Was Kinder brauchen, um sich gesund zu entwickeln
Peter Lang leitete über 20 Jahre das Waldorf-Kindergartenseminar in Stuttgart und war lange Jahre Vorstandsmitglied der »Internationalen Vereinigung der Waldorfkindergärten«. Er arbeitet als Dozent und Seminarbegleiter an verschiedenen Kindergartenseminaren im In- und Ausland. Derzeit ist er im Vorstand der »Vereinigung der Waldorf-Kindertageseinrichtungen Baden-Württemberg e.V.« und gibt die Schriftenreihe »Recht auf Kindheit – ein Menschenrecht« heraus.
Gabriele Jehn | Herr Lang, was sind die elementaren Grundbedürfnisse von Kindern?
Peter Lang | Das eine ist das Bedürfnis nach Verbundenheit, Geborgenheit und Sicherheit. Das andere ist das Bedürfnis, Neues zu erfahren und Aufgaben nachzugehen, an denen man wachsen kann. Deshalb sind alle Kinder so offen, so entdeckerfreudig und so gestaltungshungrig.
GJ | Und was ist die wichtigste Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung?
PL | Die Liebe. Der Schweizer Pädagoge Heinrich Pestalozzi beantwortete die Frage, was denn Erziehung sei so: »Erziehung ist Beispiel und Liebe – sonst nichts!« Eltern und Erzieher, die Kinder vorbehaltlos annehmen, so wie sie sind, die nicht aus ihren Kindern etwas »machen« wollen, die den Kindern das Gefühl tiefer Verbundenheit schenken, die sie ermutigen, die eigenen Fähigkeiten und Kräfte zu entwickeln, die ihnen Orientierungshilfe sind: All dies macht wahrnehmbare, erlebbare Liebe aus.
GJ | Viele Eltern meinen, Kinder sollten schon im Kindergarten zum Lernen angehalten werden, Sie aber sagen, Kindheit bedeutet Spielzeit. Warum ist das Spielen so wichtig für Kinder?
PL | Das kindliche Spiel ist eine weitgehend freie, aus dem Kind heraus sich entfaltende Aktivität, in der Phantasie, Bewegungsfreude, die Lust am puren Tätigsein und ein hohes Maß an Selbstbestimmtheit in Erscheinung tritt. Dabei lernt das Kind in intensiver Weise, aber es ist eine ganz andere Form des Lernens als zum Beispiel in der Schule oder als das Erwachsenen-Lernen.
Im Spiel setzt sich das Kind handelnd, fühlend und denkend in Beziehung zur Welt. Bereits im ganz kleinen Kind, das den Kopf hebt, sich auf die Arme stützt, zum Sitzen kommt und immer wieder übt, bis es steht und die ersten Schritte macht, wird dieser unbändige Tätigkeitsdrang sichtbar.
Zwischen dem dritten und dem fünften Lebensjahr gesellt sich zum reinen Tätigkeitsdrang die Spielphantasie. Sie schafft gleichsam die Welt neu. Hier wird der Boden bereitet, auf dem die aktive Kreativität des späteren Erwachsenen sich entfalten kann.
Dann, zwischen dem fünften und siebten Lebensjahr durchdringen mehr und mehr Vorstellungs- und Verstandeskräfte das Spiel des Kindes, seine Gedächtniskräfte nehmen zu, es reift zum sozialen Wesen. Die Kinder organisieren nun ihr gemeinsames Spiel, entwickeln Regeln, planen und treffen Verabredungen. Diese dritte Qualität des kindlichen Spiels bereitet die spätere Fähigkeit zur klaren gedanklichen Durchdringung der Weltzusammenhänge vor.
GJ | Immer mehr breiten sich virtuelle Welten um uns herum aus. Warum ist es wichtig, dass Kinder unmittelbare Erfahrungen machen?
PL | Kinder brauchen ein waches Bewusstsein für das, was um sie herum und in ihnen geschieht. Das entwickelt sich vor allem mit dem Vertrauen in die eigene Wahrnehmungskraft. Deshalb brauchen Kinder in den Jahren vor der Schule (und auch später) verlässliche, unverfälschte Sinneseindrücke. Auch die später erforderliche Medienkompetenz bedarf einer entsprechenden pädagogischen Grundlage: Kinder sollen, um die Welt wirklich erkennen zu können, mit ihr in direkter Weise in Wechselwirkung treten. Auf diese Weise erwerben sie ihre Sinnes- und Wahrnehmungskompetenz.
GJ | Wie lernen Kinder Werte?
PL | Kinder wie Erwachsene brauchen zur eigenen Lebensgestaltung seelisch-geistige Orientierung, Wertvorstellungen und Aufgaben, an denen sie wachsen und mit denen sie sich innerlich verbinden können. Kinder brauchen Freiheit und Regeln, Rituale, Klarheit und Wahrhaftigkeit. Dabei kann es nicht darum gehen, ihnen Moral zu predigen. Wer Kindern Moral predigt, lehrt sie höchstens das Predigen, nicht aber die Moral. Es kommt also darauf an, dass Kinder Erwachsene erleben, die »echt« sind, die sich selbst immer wieder um Klarheit und Wahrhaftigkeit bemühen, die einen liebevollen und verantwortungsbewussten Umgang mit anderen Menschen und mit der Natur pflegen. Sie wollen Dankbarkeit erleben – etwa in einem Tischspruch, sie wollen Eltern und Erziehern begegnen, die sich um Alte, Kranke oder Menschen in Not kümmern, die sich in Vereinen oder politisch engagieren und die versuchen, das soziale Leben liebevoller und mit weniger Hass, Gier, Neid und Missgunst zu gestalten.
GJ | Immer mehr Kinder bekommen den Stempel »hyperaktiv«. Wie motiviert man Kinder und wie lernen sie, sich zu konzentrieren?
PL | In der Kindergartenarbeit allgemein kann es nicht darum gehen, kranke Kinder medizinisch zu behandeln, aber es geht auf jeden Fall darum, vorbeugend tätig zu werden, zumal viele dieser kindlichen Störungen Auswirkungen »moderner« Lebensweisen sind, in denen Zeitmangel, Hektik, Stress, Leistungsdruck, Lärm und Medienkonsum die Kinder in ihrer gesunden Entwicklung behindern.
Kleine Kinder sind neugierig und lassen sich rasch ablenken; dies gehört zu ihrem Wesen. Genauso wichtig ist es aber, dass die allgemeine Hektik, das Oberflächliche oder die Langeweile sich nicht im Kindergarten ausbreiten. Regelmäßige Wiederholungen und rhythmisierende Gestaltungselemente im Tagesablauf bis hin zum Erleben des Jahreslaufes mit seinen vielen Höhepunkten und Jahresfesten helfen mit, die Konzentrationsfähigkeit der Kinder zu stärken. Dabei ist zu beachten, dass nicht die Überfülle der Angebote die Motivation zum Tun fördert, sondern genau umgekehrt: »Weniger ist mehr«.
Link: www.spielundzukunft.de
Literatur:
Marie-Luise Compani, Peter Lang (Hrsg.): Waldorfkindergarten heute – Eine Einführung, Stuttgart 2011 | Schriftenreihe: Recht auf Kindheit – ein Menschenrecht. Hrsg. Vereinigung der Waldorfkindergärten.
Bestellungen per Fax: 07 11/26 84 47-44 oder per E-Mail: a.steller(at)waldorfkindergartenseminar.de
Bärbel Kahn, Hannover, 12.01.14 18:01
Sehr geehrter Herr Lang,
ich möchte mich bei Ihnen für Ihren Beitrag bedanken.
Seit mehr als 12 Jahren bin ich als entwicklungsorientierte Lerntherapeutin tätig und mein erstes Augenmerk gilt der Gesundheit der Kinder. Die elementaren Grundbedürfnisse nach Geborgenheit, Verbundenheit und Sicherheit sind heute mehr denn je für viele Kinder nicht mehr oder zu wenig erlebbar. Wahrnehmbare, erlebbare Liebe, die Kinder vorbehaltlos annehmen, kann das unsere heutige Elterngeneration noch? Ich erlebe, wie die Herzenskräfte mehr und mehr "verschwinden", Dinge als selbstverständlich angenommen werden, ohne sie zu hinterfragen. Die Liebe erlebbar machen, das ist eine unserer größten Zeitaufgaben.
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