Verwahrlosung im Glitzerlook

Juli 2014

Albert Wunsch, Erziehungswissenschaftler und Psychologe, mischt mit seinen Büchern, Vorträgen und Gesprächen die Eltern- und Medienwelt gleichermaßen auf. Was ist, wenn Liebe zur Überwachung wird und Fürsorge zur Unselbstständigkeit führt? Wie schafft man den nötigen Freiraum?

Albert Wunsch, Erziehungswissenschaftler und Psychologe.

Erziehungskunst | Seit Rousseau hat sich das Verständnis von Erziehung immer wieder geändert. Was verstehen Sie unter Erziehung?

Albert Wunsch | Den Menschen zu befähigen, mit ca. 25 Jahren auf eigenen Beinen zu stehen, emotional, sozial und finanziell. Das wirkt banal, aber um dieses Ziel geht es. Eltern und andere Erziehungskräfte haben demnach die Aufgabe, auf diese Wirklichkeit vorzubereiten, in der das Kind in 25 Jahren leben wird. Dazu ist seine ureigene Individualität in den Blick zu nehmen und ihm Entsprechendes mitzugeben.

EK | Sie gehen von der Einzigartigkeit des Kindes aus. Heißt das, dass Erziehung für jedes neue Kind in ein und derselben Familie ganz anders aussehen kann?

AW | Ja, das überrascht viele Eltern bei Erziehungsproblemen. Wenn sie argumentieren, wir haben doch jedes Kind gleich erzogen, wie kann es denn nur sein, dass es bei diesem schief geht? Dann muss ich antworten, genau das war der Grund, dass es nicht richtig klappte. Dies schließt nicht aus, dass es auch etliche allgemeinverbindliche Maßstäbe gibt. Eltern brauchen dazu viel Rückgrat. Denn Kinder argumentieren gerne: »Mama, der darf das, aber ich nicht, das ist ungerecht.« Dem standzuhalten und zu vertreten, »Ja, hier passt das und bei dir nicht«, fällt den meisten Eltern ausgesprochen schwer.

EK | Setzt ein solcher Erziehungsansatz nicht eine genaue Beobachtungsgabe voraus – eben keine Erziehungsraster, sondern Geistesgegenwart und Wandlungsfähigkeit?

AW | Ja! – Einer meiner Kollegen sagte einmal: »Das Vermögen mit der größten Rendite ist das Wahrnehmungsvermögen.« Voraussetzung für eine exakte Wahrnehmung ist aber, dass ich mich von meinen eigenen Bildern löse. Das ist wegen der eigenen Befangenheit recht schwierig. Eine Möglichkeit ist, sich seinen Umgang mit Kindern von vertrauten Menschen spiegeln zu lassen. Dabei geht es nicht um falsch oder richtig, sondern darum, was ich am ehesten so oder ein wenig anders im Umgang mit einem Kind machen könnte. Nur aus Offenheit kommt Veränderung.

EK | Unsere Kinder wachsen heute sehr kontrolliert auf. Über Handy sind sie ständig erreichbar, werden von ihren Eltern überall hingebracht und abgeholt. Womit hängt diese Entwicklung zusammen?

AW | Es ist der reine Kontrollwahn. Solche Eltern üben unbewusst Besitzansprüche und Macht über das Kind aus. Andererseits geben sich die Eltern durch ein solches Verhalten Sinn und verwirklichen sich damit selbst. Es ist meist ihr Wille, dass das Kind diesen oder jenen Sport macht oder ein Musikinstrument lernt. Hinzu kommt die Angst, es könnte dem Kind »auf freier Wildbahn« etwas passieren. Man will ja auch nur Gutes für das Kind tun und es allseitig fördern. Die Eltern werten es positiv, dass sie die Kinder überall hinkutschieren. Was sie dabei komplett aus den Augen verlieren ist, dass sie damit ihren Kindern die Möglichkeit nehmen, sich eigenständig zu organisieren und selbstverantwortlich zu sein für das, was sie tun. Dadurch schwächen sie ihre Kinder unglaublich. Vor lauter Fürsorge geben sie ihren Kindern keinen angemessenen Lern- und Entwicklungsraum. Zwei Beispiele aus Ferienfreizeiten: Da gab es ein Kind, zu dem jeden Abend die Mutter kam, um ihm Essen zu bringen, mit der Begründung, es habe eine ganz eigene Speisebevorzugung. Eine andere kontrollierte jeden Abend, ob das Handy noch aufgeladen war. Sie hatte dann auch ein Ersatzhandy dabei, damit das Kind jederzeit in der Lage war, die Mama anzurufen und wichtige Meldungen wie »ich sitze gerade auf dem Klo und habe kein Papier« zu verschicken.

EK | Es ist schwer, sich diesem Fürsorgewahn zu entziehen, ohne als Rabeneltern zu gelten. Fühlt sich ein Kind nicht ausgegrenzt, wenn es nicht so wie die anderen bemuttert wird?

AW | Ja, das ist nicht leicht. Eltern und Kinder müssen lernen, kreativ mit solchen Situationen umzugehen. Wird ein Kind angemacht, weil es nicht zum Sportverein gebracht wird, dann müssen wir ihm Perspektiven eröffnen, damit locker umzugehen. Eine passende Antwort wäre zum Beispiel: »Ich muss nicht mehr mit Pampers und Schnuller hier an der Halle abgegeben werden. Ich kann das alleine.« In der Regel ist dann Ruhe. Ein liebevolles Elternhaus, in dem Mutter oder Vater sich dem Kind zuwenden, in dem etwas gemeinsam unternommen wird – das schafft Stabilität, die Kinder brauchen, nicht die Chauffeurdienste. Auf der anderen Seite können Eltern anderen Eltern darin Vorbild sein, dass es auch anders geht – nicht in der Konfrontation, sondern wie beiläufig: »... diese ständige Fahrerei zur Schule, zur Jugendgruppe, dann zum Sport, Musikunterricht, Ballett – das ist alles zuviel für das Kind und das wollen wir auch als Eltern nicht.« Solch eine kleine selbstbewusste Anmerkung kann zur Erlösung für die anderen werden. Beziehungszeit muss nicht über Fahrdienste abgewickelt werden.

EK | Wie unterscheidet man Verwöhnung von Zuwendung?

AW | Zuwendung orientiert sich am anderen. Ich wende meine gesamten Sinne dem anderen zu. Was ist ihm wichtig? Wie kann ich was fördern? Meistens sieht man gar nicht den anderen, sondern nur sich selbst. Dann ist ein Blickwechsel nötig! Das Wort »verwöhnen« ist im Zusammenhang mit Erziehung eindeutig negativ besetzt. Schon in der Vorsilbe »ver…« wie in vernaschen, verbrauchen steht etwas Negatives drin! Niemand wird jemals sagen: »Oh, wie schön, da kommt ein verwöhntes Kind, da freuen wir uns aber.«

EK | Wann verwöhnt man also?

AW | Verwöhnung ist Verwahrlosung im Glitzerlook. Wir schütten die Kinder mit Konsumgütern zu oder ersticken sie mit unserer Emotionalität. Verwöhnen vollzieht sich immer als: falsches Helfen (es werden die vom Kind selbst zu erlernenden Funktionen übernommen), fehlende Begrenzung (aus zu großem Harmoniebedürfnis) und ausbleibende Herausforderung (aus Ängstlich- oder Bequemlichkeit). In allen Fällen werden so Nichtkönnen, Abhängigkeit und Anspruchshaltungen grundgelegt. Erlernte Hilflosigkeit und Entmutigung ist das Resultat von Verwöhnung und schafft Menschen, die alles wollen aber nichts geben (können)!

Wenn ein Kind mit acht Monaten quäkt, Mutter und Vater sofort laufen und schauen, was ist, dann haben die Kinder keine Möglichkeit, auch einmal eine emotionale Durststrecke zu erleben, Frustrationstoleranz auszubilden. Kinder müssen seelische Muskeln entwickeln. Dazu gehört, dass man damit umgehen lernt, dass Dinge auch anstrengen, unangenehm sind oder sogar weh tun. Wenn ein Kind erleben darf, dass es nicht der Anfang einer tödlichen Verdurstungsgeschichte ist, wenn es einmal nicht sofort etwas zu trinken bekommt, sondern dass es warten kann, dann hat es die Chance, den lebenswichtigen Bedürfnis-Aufschub zu entwickeln.

Es geht nicht darum, keine Emotionen zu zeigen, kalt zu sein, die Kinder nicht zu trösten. Es geht um die Begrenzung eigener Unsicherheits-Gefühle, sonst entwickeln Kinder automatisch ein emotionales Star-Verhalten und fühlen sich als Mittelpunkt der Welt. Dann kommen sie in die Schule und dort gibt es einen Prinzen- und Prinzessinnen-Auflauf. Das Kind ist heutzutage das Ein und Alles.

Es kommt unter die Glasglocke, wird gesichert, mit einem Alarmgerät ver­sehen, dass es nicht geklaut wird, ständig kontrolliert und überwacht. Ein eigenständiges Leben ist so nicht möglich.

EK | Weicht ein Kind in seinem Verhalten von der Norm ab, wird rasch therapiert. Es darf nicht komisch, sensibel, traurig, aggressiv oder wütend sein. Was sind die Gründe für diese Inflation der Therapien?

AW | Je stärker die Kinder vom alltäglichen Leben abgekoppelt sind, desto stärker müssen sie das, was sie ganz natürlich lernen würden, gesondert lernen. Haben sie viele Kinder, so haben die Kinder untereinander jede Menge Konflikte. Sie müssen sich keinen Konflikt-Coach einkaufen. Ein Kind, das alleine aufwächst, ist automatisch in der Situation, keine typischen Konflikte auf selbstverständliche Weise in seinem Alltag zu erleben.

Und wenn es ein überzogenes Selbstbewusstsein an den Tag legt, dann wird es auch im Kindergarten keinen Konflikt ausleben können, da es sich immer behaupten muss. Es hat zwar Konflikte, setzt sich aber jedes Mal durch. Reicht das nicht, schaltet sich die Mutter ein und bittet die Erzieherin, sich gesondert um ihr Kind zu kümmern. Frustrations- Toleranz und Konflikt-Management kann so nicht erlernt werden. Je intensiver uns Beratungsdienste und Fördereinrichtungen weismachen, dass es für das Kind richtig sei, es permanent und speziell zu fördern, desto stärker fallen wir darauf herein. Wir kaufen Nahrungsergänzungsmittel, anstatt uns darüber Gedanken zu machen, was in der Nahrung ist. Wir haben Winter, wir brauchen Vitamin C, also kaufen wir die Vitamin C-Tabletten. Ist doch einfacher, als eine Apfelsine zu schälen und dann auch noch zu essen. Nicht wenige Eltern leiden unter der Angst, ihr Kind könnte nach dem Schulabschluss, weil es ja so ein besonderes Kleinod ist, keine Stelle bekommen.

Es ist tragisch: Es setzt bei den Eltern ein Förderwahn ein, um dem Kind den optimalen »Anschluss« zu ermöglichen. Es lernt dann Chinesisch in der Grundschule und mit drei Jahren, einen Computer zu bedienen. Nur mit dem Betätigen der Aus-Taste hapert es kräftig.

EK | Wie machen wir also Kinder stark? Inwiefern bildet Resilienz eine Basis für die Persönlichkeitsentwicklung?

AW | Resilienz gehört zu einem stabilen Ich. Beides ist die Grundvoraussetzung dafür, ein eigenständiges Leben zu führen. Ein stabiles Ich zu haben bedeutet, auch von sich und seinen Bedürfnissen absehen zu können, sich selbst nicht immer und überall wichtig zu nehmen. Mit Martin Buber formuliert: »Der Mensch wird am Du zum Ich.« Und gute 70 Jahre später ergänzt der Soziologe Ulrich Beck: »Ohne Ich kein Wir.« Das gebende Du ist der Dreh- und Angelpunkt für die Entstehung eines Ichs, das wiederum die Voraussetzung für das Entstehen und Wachsen von Zusammengehörigkeit und Verbundenheit im Wir ist. Keine Gemeinschaft kann ohne stabile Persönlichkeiten auf Dauer bestehen bzw. erfolgreich handeln.

EK | Was fördert die Resilienz, was behindert sie?

AW | Einmal fördert alles, was zu einem ›satten Urvertrauen‹ führt, die Resilienz. Die Krippe gehört nicht dazu, sie ist eher ein Resilienz-Verhinderer, weil die Eltern in dieser entscheidenden Phase als Bezugspersonen besonders wichtig für die Entwicklung eines stabilen Selbst sind. Das Kind muss spüren, ich bin geborgen, Mama und Papa sind für mich da. Dann kann das Kind Ich-Stärke entwickeln. Wenn ich einen sicheren Hafen habe, dann kann ich mich aus dem Hafen wagen, kann aber bei Sturm immer wieder in diesen zurück. Die Eltern als Erst-Hafen sind die Voraussetzung, dass das Kind auf andere zugehen und die Welt erobern kann. Kinder brauchen reichlich altersgemäße körperliche und emotionale Herausforderungen zur Bildung von Resilienz. Dazu müssen Eltern und andere Erziehungskräfte wieder lernen, Herausforderungen anzubieten und zuzulassen. Basis der Förderung von Kindern zu einer solch starken Persönlichkeit ist eine auf Selbstwirksamkeit ausgerichtete Grundhaltung aller Beteiligten. Denn ohne eine mentale Ermutigung gibt es kein Lernen, kein positives Zusammenleben, kein gesellschaftliches Wachstum.

Die Fragen stellte Ariane Eichenberg

Zum Interviewpartner: Dr. Albert Wunsch ist Erziehungswissenschaftler, Psychologe, Dipl. Sozialpädagoge sowie Kunst- und Werklehrer. Er lehrt an der Hochschule für Oekonomie und Management (FOM) in Essen und Neuss und an der Universität Düsseldorf. Außerdem betreibt er eine Praxis als Paar-, Lebens- und Erziehungs-Berater. Er ist Vater von 2 erwachsenen Söhnen und Großvater von 3 Enkeltöchtern.

Link: www.albert-wunsch.de

Literatur:  Albert Wunsch: Abschied von der Spaßpädagogik, 4. Aufl. München 2007; ders.: Boxenstopp für Paare, München 2011; ders.: Die Verwöhnungsfalle, 14. umfangreich ergänzte Neuauflage München 2013; ders.: Mit mehr Selbst zum stabilen Ich!, Berlin/Heidelberg 2013

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