Jeder, der Kinder hat, weiß, welch tiefgreifendes Erlebnis es für das Kind ist, wenn es am Ende des ersten Lebensjahres das erste Mal frei aufrecht im Raum stehen und sich bewegen kann. Ebenso tiefgreifend können für das Kind das erste bewusste Ich-Erleben und die Entwicklung der Sprachfähigkeit sein. Jedem Pädagogen ist bewusst, dass die seelisch-geistigen Fähigkeiten der Kinder sich in gesetzmäßiger Stufenfolge entwickeln.
Weniger bekannt ist die Tatsache, dass auch die funktionellen Systeme sich nach der Geburt zeitlich und strukturell unterschiedlich entwickeln. Das Gehirn ist nach der Geburt schon weitgehend ausdifferenziert, auch wenn es – besonders in der Pubertät – noch tiefgreifende Umbauvorgänge durchmacht. Das Darmsystem ist bei der Geburt noch größtenteils unfertig und muss sich erst langsam in den ersten beiden Lebensjahren an die Nahrungsaufnahme gewöhnen. Die lymphatischen Organe (Lymphknoten, Mandeln, »Blinddarm« usw.) entwickeln sich besonders stark zwischen dem 7. und 14. Lebensjahr, also zwischen Schulreife und Pubertät.
Körperliche Entwicklung des Kindes
Bei der körperlichen Entwicklung des Kindes spielen drei elementare Funktionssysteme eine Rolle: Erstens das Sinnes-Nerven-System, dessen Zentrum das Gehirn mit den großen Sinnesorganen (Auge, Ohr und Nase) ist; zweitens das Stoffwechsel-Gliedmaßen-System, dessen Organe vor allem in der Bauchhöhle liegen, und drittens das Atmungs- und Kreislaufsystem, dessen Zentralorgane (Herz, Lunge) sich innerhalb der Brusthöhle befinden.
Diese drei großen Organsysteme des Organismus haben grundlegend verschiedene Funktionen und ergänzen sich funktionell so tiefgreifend, dass im Körper ein harmonisches Entwicklungs- und Prozessgeschehen auch schon bei Kindern möglich wird. Man kann daher von einer funktionellen Dreigliederung der Organsysteme im Körper sprechen. Wenn wir die Funktionsprozesse dieser drei elementaren Systeme verstanden haben, kann sich auch ein Verständnis für das im Organismus sich entwickelnde Seelenleben ergeben. Das Nervensystem dient dem Informationsaustausch innerhalb des Organismus, aber auch der Orientierung des Menschen in seiner Umwelt. Durch die Nervenverbindungen zwischen allen Organen des Körpers verfügt der Organismus über Steuerungsmöglichkeiten für die Lebensprozesse aller Organe. Durch die zahlreichen Sinnesorgane kann sich der Mensch auch im Raum orientieren und seine Aktivitäten entfalten.
Das Stoffwechselsystem, das vor allem das Darmsystem und die inneren Organe (Leber, Milz, Nieren) umfasst, arbeitet nach grundlegend anderen Funktionsprinzipien. Hier laufen nicht nur fast alle Prozesse unbewusst ab, sondern sie basieren auch weitgehend auf Stoff-Austausch: Stoffabbau, Stoffaufbau, Stoffumsätze und hormonelle Steuerung stehen hier im Vordergrund. Das Stoffwechselsystem dient nicht nur der Ernährung, sondern auch der Substanzerhaltung und Energiegewinnung.
Wir haben in der Regel völlig falsche Vorstellungen vom Stoffwechselsystem sowie dem Ernährungsprozess. Die Darmwand ist eine geschlossene Schranke, hier können keine Nahrungsstoffe durchtreten, wenn sie nicht vorher bis auf ihre Elementarbausteine abgebaut worden sind. Erst hinter der Darmwand baut der Körper dann seine eigenen Substanzen (Eiweiße, Fette und Kohlenhydrate) wieder auf. Was den Körper substanziell ausmacht, hat er sich selbst gebildet. Die Nahrung liefert nur die Grundstoffe (etwa die Aminosäuren bei den Eiweißkörpern).
Im Nervensystem bauen wir uns unsere eigene Vorstellungs- und Sinneswelt auf, im Stoffwechselsystem produzieren wir unsere Körperlichkeit und gewinnen die Kräfte für unsere Lebensaktivitäten. Zwischen diesen beiden großen Systemen vermitteln das Herz-Kreislaufsystem und das Atmungssystem, wodurch deren Funktionsprozesse am Leben erhalten werden und arbeitsfähig bleiben. Das Blut zirkuliert durch den ganzen Körper und bringt allen Organen nicht nur Sauerstoff für die inneren Atmungsprozesse, sondern unterhält auch die Stoffwechsel- und Lebensprozesse in den Organen. Im Gesamtorganismus besteht also eine funktionelle Dreigliederung der großen Organsysteme: das Nervensystem ist für die Steuerung und Ordnung zuständig und arbeitet mit Informationen; das Stoffwechselsystem ist für die Stoffprozesse im Organismus zuständig und ermöglicht die Energieumsätze im Körper; das Blutkreislauf- und Atmungssystem ermöglicht eine funktionelle Angleichung der in vielfacher Hinsicht polaren Prozesse des Nerven- und Stoffwechselsystems. Es ist damit für die Gesunderhaltung des Körpers von entscheidender Bedeutung.
Dreigliederung des Seelenlebens
Drei grundsätzlich verschiedene Funktionsprozesse haben wir aber auch im seelisch-geistigen Bereich. Auch hier existiert eine Dreigliederung. Einerseits verfügen wir über die Fähigkeit des Denkens und Vorstellens. Wir besitzen aber auch einen Willen, mit dem wir durch unsere Aktivitäten in die Welt eingreifen können. Als Drittes verfügen wir über seelische Kräfte wie das Fühlen, Mitempfinden und Anteilnehmen.
Eine grundlegende Entdeckung Rudolf Steiners ist, dass diese drei elementaren seelischen Kräfte mit entsprechenden Funktionsprozessen im menschlichen Organismus in Zusammenhang stehen. Es beruhen nicht alle seelischen Prozesse ausschließlich auf Vorgängen im Nervensystem. Steiner konnte zeigen, dass zum Beispiel das Vorstellen hauptsächlich auf Gehirnfunktionen beruht, während für Willensprozesse, zum Beispiel bei Muskelbewegungen, vor allem Stoffwechselprozesse entscheidend sind. Wenn wir starke Empfindungserlebnisse haben, zum Beispiel Freude, Trauer, Zorn, Begeisterung oder Ähnliches, beginnen wir intensiver zu atmen oder es verändert sich unser Blutdruck und das Herz beginnt schneller zu schlagen. Die Funktionsprozesse im Kreislauf- und Atmungssystem stehen daher in besonderem Zusammenhang mit unserem Gefühlsleben. Weist nicht auch der Sprachgenius vielfach schon in diese Richtung, wenn wir davon sprechen, dass wir von Herzen traurig, glücklich oder begeistert sind? Die Steinersche Entdeckung, dass die drei großen Organsysteme des Organismus funktionell die Basis bilden für die drei Seelenkräfte (Denken, Fühlen, Wollen) ist für die Pädagogik von großer Bedeutung. Die Waldorfschule versucht heute, die Kinder nicht nur intellektuell zu erziehen, sondern auch ihre Gefühls- und Willenskräfte, zum Beispiel durch Eurythmie-Übungen, handwerkliche Betätigung und künstlerische Veranstaltungen sozial weiterzuentwickeln.
Dadurch haben wir schon in der Erziehung eine Harmonisierung der drei charakterisierten elementaren Funktionsprozesse von Seele und Körper erreicht, was letztlich ein harmonisches Miteinander der Menschen bewirken und damit das heute so starke intellektuelle Gegeneinander im sozialen Bereich überwinden helfen kann.
Literatur: Johannes W. Rohen: Morphologie des menschlichen Organismus, Stuttgart 32007; ders.: Eine funktionelle und spirituelle Anthropologie unter Einbeziehung der Menschenkunde Rudolf Steiners, Stuttgart 2009; Rudolf Steiner: Die Kernpunkte der sozialen Frage. GA 23, Dornach 1976