»Waldorf« ohne Praktika, ohne Klassenspiele, ohne künstlerische Abschlüsse, ohne Jahresarbeit und Theaterprojekt, ohne Eurythmie, ohne diese markanten Attribute und Waldorf-Highlights – was wäre die Waldorfschule dann?, frage ich mich heute.
Oder ohne pädagogischen Gartenbau? – Schauen wir auf die Zeit der ersten Waldorfschule in den 1920er Jahren: Ein Großteil der Menschen arbeitet in einer kleinbäuerlichen, chemiefreien und unmotorisierten Landwirtschaft. Durch die Städte fahren noch Pferdedroschken. Die Menschen träumen davon, abends bei elektrischem Licht vor tönenden Radiofunkempfängern zu sitzen …
Und in dieser Zeit, die uns heute technisch rudimentär und doch relativ erdverbunden erscheinen muss, regt Rudolf Steiner an, in der Waldorfschule Gartenbau-Unterricht zu »machen« – sogar obligatorisch bis einschließlich Klasse 10.
Fast ein Jahrhundert später hat sich der »Drive« der Zivilisation durch technische Innovationen dramatisch beschleunigt. Jeder Punkt der Erde ist mit modernen Transportmitteln binnen kurzem zu erreichen. Coca Cola ist in jeder Bude am Himalaya zu erstehen. Jeder Mensch ist via Satellit von überall her in Sekunden zu »kontakten«. Neben der seit Jahrhunderten gewohnten »Realwelt« und der sinnlich erfahrbaren Natürlichkeit des Augenblicks hat sich mittels Computertechnologie und Internet eine ganz neue »Realität« aufgetan: Nicht nur Jugendliche können den größten Teil des Tages in dieser »virtuellen Realität« verbringen und in Sekündärwelten sogar andere Identitäten annehmen.
Wie vielzitierte Studien aufzeigen, hat die Entfremdung von der Natur und den kreatürlichen Lebensgrundlagen seit den 1980er Jahren bei Kindern und Jugendlichen zugenommen.
Es ist fast müßig, sich die Frage zu stellen, was Rudolf Steiner wohl über die Notwendigkeit von Gartenbau-Unterricht heute sagen würde. Der Gartenbau-Unterricht an Waldorfschulen brennt vor Aktualität. Zumindest wenn der freie, der aufgeklärte Mensch, die selbstbewusste, die ganzheitlich entwickelte Persönlichkeit unser »Erziehungsziel« ist.
»Erdung, Ausgleich, Balance!« sind die Forderungen der Gegenwart. Sie sind zugleich die Medizin für seelisch-geistige Einseitigkeiten, die die »digitale Revolution« mit sich bringt.
Viele Autoren aus der Waldorfszene haben dazu beigetragen, den Gartenbau-Unterricht immer wieder zu gründen und zu begründen. Es liegt ein detaillierter und doch frei lassender »Rahmen-Lehrplan« vor, menschenkundlich wie alterstufengerecht (vgl. Heft 4/2011).
Da dieses Fach frei finanziert werden muss, sind die Gartenbaulehrer immer wieder gefordert, ihren pädagogischen Beitrag zur Entwicklung des Kindes zu einer Gesamt-Persönlichkeit ins Bewusstsein der Kollegen zu heben. Besonders wenn die jährliche »Wir-müssen-sparen-Welle« in die Gremien schwappt.
Eine weitere Gefährdung von »Waldorf-Substanz« sehe ich darin, dass in unserer Schullandschaft immer wieder gerne Waldorf-Charakteristika in Frage gestellt werden. Das wirkt geradezu abstrus, wenn sich öffentliche Schulen zeitgleich genau für diese Dinge stark machen und sich dann gern als Urheber dieser »neuen« Ideen publikumswirksam in den Medien darstellen. Das gilt auch für den Gartenbau-Unterricht.
»Das praktische Arbeiten bildet das polare Gegenstück zur Beschäftigung mit scharfem abstraktem Denken wie es vor allem in der Mathematik und in den naturwissenschaftlichen Fächern als Antwort auf die erwachenden Kräfte des Intellekts geübt werden muss. Im ergänzenden Zusammenwirken dieser Polaritäten, verbunden über die empfindende Mitte künstlerischen Schaffens und Erlebens, liegt eine große Chance. Schüler im Pubertätsalter davor bewahren zu können, die Welt mit abstraktem Denken ›erobern‹ zu wollen und sich dabei in lebensfremden theoretischen Modellen über die Wirklichkeit zu verlieren« fasst Christoph Leuthold, Waldorflehrer aus dem Schweizerischen Steffisburg, die pädagogische Aufgabe des Gartenbaus zusammen.
Genau deshalb haben viele staatliche Schulen und Internate begonnen, Gartenbau-Unterricht, Landbau und Tierpflege nicht nur als vorübergehende Arbeitsprojekte einzuführen. Und wie viel mehr Naturkunde-Lehrer wünschten es sich an ihren staatlichen Schulen!
Bundespräsident Christian Wulff hat bei der Eröffnung der Bundesgartenschau in Koblenz am 15. April 2011 davon gesprochen, dass es im Garten- und Landschaftsbau um Kunst, Kultur und Nachhaltigkeit gehe! Weiter verlautete er, dass es pädagogisch sinnvoll sei, wenn Kinder Beete anlegen würden. Wow!
Wie schön, dass Kinder genau das im Rahmen ihrer Waldorfschulzeit tun können!
Die Kinder erleben die gärtnerischen Grundtätigkeiten. Über eine Fülle von praktischen Tätigkeiten, welche stets Bezug zu allen Lebensgebieten haben, führt der waldorfmäßige Gartenbau-Unterricht über die Landschaftspflege und Biotop-Gestaltung der Neunt- und Zehntklässler zum Erkennen der schöpferischen Eigentätigkeit und Verantwortlichkeit.
Und wie schön auch, dass Kunst, Kultur und Nachhaltigkeit Leitlinien der Waldorfpädagogik sind.
Man muss einmal mehr hier und jetzt feststellen: Noch nie war der pädagogische Gartenbau-Unterricht so wertvoll wie heute! –
Und das wird er im Zuge zunehmender »virtual reality« und damit einhergehender Naturentfremdung wohl auch die nächsten Jahrzehnte bleiben!
Zum Autor: Holger Baumann ist Lehrer für Biologie, Gartenbau, Geographie, Chemie und Ethik an der Waldorfschule Oberberg.