Vor dem Begriff kommt das Begreifen

Von Philipp Gelitz, Mai 2013

Eine soziale Krankheit bricht sich immer mehr Bahn: die Erklärungswut. Höchste Zeit, sich eingehender mit ihr zu beschäftigen und zu zeigen, wie gefährlich sie für Kinder vor der Schulreife ist.

© uchar/iStockphoto

Ein zweijähriges Mädchen entdeckt im Sand einen Käfer. »Guck mal Mama, Fliege!« – »Ja, ich komme, mein Engel! Nein, das ist ein Käfer, weißt Du denn schon, wie der heißt, meine Große?« – »Ja!« – »Wie denn?« – »... (Schweigen)« – »Das ist ein Marienkäfer, weißt Du!? Die Fliegen und die Käfer, das sind alles Insekten, die Bienen und die Wespen auch, aber das hier ist ein Marienkäfer. Es gibt ganz viele verschiedene Käfer. Aber das hier ist ein Marienkäfer. Marienkäfer sind immer rot mit schwarzen Punkten.« – »Ich hab Hunger!« Ein dreijähriger Junge turnt im spärlich besetzten Großraumabteil herum. »Setz Dich hin! Willst Du eine Banane? Nicht so laut!« – »Ich kann schon so!« – »Lass es jetzt. Wenn Du hinfällst, tust Du Dir weh.« – »Mama, guck mal, und schon so!« – »Jetzt setz Dich bitte hin. Wenn der Zug bremst, dann fällst Du nach vorne. Da kannst Du Dich nicht mehr halten. Weißt Du, beim Zug da gibt´s auch Ampeln, und wenn die auf Rot sind, dann muss der Zug dolle bremsen.« – »Hallo Mama!« – »Guck mal, wenn jetzt eine Kurve kommt, dann stolperst Du« – »Aua!« – »Siehst Du, ich hab’s Dir ja gesagt. Setz Dich jetzt verdammt nochmal hin!« – »Du bist blöd, Mama!«

Wo man auch hinschaut, überall wimmelt es von Erklärungen im Minutentakt. Da werden nicht nur Zweijährigen Oberbegriffe und Unterbegriffe auseinanderdividiert oder Dreijährigen technische Einführungslektionen erteilt. Schon Einjährigen wird erklärt, wie die bunten Holzringe »richtig« aufgesteckt werden müssen. Vierjährige lernen etwas über Bio-Lebensmittel und Pestizide und Fünfjährige, dass der Mond nicht scheint, sondern nur das Sonnenlicht reflektiert. Als besondere Gefährdungen der frühen Kindheit gelten gemeinhin Bewegungsmangel und Medienkonsum. Der Intellektualismus hingegen steht in seiner Gefährlichkeit dem Medienkonsum in nichts nach. Er ist sogar schwieriger auszumachen und damit auch schwerer einzudämmen, weil er praktisch jeden befällt (auch Waldorfpädagogen!) und es auch keinen Off-Schalter gibt. Denn den kleinen Kindern muss doch die Welt erklärt werden! – Aber Kinder lernen anders als Erwachsene – vor allem nicht über den Kopf.

Gut gemeint, doch völlig an den Kindern vorbei

Die gute Absicht ist immer wahrnehmbar – allein es fehlt die Einsicht in die Art und Weise, wie kleine Kinder eigentlich lernen. In den ersten sechs bis sieben Lebensjahren lernen sie fast ausschließlich durch Nachahmung eines Vorbildes. Sie könnten sonst weder gehen, noch sprechen, noch den Löffel halten, noch sich die Hände waschen. Das hat ihnen niemand erklärt. Sie haben Tatsachen erlebt und nachgeahmt. Nichts wurde durch den Verstand begriffen. Eine Tatsache, die beim erklärenden Wortschwall nachgeahmt wird, ist das andauernde Reden und – noch schlimmer – die fehlende Verbindung mit dem gegenwärtigen Moment. Die Kinder erleben die Erwachsenen in ihrer Umgebung als nicht gegenwärtig verbunden mit den Erscheinungen der Welt. Ständig wird die Verstandesebene hinter dem eigentlichen Moment aufgesucht. Die Folge: Die Kinder werden interessearm, antriebsschwach und palavern belangloses Zeug.

Der Verstand entzieht Lebenskräfte

Das ist aber nur eine Seite. Etwas anderes ist noch viel gravierender. In dem Maße, in dem an den Verstand der Kinder appelliert wird, in dem Maße fehlt Kraft, sich im eigenen Körper zu beheimaten. Die Kräfte, mit denen wir unseren Körper erhalten, mit denen wir verdauen und wachsen, lassen in verwandelter Form das Denkvermögen zur Entfaltung kommen. Das gehört zu den bedeutendsten Erkenntnissen der anthroposophischen Menschenkunde. Wenn wir als Erwachsene krank sind, erleben wir diesen Zusammenhang unmittelbar: Wir können dann nicht in gewohnter Art einem komplizierten Zusammenhang folgen. Wir sind dann auf unsere Leiblichkeit zurückgeworfen. Wir brauchen einen »funktionierenden« Leib mit Lebensprozessen, die von alleine und unbewusst ablaufen, um überhaupt denken zu können.

Gelernt wird in der Gegenwart

Das Kind befindet sich in den ersten sieben Lebensjahren in einer Situation, in der sich zunächst die Lebensprozesse langsam im Körper verankern müssen. Ein Säugling kann weder seine Körpertemperatur halten noch Kartoffelpüree verdauen. Diese Verankerung der Lebensprozesse im Körper bedarf des besonderen Schutzraumes, sonst behindert man die Stabilisierung der leiblichen Grundlage der späteren seelisch-geistigen Entfaltung. In dem Moment nämlich, in dem das Vorschulkind aus der Unmittelbarkeit des Augenblicks durch nicht erfragte Erklärungen herausgerissen wird, werden die Lebenskräfte, die den Körper und seine Lebensprozesse gestalten, für die Verstandestätigkeit abgezogen. Sie fehlen dann dem leiblichen Aufbau. Das Bild vom blassen Kind, das alles weiß, aber wenig kann, ist deshalb auch keine Karikatur, sondern beobachtbare Wirklichkeit. Gelernt wird vor der Schule immer implizit, das heißt aus dem gegenwärtigen Zusammenhang heraus. Explizites Lernen ist noch zu anstrengend. Wo man es dennoch praktiziert, wirkt sich das negativ auf Atmung, Bewegung und Verdauung aus. Wer Anthroposophie und Waldorfpädagogik ernst nimmt, der sollte sich klar machen, dass der Appell an den Verstand beim kleinen Kind den Körper schwächt.

Erklären nach Erfahren

Was auf die richtige Fährte führt, ist die Tatsachenlogik. Erst in dem Moment, in dem das Kind im Zug hinfällt, weil er bremst, ist die Zeit für ein Wort angebracht: »Oh, das hat aber geruckelt. Setz Dich, ich puste.« Alles andere ist Nonsens. Wenn man´s nicht aushält, oder es zu gefährlich wird, muss man kreativ werden, das Kind umlenken, es für ein lustiges Spiel begeistern, eine Geschichte erzählen oder ähnliches. Die vorweggeschickte Erklärung jedenfalls, was alles aus welchen Gründen passieren könnte, schwächt die Vitalfunktionen des Kindes. Tatsachenlogik geht vor Verstandeslogik – ein Leitsatz für Elternhäuser und Kindergärten.

Wach sein und doch genießen können

Es sei allerdings nicht verschwiegen, dass es auch viele kleine Kinder gibt, die besonders wach in die Welt schauen und explizite Erklärungen finden. Die pädagogische Aufgabe besteht darin, diese Wachheit bewundernd anzuerkennen, als Begabung zu betrachten und zugleich Spielräume bereitzuhalten, in denen das Kind auch einmal träumen darf, sei es beim Wasserfarbenmalen, beim Puppenspiel oder beim Spaziergang im Wald, bei dem gelauscht, gespielt und genossen werden kann. All die ungefragten Erklärungen, die ständigen Fragen, wie es denn heute im Kindergarten war, behindern auch das schlaueste Kind im Ergreifen seines noch unvollkommenen Leibes. Dies treibt das Kind nur immer weiter in den Kopf. Herz und Hand haben das Nachsehen.

Kinder brauchen den Zauber der Zukunft

Ein Rest von Rätsel darf immer bleiben. Auch und gerade beim schlauesten Kind. Ja, es muss sogar dieser Rest von Zauber in der Welt bleiben, sonst wird die Welt nämlich langweilig und kalt: »Ja, ja, ich weiß, Wolken entstehen durch Kondensation wärmerer Luftschichten an kälteren.« Das Wunder der Schöpfung wird dann materialistisch, cool und abgeklärt begriffen. Es ist nur gesund für die seelische Entwicklung, wenn eine Frage nicht endgültig und abschließend beantwortet wird – das gilt übrigens auch für den Erwachsenen. Die Freude am Lernen, die Lust an der Entdeckung der Welt erhält sich ein Kind, wenn seine Fragen mitbewegt und nicht lexikalisch totgeschlagen werden. Wer auf die Kinderfrage »Woher kommt der Wind?« selbst um bildhafte Antworten ringt, sich selbst laut fragt, wo wohl der Wind zu Hause ist – vielleicht ja hinter den großen Bergen? –, der facht den Lerneifer mehr an, als die Mini-Vorlesung über den Ausgleich von Tiefdruck- und Hochdruckgebieten. Der inzwischen unpopuläre Satz »Das wirst Du dann in der Schule lernen!« ist dann eine Verheißung.

Auch Begriffe müssen wachsen

Es lohnt sich, einmal darauf zu schauen, wie sich beim Kind ein Begriff bildet. Soll das Wort »Sand« keine inhaltsleere Hülse bleiben, müssen wiederholt unreflektierte Wahrnehmungen gemacht werden. Nasser Sand, puderiger Sand, dunkler Sand, heller Sand, warmer Sand, kalter Sand, grober Sand, feiner Sand. Allerdings nicht nur einmal, sondern immer und immer wieder. Aus der Hirnforschung ist bekannt, dass eine neuronale Verknüpfung um so stärker wird, je häufiger die Erlebnisse, die zusammengehören, stattfinden. Neuronale Netze werden sogar zurückgebildet, wenn nicht ständig der Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Erlebnissen des Tastens, Riechens, der Farbe, des Geschmacks und Klangs erlebt wird.

Wenn der Marienkäfer gleich in ein komplexes Begriffssystem einsortiert wird, dann kann der Begriff »Käfer« nicht langsam und nachvollziehbar wachsen. Das kindliche Leben in der Welt der Erscheinungen, das zu einer breiten Begriffsgrundlage werden kann, wird dann durch den erwachsenen intellektuellen Zugang zur Welt gefriergetrocknet.

Die Kluft zwischen Ich und Welt wird nicht mehr selbstständig durch Beobachten, Wahrnehmen und Spielen überwunden, sondern von außen durch den klugen Kommentar. Das macht abhängig und unselbstständig. Wer das nicht will, mag sich bemühen, unreflektierte Primärerfahrungen zu ermöglichen. Und das ist eben etwas anderes als darüber zu reden.

Zum Autor: Philipp Gelitz ist Kindergärtner in Kassel.

Kommentare

ELFRIEDE NEHLS, Wangen im Allgäu, 26.12.13 16:12

Könnte mir jemand zur Untermauerung des ausgezeichneten Artikels die betreffenden Passagen in Rudolf Steiners Werk über Waldorfpädagogik nennen?
Ich habe die vor Jahren gelesen, kann sie aber nicht mehr finden.
Wenn die wichtigsten Links dazu gestellt werden könnten, würde der Wahrheitsgehalt des Artikels über jede Beliebigkeit hinaus gehoben sein.
Vielen Dank, Elfriede Nehls, fünf Kinder, zehn Enkelkinder, vier Urenkel.

Kommentar hinzufügen

* - Pflichtfeld

Folgen