Frustriert, aber stolz. Aufstand der arabischen Jugend

Thomas Müller-Tiburtius, Julia Gerlach

Thomas Müller-Tiburtius | Wie lebt es sich zur Zeit in Kairo?

Julia Gerlach | Das Leben in Kairo ist ausgesprochen aufregend, es ist wie Achterbahnfahren. Die Stimmung schlägt sehr schnell um. Von denen, die die Revolution gemacht haben, sind viele frustriert, weil sie das Gefühl haben, dass sich politisch nichts verändert. Die Militärregierung ist so wie das alte Regime. Die alten Strukturen sind erhalten, es sitzen die gleichen Leute an den entscheidenden Stellen. So sagen sie sich: Wir müssen weiter machen mit der Revolution. Aber viele Leute sind müde nach so vielen Monaten und lassen sich nicht mehr so einfach auf die Straße bringen. Doch wenn man die Gesellschaft anguckt, dann hat sich doch viel verändert. In den Familien wird diskutiert. Viele Mädchen haben so lange mit ihren Müttern gestritten, bis sie demonstrieren und auf dem Tahrir-Platz übernachten durften. Es ist eine neue Musikszene entstanden, was früher als Untergrundmusik da war, ist auf die Straße gekommen. Es gibt Konzerte, Festivals, Graffiti, die Stadt ist jetzt bunt. Dass die Muslimbrüder so stark geworden sind, macht vielen Sorgen, dass die Aufbruchstimmung, was die Kultur angeht, im Keim erstickt wird.

TMT | Was zeichnet die Ägypter verglichen mit anderen Arabern aus?

JG | Ägypter sind ausgesprochen freundlich, lustig und lachen viel. Es ist ein Land, in dem viele Witze erzählt werden. Und je schlimmer die Situation, desto mehr Witze. Zugleich ist es ein Volk, wo zu dem Heimatgefühl das Sicherheitsgefühl gehört. Die Schlägerbanden, die auf den Straßen unterwegs waren, brachten die Leute aus dem Gleichgewicht. Die Menschen sind sehr religiös. Es ist ein Land mit sehr strengen Regeln, denen die Leute sich anzupassen versuchen. Es herrscht großer sozialer Druck. Umso erstaunlicher ist, dass so viele Menschen auf die Straße gingen.

TMT | Was ist die Ursache für diesen Aufbruch?

JG | Es gibt eine ganze Reihe von Faktoren. Es gibt viele junge Leute, die auf der Uni waren und überhaupt keine Chance haben, einen vernünftigen Job zu finden. Jobs gibt es nur über Beziehungen und die haben oft nichts mit dem zu tun, was man kann. Viele sind perspektivlos. Dann die immense Korruption. Über die letzten Jahre wuchs eine Protestkultur und Oppositionsszene heran, die sich dadurch auszeichnet, dass sie Jugendliche über ideologische Grenzen hinweg vereint. Dies in Verbindung mit gezielter Mobilisierung über Facebook, Twitter und Ereignisse, die für große Aufregung sorgten – wie zum Beispiel die Schießerei vor einer Kirche, wo sechs Kopten erschossen wurden. Dann die gefälschten Wahlen. Das Volk sagte: Jetzt reicht’s.

TMT | Es begann in Tunesien. Kann man von einem arabischen Dominoeffekt sprechen?

JG | Ich denke schon. Ohne Tunesien wäre es in Ägypten nicht so weit gekommen. Dass es gelungen ist, Mubarak zu vertreiben, hat für alle anderen Länder eine große Rolle gespielt.

TMT | Und Gaddafi?

JG | Gaddafi hat sich gewehrt. Das haben andere Herrscher nachzumachen versucht. Lange Zeit fragten sich die Beobachter, wieso das in Libyen so lange dauert. Aber vielleicht war die Frage falsch gestellt. Die richtige Frage wäre gewesen: Wieso ging es in Tunesien und in Ägypten so schnell?

TMT | In der muslimischen Kultur spielt die Gemeinschaft eine dominante Rolle. Der marokkanische Autor Ben Jelloun sagte, dass in diesem Frühling das Individuum erwacht sei. Können Sie dieser These zustimmen?

JG | Ich glaube, das stimmt. Jugendliche haben sich von ihrer Familie und von ihrer politischen Gruppe emanzipiert. Hinzu kommt, dass in Ägypten ein starker Nationalismus aufgekommen ist. Man ist stolz darauf, etwas hinbekommen zu haben. Es gibt einerseits eine Individualisierung, andererseits aber auch eine neue Vergemeinschaftung.

TMT | Gab es Ereignisse, die Sie besonders begeistert haben?

JG | Bei den großen Demonstrationen sind Männer und Frauen immer getrennt, die Taschen werden durchsucht. Als ich das erste Mal dort war, kam eine Frau auf mich zu, die hatte einen Tesastreifen mit einem Aufkleber »Ordnung« an sich dran. Sie sagte zu mir, »bitte zeig mir deine Tasche«, sie hat mich abgeklopft und hat mir dann sehr freundlich gesagt: »Denkt daran, wir sind friedlich. Provoziert bitte nicht das Militär und ich wünsche dir einen schönen Tag. Willkommen im neuen Ägypten.«

Diese gute Organisation, die sehr klare Vorstellung davon, was man will, und auch die Hoffnung auf etwas Neues, das hat mich begeistert. In den ersten Tagen der Revolution war auch bemerkbar, wie schnell alles kippen kann, wie schnell Ausländerfeindlichkeit entstehen kann.

TMT | Haben sie Heldinnen oder Helden der Aufstände gesehen?

JG | Ein Bild hat sich mir besonders eingeprägt. Ein Demonstrant steht auf der Straße und der Wasserwerfer fährt auf ihn zu. Diesen Mut, stehenzubleiben, finde ich unbeschreiblich. Auch die Situationen, als die Kamele mit den Schlägertrupps auf den Tahrirplatz kamen und die Leute nicht einfach wegrannten, waren eindrucksvoll.

TMT | Braucht eine Revolution Märtyrer?

JG | Das war ein wichtiger Motor der Mobilisierung. Hätte es nicht die Bilder von den Toten gegeben, wären die Leute nicht so mobilisiert worden. Das ist in anderen Ländern auch so. Die Märtyrer werden, böse gesagt, vermarktet, um die Leute auf die Straße zu bringen.

TMT | Wer steuert das Ganze? Die neuen Medien spielen eine große Rolle, aber auch die müssen bedient werden.

JG | Es sind mehrere Gruppen und Persönlichkeiten und die sind sich nicht immer einig. Es gab einmal ein Revolutionskomitee, aus dem aber viele Gruppen wieder ausgetreten sind. Es ergeben sich immer wieder neue Koalitionen. Wie der Tahrir-Platz »denkt«, ist schwierig herauszufinden. Es ist nicht so, dass Vorschläge auf den Platz gebracht werden und man guckt, wie stark gepfiffen oder gejubelt wird. Es können sich viele verschiedene Gruppen einbringen, ohne sich um die Führerschaft streiten zu müssen. Schwierig wird es in dem Moment, wo es um komplexere Fragen geht, wie eine Regierungsbildung. Dafür ist die Masse zu amorph.

TMT | Inwieweit waren die sozialen Netzwerke an der Revolution beteiligt?

JG | Ich glaube nicht, dass man von einer Facebook-Revolution sprechen kann. Ich glaube, dass die neuen Medien eine große Rolle gespielt haben, dass aber der tatsächliche Grund ein anderer war. Die Leute hatten ein Anliegen, für das sie protestierten. Über Facebook wurde dann nur mobilisiert. In diesem Bereich haben Facebook und Twitter große Vorteile, weil sie demokratisch sind, weil sie tolerant sind, alle können sich einbringen. Ich habe viele ägyptische Freundinnen, die immer online sind, die alles posten. Die wurden in Ägypten immer belächelt, bis die Revolution kam und klar wurde, dass Facebook ein sehr politisches Medium sein kann. Das unterscheidet sicher die arabische Art, es zu nutzen von der deutschen, wo es mehr um Liebe, Freundschaft und Musik geht.

TMT | Wie viele Menschen in Ägypten können die neuen Medien nutzen? Wird die Revolution nicht von bestimmten Kreisen getragen?

JG | Es ist tatsächlich so, dass viele Leute keinen Computer haben und auch keinen Zugang zu den neuen Medien. Es ist richtig, dass diese Revolution von einer Minderheit gemacht und von einer Minderheit getragen wurde. Auf dem Land kennen die Leute die Revolution nur aus dem Fernsehen. Die Regierung hat dort vorher keine Rolle gespielt und würde jetzt auch keine Rolle spielen, sie regeln alle Sachen sowieso unter sich. Von neuer Freiheit haben dort die Jugendlichen noch nicht so viel mitbekommen.

TMT | Man kann heute von einer weltumspannenden Protestbewegung auf verschiedenen Ebenen sprechen. Gibt es wechselseitige Beeinflussungen? Nimmt man in Kairo wahr, was in Griechenland passiert?

JG | Neulich hatte ich ein Gespräch mit einem Aktivisten der Jugendbewegung. Er war extrem frustriert über die jetzige Situation. »Hast du gesehen, was in New York los ist? Und weißt du, wer da hingefahren ist und die trainiert hat? Wir!« Das ist eine nette Anekdote, da den ägyptischen Jugendlichen vorgeworfen wird, dass sie von den USA finanziert und trainiert wurden. Insofern kann man schon sagen, dass ihr Beispiel die anderen Bewegungen beeinflusst hat.

Zudem wurden die jugendlichen Aktivisten von zahlreichen politischen Stiftungen in Länder eingeladen, die einen politischen Transformationsprozess durchgemacht haben. Sie waren in Serbien, in Polen,  in Tschechien, in Spanien. Sie wurden gefragt, wie man Revolutionen macht. Das fanden die jungen Revolutionäre natürlich cool.

TMT | Was ist Ihre Vision für die arabische Welt in den nächsten fünf oder zehn Jahren?

JG | Es wird eine arabische Liga geben, in der demokratisch gewählte arabische Regierungen vertreten sind, deren Mitglieder sich über Grenzen hinweg miteinander verständigen. Dort werden Projekte entwickelt, wie man Stromleitungen unter dem Mittelmeer verlegen kann, so dass man den reichlich gewonnenen Solarstrom aus der arabischen Welt nach Europa zu fairen Preisen exportieren kann. Man verständigt sich über Schüleraustausche zwischen den Ländern. Das Bildungssystem wird völlig umgekrempelt sein. Probleme zwischen Muslimen und Christen gibt es nicht mehr, da die Diktatoren nicht mehr ihre Finger drin haben. Die Kinder werden zu Toleranz erzogen und nicht zum Hass. Das ebnet in vielen Ländern den Weg zu säkulären Staaten, wobei aber in vielen Ländern die Religion weiterhin eine bedeutende Stellung inne haben wird.

Das sind Zukunftsvisionen. Denn die Revolution ist in fast allen Ländern noch nicht gewonnen. Und wenn ich mir Ägypten anschaue, dann gibt es eine große Wahrscheinlichkeit, dass die Menschen freiwillig dazu bereit sind, einen Vertreter des Militärs zum Präsidenten zu wählen. Denn die Menschen sind durch die lange Phase der Unsicherheit und des Wartens, die Wirtschaftskrise, die Angst, dass die Islamisten die Oberhand gewinnen, zermürbt. Es ist ein wenig reformiert worden, es gibt ein paar mehr Freiheiten. Aber im Grunde genommen hat sich nicht so viel geändert. Im Moment ist die Zeit nicht günstig für Optimisten.