Warum Kinder Märchen brauchen
Stellen Sie sich vor, es gäbe ein Zaubermittel, das ihr Kind stillsitzen und aufmerksam zuhören lässt, das gleichzeitig seine Phantasie beflügelt und seinen Sprachschatz erweitert, das es darüber hinaus befähigt, sich in andere Menschen hinein zu versetzen und deren Gefühle zu teilen, das auch noch sein Vertrauen stärkt und es mit Mut und Zuversicht in die Zukunft schauen lässt. Dieses Zaubermittel existiert: Es sind die Märchen, die wir unseren Kindern erzählen oder vorlesen. Märchenstunden sind die höchste Form des Unterrichtens.
Das Lernen geht bei Kindern (wie bei Erwachsenen) immer dann am besten, wenn es ein bisschen »unter die Haut geht«, wenn also die emotionalen Zentren im Gehirn aktiviert werden und all jene Botenstoffe vermehrt gebildet und freigesetzt werden, die das Knüpfen neuer Verbindungen zwischen den Nervenzellen fördern. Eine Möglichkeit, einen solch offenen, für das Lernen optimalen Zustand zu erreichen, ist das Spiel, in dem Kinder sich und die Welt entdecken. Eine andere, bei der Kinder etwas über die Welt und das Leben erfahren, ist die Märchenstunde. Die wirkt am besten, wenn das Märchen von jemandem vorgelesen oder erzählt wird, zu dem das Kind eine enge, vertrauensvolle Beziehung hat. Damit es richtig »im Bauch kitzelt« (die emotionalen Zentren im Gehirn also anspringen, aber nicht gleich überschießen und »Alarm« melden, weil das Kind in Angst und Schrecken versetzt wird), ist die Atmosphäre wichtig. Man kann dazu eine Kerze anzünden und die Märchenstunde zu einem richtigen Ritual machen. Das hilft Kindern, Ruhe zu finden und sich zu konzentrieren. Nur so können komplizierte Erregungsmuster in ihrem Gehirn aufgebaut und stabilisiert werden. Es ist nicht gleichgültig, wie ein Märchen erzählt oder vorgelesen wird. Das Kind muss merken, dass der Erzähler oder die Erzählerin selbst ebenfalls begeistert und betroffen, bestürzt oder erschüttert sind. Die emotionalen Funken können nur überspringen, wenn das Kind immer wieder angeschaut und das jeweilige Gefühl auch zum Ausdruck gebracht wird.
Dieser enge Kontakt zum Kind und die Rückversicherung, dass es noch emotional »dabei ist«, lässt sich beim Märchenerzählen besser erreichen als beim Vorlesen. Rekorder oder Videogeräte sind in dieser Hinsicht gänzlich ungeeignet, denn solche Apparate können sich einfach nicht auf die Reaktionen oder Äußerungen des Kindes einstellen. Sie lassen die Kinder mit ihren Gefühlen allein. Das Zaubermittel sind also nicht die Märchen per se, sondern die emotionale Beziehung zum Inhalt und den Personen des Märchens, auf die sich das Kind beim Hören des Märchens mit der einfühlsamen Hilfe des Erzählers oder Vorlesers einlässt.
Aber das ist noch nicht alles, denn im Gehirn derjenigen, die diese Märchen den Kinder erzählen oder vorlesen, passiert ja auch etwas. Alte Erinnerungen werden wach, nicht nur Erinnerungen an den genauen Inhalt der Geschichte, sondern vor allem Erinnerungen daran, wie es damals war, als einem als Kind diese Märchen erzählt wurden. Dann wird die Atmosphäre von damals wach, das schöne Gefühl, die Erfahrung der intensiven Begegnung mit einem lieben Menschen. All das taucht erneut deutlich spürbar aus dem Erfahrungsschatz der frühen Kindheit auf. Weil sie im Allgemeinen solche frühen, emotional positiv bewerteten Erinnerungen wachrufen, machen die alten Märchen auch uns Erwachsene auf eine geheimnisvolle Weise stark. Die innere Unruhe, die Sorgen und Ängste verschwinden. Märchen sind also auch Balsam für die Seelen von Erwachsenen.
Aber das ist noch immer nicht alles. Märchen transportieren nicht nur Geschichten, sondern auch die dazugehörigen Bilder, die in ihnen enthaltenen Botschaften von den Erwachsenen einer bestimmten Familie, Sippe, Gemeinschaft, also letztlich eines bestimmten Kulturkreises zu den in diesen Kulturkreis hineinwachsenden Kindern. Sie schaffen so eine gemeinsame Plattform von Vertrautem und Bekanntem, von den Mitgliedern dieser Gemeinschaft gestaltetem und innerhalb dieser Gemeinschaft sich ausbreitendem Wissen. Sie wirken daher identitätsstiftend und festigen auf diese Weise den Zusammenhalt einer Gemeinschaft. Mit anderen Worten: Märchen sorgen für den Zusammenhalt einer Kulturgemeinschaft.
Wie die Hirnforscher in den letzten Jahren mit Hilfe ihrer neuen, bildgebenden Verfahren zeigen konnten, werden die im Gehirn angelegten Nervenzellverschaltungen als Repräsentanzen von Denk-, Gefühls- und Handlungsmustern in viel stärkerem Maß als bisher angenommen durch eigene Erfahrungen geformt. Die für die eigene und kollektive Lebensbewältigung entscheidenden Erfahrungen werden von einer Generation an die nächste weitergegeben. Märchen sind ein Instrument der Überlieferung wichtiger Botschaften zur eigenen Lebensbewältigung und zur Gestaltung von Beziehungen. Sie haben einen entscheidenden Einfluss auf die Beziehungsfähigkeit, Kreativität und Vorstellungswelt menschlicher Gemeinschaften.
Gilbert Van Kerckhoven, Australien, 05.12.12 20:12
Hier in Australien behauptet ein ehemaliger Waldorflehrer, Steiner habe nie die Grimmschen Märchen als Erzählstoff empfohlen. Er meint, Steiner habe mit »Märchen« von Lehrern erfundene, eigene Erzählungen gemeint. Seine Behauptung begründet er damit, dass nirgendwo in Steiners Vorträgen für Lehrer oder in den Konferenzen die Grimmschen Märchen erwähnt werden. »Märchen« und »Grimmsche Märchen« seien zwei völlig unterschiedliche Dinge. Ich teile diese Meinung nicht und bin auf Eure Kommentare gespannt.
Andrea , Frankfurt a.M., 12.10.15 10:10
Grimms Märchen, damit bin ich auch groß geworden. Sicherlich regen Sie die Fantasie an, aber m.e. transportieren sie auch veraltete gesellschaftliche Modelle. So muss eine Prinzessin schön sein und schöne Frauen werden bevorzugt. Frauen sind meist Anhängsel vom König, wenn sie selber die Macht inne haben, sind es meist böse oder eigentlich Hexen.
Zwar ist vieles sicher in der Natur verankert, z.B. dass schöne Frauen von Männern zu Paarungszwecken eher erwählt werden, aber solche Märchen pflegen m.E. auch die Kultur und verankern schon im Kinderalter dieses Gedankengut.
Allerdings finde ich auf frei erfundene Märchen nicht unbedingt als positiv. Solche Märchen sollten gut durchdacht sein...
Märchen sollten zwar fantasievoll sein und durchaus in klassischen Märchenwelten stattfinden, aber den neuen Gesellschaftswerten angepasst werden.
Lucia Kreidler, 16.03.21 23:03
Die Sprache von guten wirklich alten unverfälschten Märchen sind Seelenbilder. So kann in einem Märchen das Herbeirufen der Brüder, das Herbeirufen des Denkens bedeuten und die Verbindung zwischen einem Gedanken und dem darauffolgenden Gefühl. Dies ist sehr schön zu lesen bei Eckhart Tolle in seinem Buch "Jetzt". Die alten Märchen beschreiben ja immer die seelischen Prüfungen die wir alle zu bestehen haben auf dem Weg der seelischen geistigen Entwiclung. Da geht es nicht um platte Rollenbilder der Gesellschaft, sondern um das Geschehen in einem selbst, die innere Bühne der inneren Stimmen, wie es Schulz von Thun und Andere beschreiben. So können gute Märchen sehr hilfreich bei seelischen Herausforderungen sein, aber man muss sie zu lesen wissen, mit dem inneren Auge.
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