Welches Temperament hat mein Kind?

Von Michaela Glöckler, April 2021

Wer das Glück hat, an Waldorfkindergärten und Schulen schulärztlich tätig zu sein, hat oft Gelegenheit, Kinder im alltäglichen Umgang miteinander zu beobachten: im Freispiel, bei den Mahlzeiten, bei Spiel und Gesang, beim Aufräumen, beim Ankommen und Sich-wieder-Verabschieden. Bei diesen Gelegenheiten treten die sogenannten Temperamente deutlich hervor – eine besondere Mischung von ganz Individuellem und doch auch wieder so Typischem.

Foto: © Charlotte Fischer

Hinweis: Der Artikel erschien im Winterheft 2020 der Zeitschrift »Frühe Kindheit«. Das Heft können Sie hier bestellen. Hefte, die älter als ein Jahr sind, stehen in unserem Archiv zum Download für Sie bereit.


Es ist hilfreich, sich einen klaren Begriff von den Temperamentseigenschaften zu machen. Nicht um Kinder in irgendeiner Weise zu klassifizieren. Vielmehr geht es darum, Einseitigkeiten frühzeitig zu erkennen und den betroffenen Kindern zu helfen, damit weder sie selbst, noch die Menschen in ihrem Umkreis – vor allem später – darunter zu leiden haben. Um dies zu können, braucht es jedoch auch eine gewisse Selbsterkenntnis beim Erwachsenen.

Wer bei sich bestimmte Einseitigkeiten erkennt und daran zu arbeiten beginnt, der entwickelt nicht nur selbst ein harmonischeres Persönlichkeitsprofil, sondern wird dadurch auch sensibler dafür, wie er den Kindern am besten gerecht wird, die ihm anvertraut sind. Ganz abgesehen davon, dass sie unser Bemühen in einer solchen Richtung ja auch nachahmen und uns – zumindest in der Vorschulzeit – uneingeschränkt als Vorbild nehmen.

Woran erkenne ich ein cholerisches Kind?

Cholerische Kinder fallen schon früh durch eine besondere innere Stärke auf. Man empfindet sie als »temperamentvoll«. Dies zeigt sich an einem erstaunlichen Durchhaltevermögen – sowohl was kraftvolles Brüllen im Säuglingsalter anbelangt, als auch später, wenn im 3./4. Lebensjahr das klassische Trotzalter beginnt. Im Kindergarten können sie bereits Führungsrollen übernehmen, indem sie Aufgaben verteilen, andere Kinder zurechtweisen und unter Umständen jähzornig reagieren, wenn irgendetwas nicht so läuft, wie sie es sich vorgestellt haben.

Das führt dann nicht selten auch zu Konflikten, körperlichen Aggressionen, Wutausbrüchen und Tränen.

Wenn man sie beim Gehen beobachtet, fällt auf, dass sie schon bereits gut mit der Ferse auftreten können und ein dynamisch-kräftiges Gangbild haben. Befinden sich mehrere cholerische Kinder in einer Kindergartengruppe, kann dies für die Erzieher recht anstrengend werden, weil diese Kinder bisweilen buchstäblich mit dem Kopf durch die Wand wollen und sich und ihre Umwelt im Zorn durchaus vergessen können.

Dann können sie auch um sich schlagen, kratzen, beißen und treten.

Nicht umsonst sagt man im Volksmund, dass einem die Galle überläuft – und genau daher kommt auch der Name: vom griechischen »Cholae«, für Galle.

Ist mein Kind sanguinisch?

Ein sanguinisches Kind zu erkennen, ist gar nicht so leicht – denn eine gewisse Sanguinik ist allen Kindern im Vorschulalter eigen. Das Wort »Sanguiniker« leitet sich aus dem lateinischen Wort »sanguis« für Blut ab. Die Haupteigenschaft des Blutes ist, dass es zirkuliert und auch feinste periphere Zellstrukturen ernährt, mit Sauerstoff versorgt sowie Giftstoffe abtransportiert.

Es ist immer in Bewegung und schafft es auch mühelos, entgegen der Schwerkraft, das Blut aus den Füßen wieder zurück zum Herzen zu bewegen. Entsprechend leichtfüßig sind diese Kinder, ihr Gang ist flink, manchmal fast huschend und sie haben eine große Freude daran, Abhänge herunter zu sausen. Wenn sie fallen, gibt es in der Regel kein Riesentheater, weil sie sich leicht trösten und ablenken lassen. Wenn es ihnen gut geht, sind sie sozusagen Lebensfreude pur. Kündigt sich eine Krankheit an oder haben sie sonst einen Grund, sich nicht gut zu fühlen, wirken sie schnell erschöpft und müde und können lange schlafen. Sie gehen gern auf andere zu, wirken freundlich und sozial, indem sie sich leicht an andere anschließen, irgendwo mitmachen, ohne sich selber groß Geltung zu verschaffen.

Wie erkenne ich ein phlegmatisches Temperament?

Das Wort »Phlegma« kommt ebenfalls aus dem Griechischen und heißt Schleim. In der mittelalterlichen Alchemie wurde das Wort aber auch benützt im Sinne von Glut und Hitze, zum Beispiel für den heißen Rückstand von alkoholischen Verbindungen, also etwas, was der Hitze standhält, was Ruhe bewahren kann. Phlegmatische Kinder sind nicht leicht erregbar. Sie ruhen in sich selber und können durchaus auch teilnahmslos und abwesend wirken. Sie sind sich sozusagen selbst genug und schwer zu etwas zu bewegen. Auch sind sie gute Futterverwerter und essen gern, weswegen man darauf acht geben muss, dass sie nicht adipös werden.

Das melancholische Kind

Melancholische Stimmungen kennt jeder – das Wort »Melancholie« stammt aus der griechischen Wortverbindung von »melas« (schwarz) und »cholae« (Galle). Damit ist ausgedrückt, dass die oft große innere Stärke melancholischer Menschen nicht nach außen explodiert wie beim Choleriker, sondern nach innen. Es fällt ihnen nicht leicht zu sagen, was sie bewegt, umso leichter fällt es melancholischen Kindern hingegen, in Tränen auszubrechen und anhaltend zu weinen.

Schmerzliche Erlebnisse können immer wieder aufbrechen und neu erlebt werden, wenn sich eine Situation wiederholt, die zu dem schwierigen Erlebnis geführt hat oder ein Gegenstand wieder ins Blickfeld rückt, der dafür verantwortlich war. Traumatische Erfahrungen gehen bei ihnen besonders tief und bestimmen nicht selten das Schicksal, etwa, indem sie die spätere Berufswahl beeinflussen.

Kann man, soll man, darf man Temperamentseigenschaften erzieherisch beeinflussen?

Nicht nur bezüglich ihrer Temperamentseigenschaften, sondern ganz generell lassen viele Eltern heute ihre Kinder in jeder Beziehung gewähren. Man will nicht eingreifen, nicht übergriffig werden – die Kinder sollen sich doch frei entfalten dürfen. So berechtigt dieser Respekt vor der Freiheit des anderen – auch der eigenen Kinder – ist, so wichtig ist jedoch auch, sich immer wieder zu fragen, warum Menschen überhaupt Erziehung brauchen? Und warum es gerade über dieses Gebiet so viele verschiedene Ansichten gibt?

Die Natur gibt uns Menschen hier kein Vorbild – Pflanzen und Tiere entwickeln sich von Natur aus zu der ihnen eigenen Vollkommenheit. Der Mensch hingegen nicht – vieles hängt bei ihm davon ab, in welchem Umfeld er aufwächst, welche Vorbilder er hat, an welchen Menschen er sich orientiert und wem er nacheifert. Da ist es schon wichtig, sich zu fragen: Wie kann mein Kind an mir erleben, dass ich mich auch weiter entwickele, dass ich Ziele – einen inneren Kompass – habe und weiß, was ich will? Im Vorschulalter leben Kinder noch so stark in der Nachahmung, dass die Forderung, sie sollten alles Mögliche selbst entscheiden, letztlich zu Unzufriedenheit und Unsicherheit führt, weil sie auch unsere eigene Unsicherheit mitempfinden und unbewusst nachahmen.

Was können wir tun?

Aus den oben charakterisierten typischen Temperamentseigenschaften kann man unschwer entnehmen, welches die positiven Seiten sind und wo die damit verbundene Einseitigkeit Gefahren birgt. Zunächst gilt es, diese Temperamentseigenschaften bei sich selbst zu studieren und sich zu fragen: Unter welchen Bedingungen geht die Wut mit mir durch? Wodurch lasse ich mich ablenken und zu Inkonsequenzen und Unzuverlässigkeit verleiten? In welchen Situationen kann ich total stur bleiben und mich unzugänglich zeigen? Und was geht mir so unter die Haut, dass ich tagelang nicht davon loskomme und depressiv verstimmt bin? Je besser man das bei sich selbst studiert und sich fragt, soll das so bleiben oder würde ich diese Temperamentseigenschaften gerne besser selber steuern können und im Griff haben, umso klarer kann man dann auch bei seinen Kindern sehen, wie man sich verhalten muss, um positiv regulierend auf ihre Temperamentseigenschaften zu wirken.

Denn hier gilt das aus der Homöopathie bekannte Simile-Prinzip, dass Gleiches mit Gleichem geheilt wird. D.h. je besser man seine eigenen Temperamentseigenschaften in die Hand bekommt, umso bewusster kann man sie den Kindern gegenüber handhaben bzw. pädagogisch motiviert einsetzen. Bringt man sich selbst in die Temperamentsstimmung, in der das Kind gerade in einer gewissen Einseitigkeit gefangen ist, d.h. tritt man dem Choleriker kontrolliert cholerisch gegenüber, dem Sanguiniker sanguinisch, dem Phlegmatiker phlegmatisch und kann man mit dem melancholischen Kind mitschwingen, so erlebt das Kind, wie der Erwachsene diese Eigenschaften handhabt.

Ein Choleriker braucht klare Grenzen, sodass er sich seiner eigenen Kraft bewusst wird, aber auch spüren lernt, wo der Geltungsbereich der anderen beginnt.

Dem Sanguiniker verhilft man zu mehr Achtsamkeit, wenn man ihm eine gute Tagesstruktur mit regelmäßigen Essens- und Schlafenszeiten geben kann. Wohltuend ist es auch, mit ihm kleine Arbeiten zu Ende zu führen und nicht halbfertig liegen zu lassen.

Dem Phlegmatiker hilft, wenn man immer wieder für Überraschungen sorgt, die ihn für Momente aus dem gewohnten Trott herausholen. Das kann ein kleiner Schreck sein, an dem man das Kind teilhaben lässt, das können künstlerische Momente sein, wie Singen oder ein lustiges Verslein.

Für das melancholische Kind ist hingegen entscheidend, dass es sich verstanden fühlt. Denn es erlebt früher als andere, wie schmerzlich Unverstandensein und Einsamkeit sein können. Hilfreich ist auch ein Hinweis Rudolf Steiners, dass Kinder in der Vorschulzeit noch stärker im Erleben der Gegenfarbe leben, die das Auge erzeugt, wenn es auf eine farbige Fläche blickt, als im Erleben der unmittelbar wahrgenommenen Farbe. Sehr oft wählen Kinder sogar spontan die Farbe, die zu ihrer Temperamentseinseitigkeit passt:

  • Rot für den Choleriker
  • Gelb für den Sanguiniker
  • Grün für den Phlegmatiker
  • Blau für den Melancholiker

Es macht Kindern Freude, wenn sie beispielsweise ihren Waschlappen, ihr Handtuch im Badezimmer an der Farbe erkennen, »die zu ihnen gehört«, und auch entsprechende Kleidungsstücke bekommen. Denn immer wenn sie diese Farbe sehen, erzeugt das Auge die Gegenfarbe.

Das ist beim Rot das beruhigende ausgleichende Grün, beim Gelb das beruhigende Blau, beim Grün das aktivierende Rot und beim Blau das erheiternde Gelb.

Es ist dies eine physiologische Wirkung, die harmonisierend auf das Temperament zurückwirkt. Ich habe in meiner kinderärztlichen Sprechstunde immer wieder erleben können, wie segensreich sich solche kleinen bewussten Handhabungen auswirken können. Es gibt auch Waldorfkindergärten, in denen die Kinder zum Spielen unterschiedlich gefärbte Kittel anziehen dürfen – je nach Temperament.

Das Temperament in der Selbsterziehung des Erwachsenen

Sich einzugestehen, mit welchen Einseitigkeiten in der eigenen Persönlichkeitsstruktur man zu kämpfen hat, ist hilfreich – auch in Partnerschaft und Ehe. Oft kann der Partner das eigene Temperament viel klarer erkennen als man selbst. Schafft man es dann, darüber humorvoll ins Gespräch zu kommen, sich darin zu unterstützen, an diesen Einseitigkeiten zu arbeiten, wenn sie sich störend auf das Familienleben auswirken, schafft das ein Klima, in dem Kinder sich besonders wohl fühlen.

Nichts ist schöner, als in einer Gemeinschaft zu leben, in der man sich gegenseitig so akzeptiert, wie man ist und dennoch hilft, in der Entwicklung vorwärts zu kommen. In der Selbstschulungsschrift von Rudolf Steiner »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« gibt insbesondere das erste Kapitel eine gute Voraussetzung für die Arbeit am eigenen Temperament.

Seit wann kennt man die Temperamente und wie kann man sie heute verstehen?

Die Lehre von typischen konstitutionellen Eigentümlichkeiten ist so alt wie die ersten Überlieferungen medizinischer Systeme.

Sie fußen auf der Lehre von den fünf Elementen, einer spirituellen Sicht auf Kosmos, Natur und Mensch. In der Traditionellen chinesischen Medizin (TCM) werden diese fünf Elemente als energetischer Kreislauf im Spannungsfeld der kosmischen und irdischen Energiefelder von Yin und Yang beschrieben. So wird das Element Holz (grün) vom Feuer (rot) verbrannt, die dabei entstehende Asche lässt die feste Erdsubstanz (gelb) entstehen, diese verdichtet sich unter hohem Druck, was zur Bildung von Metall (grau) führt, das mithilfe von Wasser (blau) in Lösung geht und zusammen mit anderen Mineralien an die Erdoberfläche tritt und Pflanzen und damit auch Holz ernährt.

Entsprechend findet auch im menschlichen Organismus ein ständiger Wandel statt. Finden die unterschiedlichen Kräfte im richtigen Maß (»temperamentum«) zueinander und gleichen sich immer wieder harmonisch aus, so bedeutet dies Gesundheit. Gelingt dies nicht, hat dies Krankheitssymptome zur Folge.

Selbstverständlich handelt es sich bei diesen fünf Elementen nicht um materielle Stoffe, sondern um komplexe, regulierende Gesetzmäßigkeiten, die man sowohl im Jahreskreislauf und ökologischen Gleichgewicht der Natur als auch im menschlichen Organismus beobachten kann. Im altindischen Medizinsystem des Ayurveda finden sich diese regulierenden Gesetzeszusammenhänge in der Form, wie sie sich dann später auch in Europa als Lehre von den vier Elementen und dem fünften Prinzip etabliert haben.

Im Unterschied zur chinesischen Begrifflichkeit geht es hier bereits um fassbare Gesetzeszusammenhänge – auch im Sinne der modernen Naturwissenschaft. Denn hier erkennt man unschwer wieder, was die moderne Physik als Aggregatszustände der Materie bezeichnet: fest, flüssig, gasförmig – ergänzt durch die Wärme, deren Gesetzmäßigkeiten man heute im Forschungsgebiet der Thermodynamik zusammenfasst.

Das fünfte Prinzip nannten die alten Inder Akasha, die griechischen Philosophen Äther.

Ihm entspricht nichts mehr im materiellen Dasein, weswegen das »fünfte Element« von der Natur-wissenschaft heute ignoriert wird:

Die Lehre von den vier Temperamenten im engeren Sinn entsteht erst auf der Grundlage der »Vier-Säfte-Lehre«, der Humoralpathologie, die auf den griechischen Weisen und Arzt Hippokrates (ca. 460–370 v. Chr.) zurückgeht. Er lehrte das Zusammenwirken der vier Säfte unter den Bezeichnungen gelbe Galle, schwarze Galle, Schleim und Blut, die bei jedem Menschen auf gesunde oder krankhafte Weise gemischt sind. Später haben sich die lateinischen Ausdrücke für diese vier Säfte eingebürgert: Cholera, Sanguis, Phlegma und Melancolia. Gesundheit und Krankheit im Körperlichen und Seelischen wurden auf Gleichgewichts- und Ungleichgewichtsverhältnisse bzw. eine optimale oder problematische Mischung dieser vier Säfte-Regulierungen zurückgeführt. Dem Wort für die geeignete Mischung – Temperamentum – verdankt die Lehre von den vier Temperamenten dann letztlich ihren Namen. Mit Beginn der Neuzeit und der Entwicklung der Naturwissenschaften verlor diese medizinische Anschauung zunehmend an Bedeutung und gilt heute als »unwissenschaftlich«. Umso interessanter ist es, dass Rudolf Steiner mit einem ganz neuen Ansatz an diese alte Tradition anknüpft. In der von ihm entwickelten anthroposophischen Menschenkunde geht er ebenfalls von vier Gesetzeszusammenhängen aus, die er Wesensglieder nennt:

 

 

Die obige Abbildung zeigt die vier Gesetzmäßigkeiten einerseits als körperbezogen tätig in der festen, flüssigen, gasförmigen und warmen menschlichen Körperkonstitution. Andererseits in ihrer im Laufe von Wachstum und Entwicklung zunehmend außerkörperlichen Betätigung in dem sich entfaltenden Gedanken-, Gefühls- und Willensleben, die das menschliche Seelenleben ausmachen. Das fünfte Prinzip wird also nicht mit dem schwer fassbaren Begriff Akasha oder Äther im Allgemeinen beschrieben, sondern differenziert als die menschliche Gedanken-, Gefühls- und Willenskompetenz. Darin lebt die Auffassung, dass dieselben Gesetzmäßigkeiten, die den Körper als Wesensglieder aufbauen, sich sozusagen nach getaner Arbeit von diesem wieder emanzipieren können und als rein spirituelle Kraftsysteme für das menschliche Denken, Fühlen und Wollen zur Verfügung stehen. Dadurch kann verständlich werden, wieso das seelische Erleben und Reagieren der körperlichen Kon-stitution einerseits verwandt ist und andererseits beide sich auch gegenseitig beeinflussen.

Herrscht die physische Organisation vor und damit der Bezug zum festen Erdelement, das insbesondere den Gravitationskräften unterliegt, so kommt es zum melancholischen Temperament.

Herrscht die Gesetzmäßigkeit vor, die sich der Gravitation als Auftriebskraft entgegenstellt, so entsteht zwischen der Schwere und dem Auftrieb eine Art Gleichgewichtslage, deren Erleben den phlegmatischen Temperamentsausdruck bestimmt.

Herrschen hingegen die Gesetzmäßigkeiten vor, die sich in der Luft manifestieren und nach allseitiger Ausbreitung streben, so ist das sanguinische Temperament die Folge. Überwiegen jedoch die Gesetzmäßigkeiten der Wärme, so führt dies zum hitzig-cholerischen Temperament.

Das fünfte Prinzip hingegen ermöglicht uns die Selbstdistanzierung und die darauf gründende Arbeit an uns selbst und unserem Verhalten. Warum ist sie so wichtig? Weil wir in dieser selbst gewollten Arbeit an uns, unser eigenes schöpferisches Wesen wahrnehmen können. Tun wir nur, was die Umwelt von uns fordert und wozu uns unsere Natur drängt, so kommen wir nicht wirklich zu uns selbst: Wir können uns selbst nicht finden. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Temperament kann ein Weg dazu sein. Nachstehendes Gedicht von Heinrich Peitmann fasst die charakterisierten Grundeigenschaften der menschlichen Persönlichkeit noch einmal eindrücklich zusammen:

Die vier Temperamente und der Stein im Weg

Leicht springt über den Stein der Sanguiniker keck und mit Anmut,
Stolpert er trotzdem darob, macht er sich wenig daraus.
Grimmig stößt ihn beiseite des Cholerikers kräftiger Fußtritt,
Und sein funkelndes Aug’ freut sich des guten Erfolgs.

Kommt das Phlegma daher, so hemmt es gemäßigt die Schritte:
»Gehst du mir nicht aus dem Weg, gehe ich eben herum.«
Aber grübelnd vor ihm bleibt der Melancholiker stehen,
Unzufrieden’nen Gesichts über sein ewiges Pech.

 


Literatur: M. Glöckler, W. Goebel, K. Michael: Kindersprechstunde. Ein medizinisch-pädagogischer Ratgeber, Stuttgart 2018 | M. Glöckler: Kita, Kindergarten und Schule als Orte gesunder Entwicklung, Stuttgart 2020 | A. Berner-Hürbin: Hippokrates und die Heilenergie. Basel 1997, S. 298 ff. | G. Scheer-Krüger (Hrsg.): Das offenbare Geheimnis der Temperamente, Dornach 1996 | D. Sixel (Hrsg.): Rudolf Steiner über die Temperamente, Dornach 1990 | R. Steiner: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? GA0, Dornach 1993 | R. Svoboda, A. Lade: Ayurveda und Traditionelle chinesische Medizin. Die beiden ältesten Heilsysteme der Welt im Vergleich. Bern, München, Wien 2002.

5-elemente.org/de/5-elemente-uebersicht.html

Zur Autorin: Dr. med. Michaela Glöckler war Kinderärztin am Gemeinschaftskrankenhaus in Herdecke und an der Universitäts-Kinderklinik in Bochum und Schulärztin in der Rudolf-Steiner-Schule in Witten. Von 1988-2016 leitete sie die Medizinische Sektion am Goetheanum.

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