Zum Greifen nah

Von Wolfgang-M. Auer, Juli 2022

Der Tastsinn spielt in den ersten Lebensjahren unter allen Sinnen die wichtigste Rolle. Sobald das Kind alt genug ist, mit seinen kleinen Händen etwas zu greifen, also mit etwa 4–5 Monaten, nimmt es alles, was es erreichen kann, in die Hand und am liebsten in den Mund und betastet es genüsslich.

Foto: © Charlotte Fischer

Hinweis: Der Artikel ist in der Sommerausgabe der Zeitschrift »Frühe Kindheit« (02/2022) erschienen. Einzelne Ausgaben können Sie hier bestellen. Hefte, die älter als ein Jahr sind, stehen in unserem Archiv zum Download für Sie bereit.


Dabei erlebt es, dass manche Dinge schwer sind, andere leicht, dass manches nachgibt und sich weich anschmiegt, anderes steif, hart und unzugänglich ist. So lernt das Kind Stück für Stück die Dinge seiner engeren und, wenn es krabbeln und schließlich gehen kann, seiner weiteren Umgebung und ihre Eigenschaften kennen und fühlt sich dadurch in dieser Umgebung von Tag zu Tag sicherer. Stößt es anfangs noch hier und da an, so verliert sich das nach wenigen Tagen. Aber immer, wenn das Kind beim Bewegen anstößt oder wenn es etwas berührt und dadurch die Beschaffenheit der Dinge wahrnimmt, macht es noch eine weitere Erfahrung, die zu den wichtigsten in den ersten Lebensjahren gehört. Es erlebt die Existenz der Dinge, wenn es sie berührt. Denn nur, was wir durch Berührung wahrnehmen, das existiert für uns. Kein anderer Sinn kann die Existenz der Dinge erlebbar machen. Und wofür braucht das Kind diese Erfahrung? Die Antwort ergibt sich, wenn wir die Wahrnehmungen des Tastsinns noch etwas genauer untersuchen. 

Tasterfahrungen sind Selbsterfahrungen

Wenn wir in der Welt etwas berühren und betasten, erleben wir erstens die Existenz aller Dinge und erfahren zweitens etwas über ihre spezifische Beschaffenheit. Das ist aber nicht alles. Etwas Drittes kommt hinzu. Bei jeder Berührung, jeder Tastwahrnehmung erfahren wir immer zugleich auch etwas von unserem eigenen Körper, nämlich die Stelle, an der die Berührung stattfindet, also z.B. die Innenseite der Hand, die Fingerspitzen, die Fußsohlen. Diese Stellen unseres Körpers beginnen, durch die Wahrnehmung der Berührung für uns zu existieren. Und wenn uns jemand die Hand auf den Rücken oder auf den Arm legt, existiert auch diese Stelle unseres Körpers. Sie gehört dann auch zu uns, bis sie sich nach einiger Zeit wieder im Unbewussten verliert. So geht es jedem Kind in den ersten Lebensjahren. Es erwirbt sich durch tausend und abertausend Tasterfahrungen Stück für Stück seinen Körper, der dabei zugleich ein Teil der gegenständlichen Welt wird.

Das Körperbild als Grundlage des Ich-Bewusstseins

Zunächst handelt es sich bei den Wahrnehmungen des eigenen Körpers um Einzelerfahrungen, die gleichzeitig oder nacheinander an verschiedenen Stellen stattfinden und immer wieder aus dem Bewusstsein verschwinden. Durch unzählige Wiederholungen fügen sich die Einzelheiten aber schließlich zu einem Ganzen, nämlich zum Bild des eigenen Körpers zusammen. Das so entstandene Körperbild nimmt jeder Mensch mit ins Leben. Es muss in Kindheit und Jugend immer wieder auf den neuesten Stand gebracht werden, um den Veränderungen des Körpers durch Wachstum und Reifung zu entsprechen.

Das geschieht in der Regel ganz selbstverständlich. Es gibt aber krankhafte Abweichungen. Forschungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass bei Magersucht, besonders bei einer Körperschemastörung, eine Diskrepanz zwischen dem Körperbild und dem tatsächlichen Körper vorliegt. Durch die Therapie mit engen Neoprenanzügen konnten erste Teilerfolge bei ihrer Überwindung erreicht werden (Grunwald 2017, S. 188 ff.). Hat ein Kind durch seine Berührungserlebnisse ein gutes, umfassendes Körperbild entwickelt, dann kann es sich nicht nur sicher in der räumlichen Welt bewegen, sondern fühlt sich auch eins mit seinem Körper.

Wenn es aber noch nicht so weit gekommen ist, wird es immer wieder ungeschickt mit den Dingen des Alltags umgehen, häufig anstoßen und seinen Becher umwerfen oder ihn so hart auf den Tisch stellen, dass das Getränk herausspritzt. Dann ist es gut, wenn man es eine Zeitlang mit vielen verschiedenen Gegenständen umgehen und besonders viele Tastwahrnehmungen im Haus und in der Natur machen lässt, damit es ein sensibleres Verhältnis zur gegenständlichen Welt und zum eigenen Körper entwickeln kann.

In den ersten Lebensjahren, in denen das Körperbild erst entsteht, haben Kinder häufig Schwierigkeiten beim Einschlafen. Da kann man durch Berührung helfen, wenn man das Kind z.B. in einen engen Schlafsack legt oder in eine Decke wickelt, sodass der Stoff sich spannt und den Körper berührt, wenn das Kind sich bewegt. Es nimmt dann seinen Körper wahr und fühlt sich mit ihm eins, kann loslassen und schläft ein. Manchem Kind reicht ein schweres Kissen oder die Hand des Erwachsenen auf dem Bauch, um einschlafen zu können. Auch das Einschlagen der Decke zwischen Körper und Matratze kann helfen. Im dritten Lebensjahr kommt es durch die Reifung des kindlichen Bewusstseins zu ganz neuen Erlebnissen. Stand bisher bei den Berührungen die Gemeinsamkeit im Vordergrund, sodass das Kind sich als Teil der Welt fühlte, erlebt es jetzt stärker den Unterschied zwischen sich und allem anderen. Berührt es jetzt ein Ding oder einen anderen Menschen oder wird von ihnen berührt, erlebt es sich als getrennt von der Welt und den anderen Menschen. Die Haut, die bisher Verbindung schuf, wird nun zur Grenze des eigenen Wesens und lässt dadurch eine von der äußeren Welt getrennte innere Welt entstehen. Das ist die Grundlage für das kindliche Ich-Bewusstsein, das nun zum ersten Mal auftritt. Manche Kinder erleben es als inneres Ereignis und erzählen davon, dass sie jetzt nicht mehr Paul, sondern »Ich« seien. Alle Kinder wechseln im dritten Lebensjahr vom Eigennamen zur Bezeichnung »Ich«, wenn sie sich selbst meinen. Bei vielen Kindern entstehen als Ausdruck ihrer inneren Erlebnisse Zeichnungen, die das neue Bewusstsein zum Ausdruck bringen: ein rundes, kreisartiges Gebilde, dessen dünne oder nicht ganz geschlossene Stellen zugestopft und dicht gemacht werden, sodass keine Lücke bleibt. Dann kommt in die Mitte ein Punkt oder ein Kreuz als Zeichen für das Ich.

Kinder brauchen Berührung wie Essen und Trinken

Ein Kind, das alle diese Schritte und Erfahrungen durchlebt hat, fühlt sich in seiner Haut wohl und in der Behausung seines Leibes sicher. Es ist bei sich angekommen und nimmt jetzt die anderen Kinder erst richtig wahr, spielt mit ihnen und wird zu einem sozialen Wesen. Kommt es einige Jahre später zur Schule, wird es sich der Gruppe einfügen und dem Unterricht mit Aufmerksamkeit folgen können. Denn Aufmerksamkeit und Sozialverhalten entspringen derselben Quelle wie das Selbstbewusstsein. Wer bei sich angekommen ist und sich dort zu Hause fühlt, kann auch achtsamer mit anderen umgehen. Ein Kind, das durch den Tastsinn nicht so weit gekommen ist, fühlt sich in seinem Körper nicht geborgen, sondern eher wie in einem Haus, durch dessen offene Fenster und Türen der Wind pfeift. Es fühlt sich unsicher und in Gefahr. Kein Wunder, dass es herumrennt und die anderen Kinder anrempelt und sie bei ihrem Spiel stört. Aggressivität ist nicht seine Absicht, es will nur durch die Berührung der anderen nachholen, was ihm fehlt, damit der Körper zur Heimat werden kann. Aus Märchen und Mythen kennen wir die beschriebene Bedeutung der Haut. So ist es in der Geschichte des Siegfried. Als er den Drachen tötet, der den gestohlenen Nibelungen-Schatz bewacht, gerät ein Tropfen Drachenblut auf Siegfrieds Hand. Als er ihn ableckt, versteht er die Vögel und vernimmt, dass er durch ein Bad im Drachenblut unverwundbar werde. Er entkleidet sich und badet im Blut, bemerkt aber nicht, dass ein Lindenblatt vom Baum fällt und auf seinem Rücken festklebt. Die vom Drachenblut nicht benetzte Stelle macht ihn verwundbar, was später von seinem Widersacher ausgenützt wird.

Kindern, deren Körperoberfläche gewissermaßen noch Lücken aufweist, helfen all die Hülle konstituierenden Berührungen. Dazu gehören der berührende Umgang mit natürlichem Material, mit Wasser, Sand, Matsch, Erde, Kieselsteinen, Holzhäcksel, getrockneten Blättern, Kastanien und das »Baden« darin. Auch ein regelmäßiges Fußbad mit warmem Wasser und Gegenständen zum Betasten mit den Füßen, anschließendem Bürsten, Abtrocknen und Einölen der Füße. Kinder wissen oft am besten, was ihnen hilft: jeden Hügel runterrollen, sich in Tücher wickeln, den Körper mit Kissen beschweren und andere ungewöhnliche Dinge.

Der Psychologe Didier Anzieu berichtet von einem Jungen, der direkt nach seiner Geburt operiert und anschließend im Glaskasten isoliert werden musste. Die Mutter konnte ihn wochenlang nur durch eine Glasscheibe sehen, ohne die Möglichkeit, ihn zu berühren oder mit ihm zu sprechen. Zu Hause verlief die Entwicklung Juanitos zunächst unauffällig.

Dann traten die Folgen des traumatischen Berührungsmangels der ersten Lebenswochen in Gestalt massiver Verhaltensprobleme auf, was jedem Leser nach dem bisher Beschriebenen verständlich erscheinen wird. Als Juanito fünf Jahre alt war, beschloss man eine psychotherapeutische Intervention. Zunächst brachte die Behandlung gar nichts. Eine entscheidende Wende kam, als Juanito die Sache selbst in die Hand nahm. Er riss die große Klebefolie, die sich an der Wand befand, damit die Kinder darauf malen konnten, in Stücken von der Wand. Dann zog er sich aus und bat seine Therapeutin, seinen ganzen Körper, außer den Augen, mit der Folie zu bekleben, ohne einen Spalt freizulassen. Wichtig war ihm auch, dass alle Stücke der Folie Verwendung fanden. In den folgenden Therapiestunden forderte er eine Wiederholung des Spiels. Dann machte er dasselbe mit einer Zelluloid-Puppe (Anzieu 1996, S.91 f.). Und damit war das Ziel der Psychotherapie auf überraschendem Weg erreicht.

Eines dürfte klar geworden sein: Kinder brauchen Berührung so notwendig wie das Atmen oder Essen und Trinken.

Wichtige Entwicklungsschritte der ersten drei Jahre hängen mit ihr zusammen. Fehlt es an solchen Erlebnissen, dann muss nach Ersatz gesucht werden, was aber nicht schwer ist, denn die »Heilmittel« gegen den Berührungsmangel liegen überall herum, sind zum Greifen nah. Sie müssen nur ergriffen werden. Berührung tut allen Kindern gut, und nicht nur Kindern. Ohne Berührung ist für uns Menschen ein Leben nicht möglich.

Zum Autor: Dr. phil. Wolfgang-M. Auer war Lehrer an der Rudolf-Steiner-Schule Bochum, federführend bei der Entwicklung des «Bewegten Klassenzimmers» und leitete das Waldorfkindergartenseminar in Dortmund. Heute ist er als Dozent an verschiedenen Orten im In- und Ausland tätig.

Literatur: D. Anzieu: Das Haut-Ich. Frankfurt a.M. 1996 | Wolfgang-M. Auer: Sinnes-Welten. Die Sinne entwickeln, Wahrnehmung schulen, mit Freude lernen. München 2018 | M. Grunwald: Homo haptikus. Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können. München 2017

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