Vom Saugen, Nuckeln, Lutschen, Atmen und Sprechen
Der Mund ist das »sozialste« unserer Organe: Wir erobern, küssen und lachen mit ihm, wir können abwehren, beißen und schreien. Durch den Mundraum vollzieht sich die erste Hereinnahme der Außenwelt, beginnend mit der Nahrung im Bauch der Mutter, dann mit der Atmung.
Der Mund – ein Sinnes- und Seelenraum
Wenn das Kind ein Objekt im Mund hat, nimmt es gleichzeitig sich selbst und das körperfreundliche Objekt wahr; das bietet die Grundlage dafür, zwischen sich und der Welt zu unterscheiden. In diesem Grenzbereich zwischen Innen und Außen, von Selbst und Nichtselbst beißt sich der Mensch auf seine ganz individuelle Weise durchs Leben. Während der eine vielleicht mit Verbissenheit an seinem jeweiligen Ziel festhält, gibt sich der andere bereits zähneknirschend geschlagen. Mit dem Durchbruch der bleibenden Zähne verstärkt sich die Beiß- und Bisskraft, weil die Kräfte, die bisher organbildend tätig gewesen sind, im Zahnwechsel zur Ruhe kommen; das Kind wird jetzt geistig bildsam und damit auch in die Lage versetzt, härtere Dinge durchzukauen, auseinanderzunehmen und sich anzueignen. Interessant daran ist, dass mit diesem Zerkleinern, Durchkauen, Sich-zu-eigen-Machen das analytische, »glasklare« Denken einsetzt – die Sprache wird konsonantenreicher.
Wie ein »Staubsauger«, den man abzustellen vergaß
Das Saugen ist eine Schlüsselqualifikation des Kindes. Wir sprechen im Alltag mit Recht vom »Säugling« und nicht etwa vom »Schreiling« oder »Strampeling«, nur weil er auch schreit oder strampelt.
Vom Saugen abhängig sind nicht nur die Nahrungsaufnahme, sondern auch Atmung, Haltung, Kauleistung, Stimmführung und Sprechen. Die Saugreflexe sind angeborene Instinkthandlungen und bilden die motorische und die taktil-kinästhetische Grundlage (Berührungs- und Bewegungsgefühl, also reine Sinnlichkeit) für die späteren Sprechbewegungen, jetzt aber mit dem Ziel, den anderen zu »berühren«. Sprache ist immer auch Sinnlichkeit. Alles baut aufeinander auf und wandelt sich ineinander um. Die Ernährung ist daher die Vorschule des Sprechens, da sie zum einen das Bewusstsein für die späteren, rein physiologischen Artikulationsmuster schafft, zum anderen die Muskulatur optimal für Mimik, Gestik, Haltung, Bewegung, Atmung und Stimme koordiniert.
Maulfaul oder schräge Töne
Saugschwäche und »Saugungeschicklichkeit« können Frühsymptome späterer Sprachfehler sein. Erst mit dem sechsten Lebensjahr wird der Saugreflex unterbrochen und die Motorik – entsprechend verändert – an die Reifung des zentralen Nervensystems gebunden. Diagnostisch kann dafür auch die Lauttreppe eingesetzt werden. Diese »Lauttreppe« besagt, dass in der Entwicklung erst die Lippenlaute »m«, »p« gebildet werden, dann die Gaumenlaute »n«, »t«, »d«, später »k«, »g«, »f«, »w«, »s«, »ch«, »j« und als letztes »l« und »r«.
Der Unterkiefer macht »Kraftsport«
Normalerweise leistet das Stillen den ersten »Entwicklungsreiz«, die Haltung aufzurichten. Durch die kräftigen Saug- und Melkbewegungen des Unterkiefers wird dieser nach vorne verlagert. In der späteren Abbiss-Stellung der Kiefer zeigt das Kind seine Bereitschaft, sich mit der Welt auseinanderzusetzen.
Ähnliches passiert mit der Zunge, auch sie wird trainiert, dabei an den Gaumen gedrückt und nach vorne verlagert – entlang der späteren Artikulationsstellen. Sie zeigt so »Kontaktbereitschaft«. Der Kopf richtet sich im Rahmen dieser komplexen Bewegungen auf und damit die gesamte Haltung, der Lippenschluss wird begünstigt. Dem beim kräftigen Saugen entstehenden Unterdruck in Mund setzen gerade die Muskeln des Zungenbeins Widerstand entgegen, was einer »Nickbewegung« des Kopfes nach vorne entspricht; man könnte sie auch – übertragen – als Geste der »Bejahung« deuten.
Bei einer Saugschwäche kann der Unterkiefer im Rückbiss verharren und ein verhaltenes, defensives Verhaltensmuster signalisieren. Die Zunge zieht sich aus der »Begegnung« zurück; die Artikulationsstellen entlang des Gaumens werden nach hinten verlagert – meist kollabiert in Folge die gesamte Haltung.
Bewegung formt
Auch die Ausformung der Kiefer und die Stellung der Zähne ist von einwirkenden Kräften abhängig. So, wie wir unseren Körper gebrauchen, sieht er am Ende aus. Das gilt auch für den Mund und den Kiefer. Stimmt die Balance der Mund- und Gesichtsmuskeln nicht, kann das zu Fehlformen und Zahnstellungsfehlern führen. Umgekehrt gilt, dass beeinträchtigte Artikulationsorgane Sprechauffälligkeiten bedingen können. Denn das für die Atem-, Saug-, Schluck- und Kaufunktion zuständige neuromuskuläre System ist auch für die mimische Funktion, die Form der Zahnbögen sowie für das Sprechen zuständig.
Alles kann ge- und erlutscht werden
Chronisch falsche Flaschenernährung des Säuglings, Lutschgewohnheiten (Sauger, Daumen usw.) können zu einem Einbruch in diese Bewegungsabläufe führen und damit Fehlfunktionen und -formen begünstigen.
Bei einer reinen Flaschenernährung könnte zwar der Säugling die doppelte Menge Milch in der Hälfte der Zeit, die das Brustkind braucht, aufnehmen (insbesondere, wenn das »Spundloch« im Sauger zu groß ist), es erscheint aber nur vordergründig als günstig. Fließt die Flüssigkeit zu reichlich und schnell, vollführt die Zunge keine Saugbewegungen mehr, sondern schiebt sich eher in Richtung des Loches, um den Milchstrahl aufzuhalten. Bei einer Rückenlage des Säuglings muss diese »Abwehr« noch verstärkt werden. Dadurch kann sich ein bestehender »lutschoffener« Biss vorne noch weiter öffnen. Das wäre der Beginn einer Störungskette, an deren Ende ein falsches Schluckmuster oder ein Lispeln liegen könnte.
Der offene Biss – ein Biss des Staunens und des Unglaubens
Der vorne offene Biss kann auch eine Mundatmung begünstigen – besonders wenn bereits die normale Nasenatmung behindert oder erschwert ist (zum Beispiel durch Allergien, Polypen, Lymphstau, geschwollene Mandeln und Schleimhäute, Darmstörungen).
Diese Atmung durch den offenen Mund kann zur chronischen Gewohnheit werden und ist doch nur die Spitze des Eisbergs. Zur typisch offenen Mundhaltung gehören Begleitsymptome wie Schwächung oder Form- und Lageveränderung der Lippen-, Zungen- und Kaumuskulatur. Folglich können alle »Mundfunktionen«, das heißt, Atmen, Saugen, Kauen, Schlucken, Sprechen und die mimischen Gebärden mehr oder weniger gestört werden. Die Entwicklung normaler Kieferformen und die harmonische Ausrichtung und Angleichung beider Zahnreihen gerät durch das verschobene Kräftespiel des umgebenden Muskel- und Weichgewebes ebenfalls in Unordnung.
Die Mundatmung ist eine sehr flache Atmung – die Sauerstoffsättigung des Blutes bleibt gering. Der Mund darf also nur ein Notventil für die Atmung sein – beschränkt auf die Erkältungszeit, wenn man buchstäblich »die Nase voll« hat. Die weiteren Folgen sind Fehlhaltung bei zurückgeworfenem Kopf mit reflektorischer Vorverlagerung der Zunge, Spannungs- und Konzentrationsverlust sowie große körperliche Leistungseinbußen (das allein würde bereits die Aussichten auf eine Fußballerkarriere verringern).
Der ständig offene Mund und die vorne offenen Zahnreihen, wobei sich die Zähne nicht mehr berühren können, ist vom Körpersignal her als »Passivität« und Unentschlossenheit zu werten. Es fehlt der Biss! Man wird sich deshalb eher weniger mit der Welt auseinandersetzen, geschweige denn sich »durchbeißen«.
Fachfragen werden zu Lebensfragen – Warum?
Viele Lutsch- und Beißgewohnheiten können ihren Ursprung in einer gestörten seelischen Beziehung zur »Umwelt« haben. Der Daumen oder ständige Schnuller im Mund können als Bedürfnis nach Einheit und Geschlossenheit gedeutet werden. Wenn zu viele Außenreize oder Forderungen auf das Kind einwirken, kann sich neben dem Biss auch die Persönlichkeit schwerer »schließen«. Form und Funktion können sich schwerer entwickeln, wenn nicht aktiv an Schnuller oder Daumen gesaugt wird, sondern nur darauf »rumgeknautscht« wird.
Um selber eine Saugfehlfunktion auszuschließen, können wir (als Mutter oder Vater) versuchsweise erst am eigenen Finger saugen, daraufhin lassen wir das Kind an unserem Finger saugen. So können wir die Bewegungen von Kiefer, Zunge und Lippen auf ihre Korrektheit überprüfen.
Wie?
Kinder mit exzessiven Lutschgewohnheiten kann und sollte man nicht mit Verboten begegnen. Aber ansprechen darf man sie von Erwachsenenseite her schon, zum Beispiel so: »Ich habe früher selber auch mal gelutscht, bis ich irgendwann merkte, dass der Daumen mir gar nicht mehr schmeckte. Dann habe ich’s gelassen … Ich habe lieber gekaut und gebissen und mir die Hand auf die Wange gelegt. Ja, schmeckt dir dein Daumen überhaupt noch?«
Was können wir tun?
Wie kann das »Nuckelbedürfnis« gestillt werden? Man kann einen Spezial-Sauger mit Ring verwenden (Saugtrainer von »NUK-Medic«). Ich selber lasse mit diesem »kleinsten Sportgerät der Welt« aktiv saugen, das heißt, ich ziehe ihn am Ring kontinuierlich leicht nach außen – das passiert im rhythmischen Zusammenspiel mit den Saugbewegungen des Kindes. Für das Kind ist das ein richtiger Kraftakt – »Mal sehen, wer stärker ist!« Der mimische Ausdruck kann durch die Spannungserhöhung der Muskulatur gänzlich verändert werden. Die Muskeln reagieren bei diesem kleinen »Kräftemessen« besser, wenn die Zugspannung und Entspannung rhythmisiert wird. Dazu verwenden wir gerne Stabreime, die wir gegebenenfalls nach fehlerhaft gesprochenen Lauten aussuchen – auf diese Weise trainieren wir sie gleich mit. Besonders Kinder unter sieben Jahren bringen dazu noch die entsprechende Nachahmungsfreude mit. Ist das Saugbedürfnis fürs Erste gestillt, können wir getrost Nuckel, Finger oder dergleichen dem Kind wieder zur »freien Verfügung« überlassen. Kieferorthopädische Geräte (Mundvorhofplatte, Bionator, Funktionsregler) können überdies die funktionellen Abweichungen korrigieren und neue Impulse setzen.
Lasst sie saugen!
Saugen befriedigt ein emotionales Grundbedürfnis, eine Art »gierigen Triebes« – auch bei Erwachsenen – so viel ist sicher. Da erfüllt es mich mit freudiger Erwartung, dass es vielleicht auch im großen Stil die Menschen friedfertiger, ausgeglichener und damit gesellschaftsfähiger machen könnte.
Für das Jahr 2018 überkommt mich die verrückte Idee, man müsse vor jeder erregten Diskussion am Runden Tisch an alle Politiker mit ihren erhitzten, angespannten Gesichtern einfach nur NUK-Sauger (»Schnuller«) verteilen und zum exzessiven Dauersaugen oder Dauerlutschen auffordern. Statt reden und streiten, also saugen!
Zum Autor: Ingvo Broich ist Zahnarzt mit dem jetzigen Schwerpunkt Ganzheitliche Kieferorthopädie. In Kursen und Vorträgen geht er auf Sprach- und Sprechauffälligkeiten ein. Insbesondere im Zusammenhang mit Atmung, Haltung, Stoffwechsel und Körpersprache gibt er vereinzelt Kabarettauftritte.
Mehr desgleichen finden Sie in der Erziehungskunst »Frühe Kindheit«.
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