Wie viel Wärme braucht mein Baby?
Wir Menschen leben mit einer im Tagesrhythmus geringfügig schwankenden Körpertemperatur von ca. 37°C. Diese erhalten wir aufrecht, auch wenn die Außentemperatur höher oder niedriger ist. Nur wenn wir diesen Ausgleich zwischen innen und außen herstellen, fühlen wir uns wohl.
Hinweis: Der Artikel erschien im Frühlingsheft 2021 der Zeitschrift »Frühe Kindheit«. Das Heft können Sie hier bestellen. Hefte, die älter als ein Jahr sind, stehen in unserem Archiv zum Download für Sie bereit.
Wenn es draußen schneit, bewegen wir uns schneller, nehmen kalorienreiches Essen zu uns und ziehen uns warm an. In der Sommerhitze werden wir träge, schwitzen, trinken viel und suchen Kühlung.
Auch unser seelisch-geistiges Leben beschreiben wir mit Wärmequalitäten.
Freude, Sympathie und Begeisterung assoziieren wir mit Wärme – Gleichgültigkeit, Antipathie oder Herzlosigkeit mit Kälte. So schafft unser Organismus ein Wärmegefüge von annähernd gleichbleibendem Niveau und hält es gegen Einflüsse von innen und außen aufrecht. Beim Neugeborenen haben wir eine völlig andere Situation.
Die Wärmephysiologie des Neugeborenen
Während der Embryonalentwicklung ist der heranwachsende Keim zunächst vom Amnion als schützender und nährender Hülle umgeben. Eingebettet in die Gebärmutter ermöglicht sie ein gesundes Heranreifen. Den Fötus umgibt das Fruchtwasser, das die Temperatur des mütterlichen Organismus hat. Bei der Geburt werden dem Neugeborenen die nährenden, schützenden und wärmenden Hüllen entrissen. Mit der Abnabelung emanzipiert sich sein Blutkreislauf, die Umgebungstemperatur wird nicht mehr durch den mütterlichen Organismus reguliert. Da der Wärmeorganismus des Neugeborenen nach der Geburt noch nicht ausgereift ist, verliert es unbekleidet und ohne Hautkontakt seine Eigenwärme vor allem über den im Verhältnis zum Körper sehr großen Kopf. Auch über die noch geöffnete Fontanelle verliert es viel Wärme. Deshalb hüllen Eltern ihr nacktes Neugeborenes instinktiv mit ihren warmen Händen und Armen ein. Die Hebamme sorgt für einen warmen Raum und hält vorgewärmte Tücher bereit. In dieser Geste des Hüllens fühlt sich das Kind willkommen, gehalten, sicher und geborgen.
Das Neugeborene ist mit braunem Fettgewebe ausgestattet, das rund fünf Prozent seines Körpergewichts ausmacht. Dieses für das Neugeborene spezifische Fettgewebe kann selbst Wärme produzieren, erstreckt sich über den ganzen Körper und ist im Nacken besonders konzentriert. Wenn es dort kühl ist, braucht das Baby mehr Wärme. Schwitzt es dort, darf es leichter bekleidet sein.
Die Wärmebildung durch Nahrung und Bewegung gleicht die Wärmeabstrahlung nicht vollständig aus. Das Neugeborene braucht eine wärmeregulierte Umgebung, entsprechende Bekleidung und die seelische und körperliche Wärme der Mutter. Nur so kann es vor Auskühlung und Überwärmung geschützt werden. Es ist darauf angewiesen, dass von außen für ausreichend Wärme und Hülle gesorgt wird. Bei einer Körpertemperatur unter einem Grad des normalen Messwerts verbraucht der kleine Organismus das Dreifache an Sauerstoff. Dies beeinflusst Gewichtsentwicklung und Reifung. »Kühle« Neugeborene haben ein höheres Risiko, eine Neugeborenengelbsucht zu bekommen. Hier kann die noch unreife Leber durch warme Be-kleidung, Stoffwindeln mit Wollüberhosen und Wärmeauflagen unterstützt werden (Edmond Schoorel: Wärme und ihre Bedeutung für das heranwachsende Kind).
Mutter und Kind bilden beim Stillen eine eindrückliche Wärmesymbiose. Dies ist anders bei Kindern, die mit der Flasche ernährt werden, wie eine Aufnahme mit der Wärmebildkamera zeigt:
Die Wärmebildkamera zeigt signifikant höhere Temperaturen beim gestillten Kind und der Mutter. Beachten Sie die kühle Nase und kühlen Hände auf dem unteren Foto.
Praktische Hinweise zur Pflege des Wärmeorganismus
Ein kleiner Exkurs zu den wichtigsten Naturfasern kann aufzeigen, welche Fasern für eine wärmeregulierende Bekleidung geeignet sind. Die Schafschurwolle steht an erster Stelle. Sie schützt vor Kälte und Hitze. Die Wollfaser besteht wie das Haarkleid des Menschen aus Keratin, einer Eiweißfaser. Die besonders weiche Schurwolle des Merinoschafes
eignet sich gut für Unterwäsche und strapazier-fähige Bekleidung.
Wollfett (Lanolin) sorgt dafür, dass sich die Faser an der Luft regeneriert, Gerüche neutralisiert und sich auf der Haut nicht kratzig anfühlt. Es ist ein wertvoller Bestandteil vieler Cremes und Kosmetika.
Lanolin verbraucht sich und muss deshalb von Zeit zu Zeit wieder zugefügt werden, insbesondere wenn die Schurwolle z.B. die Nässe einer Windel abweisen soll. Die gekräuselte Faser schließt viel Luft ein. Dies erklärt die isolierenden und regulierenden Wärmeeigenschaften.
Die Schurwolle kann etwa 40 Prozent ihres Eigengewichts an Feuchtigkeit aufnehmen, ohne sich nass anzufühlen. Als Heilwolle wird sie auf den wunden Po aufgelegt, sie lindert als Brustauflage den Husten, pflegt die Brustwarzen der stillenden Mutter oder entkrampft bei Verspannungen.
Eine weitere besondere Naturfaser ist die Seide. Sie besteht aus dem bis zu vier Kilometer langen Eiweißfaden des Kokons der Seidenspinnerraupe. Trotz ihrer Zartheit bietet die Seide guten Schutz, z.B. gegen die Sonnenstrahlung. In der Kombination von Schurwolle und Seide verbinden sich die Robustheit der Wolle mit der Eleganz und Glätte der Seide. Um Hautirritationen durch Pestizidrückstände zu vermeiden, sollten die Fasern aus kontrolliert biologischem Anbau stammen. Das wertvolle Naturprodukt braucht besondere Waschmittel, z.B. Wollshampoo. Eine Bekleidung aus diesen Materialien ist ideal für Mensch, Natur und Umwelt, denn sie ist nachhaltig, wärmend und heilend.
Die dritte Faser, die in der Bekleidung des kleinen Kindes eine wichtige Rolle spielt, ist die Baumwolle. Baumwolle ist eine Zellulosefaser, also ein Kohlenhydrat. Konventionell angebaute Baumwolle beinhaltet Chemikalien und Zusatzstoffe, die erst durch häufiges Waschen verschwinden. Deshalb sind nur biozertifizierte Baumwollprodukte zu empfehlen. Baumwolle nimmt viel Feuchtigkeit auf. Sie ist bei Stoff-Windelsystemen unverzichtbar. Durch ihre Dochtwirkung kann sie in kurzer Zeit viel Flüssigkeit aufnehmen. Bei den Stoff-Windelsystemen ist sie in Kombination mit der Schafschurwollüber-hose führend.
Nach dem vorübergehenden Siegeszug der Wegwerfwindel wählen heute immer mehr Eltern diesen nachhaltigen Weg.
Kunstfasern bestehen aus Erdölprodukten und spielen heute in der Bekleidungsindustrie eine bedeutende Rolle. Sie sind billig, aber sie atmen nicht und stauen die Wärme. Für Kinderbekleidung sind sie wenig geeignet.
Was tun bei Fieber, oder wenn die Wärme staut?
Ein »zu viel« an Wärme kann dem Baby gefährlich werden, weil der unreife Wärmeorganismus nicht in der Lage ist, den Körper zu kühlen. Zum Hitzestau kann es durch Synthetik-Fasern, aber auch durch Schaffell und Daunendecke kommen.
Fieber beim Neugeborenen und Baby ist ein ernstes Alarmzeichen und bedarf der Beurteilung durch den Kinderarzt. Beim älteren Kind ist Fieber Teil der Immunantwort bei der Auseinandersetzung mit Krankheitserregern und Ausdruck der körperlichen Abwehr. Es sollte nicht unterdrückt, sondern fürsorglich begleitet werden.
David Martin hat mit seinem Institut an der Universität Witten-Herdecke eine App entwickelt, die Eltern hilft, mit Fieber altersgemäß und entsprechend dem neuesten Forschungsstand umzugehen (www.warmuptofever.org ).
Wärme in der Beziehung
Sympathie und Antipathie sind seelisch-körperliche Wärmephänomene. Sympathie ist öffnend, verströmend, vereinnahmend, entgrenzend. Antipathie ist abschließend, verhärtend, isolierend und zurückweisend. Beziehungen sind zumeist ein Gemisch von Sympathie und Antipathie. Wir bewegen uns gleitend zwischen diesen Polen. Was aber bildet den rhythmischen Ausgleich zwischen seelischer Wärme und seelischer Kälte? Die Liebe! Liebe in allen ihren Ausdrucksformen als instinktive Mutter- oder Vaterliebe, als sich kümmernde, fürsorgliche Liebe, als lauschende und werbende Liebe, als den Menschen durchleuchtende und durchwärmende Liebe, als weisheitsvolle und als schicksalsbewusste Liebe. Dieser geistige Aspekt der Wärme wirkt durch das Ich. Das Ich lebt in dieser Wärme.
Das Neugeborene berührt uns in seiner Schutzbedürftigkeit. Es begegnet uns nicht, weil wir Namen, Rollen oder Berufe tragen, sondern weil wir wärmestrahlende Menschen sind. Im Wärmeraum entwickelt das Kind nach und nach das Bewusstsein von Du und Ich. Der körperlich-seelisch-geistige Wärmeraum verbleibt als urtiefe Erinnerung, dass es ein Wir gegeben hat und dass menschliche Gemeinschaft möglich ist.
Zur Autorin: Inge Heine war bis 2020 Gesundheits- und Krankenpflegerin in der Filderklinik. Als Still- und Laktationsberaterin berät sie Familien vom Wochenbett bis zum Abstillen und bereitet Paare auf das Eltern-Sein vor. Den pädagogischen Schwerpunkt ihrer Arbeit bilden Eltern-Kind-Gruppen (KiS-EL Kinder spielen – Eltern lernen), in denen sie Eltern eine Begleitung in den ersten drei Lebensjahren ihrer Kinder anbietet. Zusammen mit R. Heine hat sie das Konzept der »Pflegerischen Gesten« für die frühe Kindheit entwickelt.
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