalität und Waldorfpädagogik, Weinheim-Basel 2019. | L. Derman-Sparks: Anti-Bias-Curricculum. Task Force: Anti-Bias Curriculum. Tools for Empowering Young Children, NAEYC: Washington, D.C. 1989. | L. Krappmann: Soziologische Dimensionen der Identität, Stuttgart 2021. | N. Madubuko: Praxishandbuch Empowerment, Weinheim, Basel 2021. | A. Prengel: Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in interkultureller, feministischer und integrativer Pädagogik, Wiesbaden 2006. | Ders.: »Wie viel Unterschiedlichkeit passt in eine Kita? Theoretische Grundlagen einer inklusiven Praxis in der Frühpädagogik«, in: WiFF Fachforum (2010): Von einer Ausländerpädagogik zur inklusiven Frühpädagogik – Neue Anforderungen an frühpädagogische Fachkräfte, 29.06.2010, München 2010. | R. Steiner: Die pädagogische Praxis vom Gesichtspunkte geisteswissenschaftlicher Menschenerkenntnis. Die Erziehung des Kindes und jüngeren Menschen, GA 306, Dornach 1989. | Ders.: Die Erziehungsfrage als soziale Frage, GA 296, Dornach 1971. | Ders.: Wahrspruchworte, GA 40, Dornach 1998. | Ders.: Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage, GA 24, Dornach 1961.

 

 

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