»Uns ist ein Kind geboren«. Leibwerdung im Zeitalter der allgegenwärtigen Bildschirme

Edwin Hübner

Wir beobachten voller Freude und Anteilnahme wie das Neugeborene nach einem Jahr den aufrechten Gang erwirbt, wie es bald darauf sprechen lernt und wie im zunehmend konturierter werdenden Spiel seine sprudelnde Fantasie zum Vorschein kommt. Wir sehen, wie das Kind seinen Leib immer besser beherrscht, wie es seine Hände geschickt gebrauchen lernt. Und wir wissen, dass der gesunde Leib die Basis ist, um in der Welt ohne Einschränkungen tätig werden zu können. Die Bedeutung, die ein gesund ausgebildeter Leib für das gesamte Leben haben wird, kann gar nicht überschätzt werden.

Der Leib – das Herz der Welt

Schauen wir den Leib genauer an. Wenn ich mich im Spiegel sehe, dann zeigt sich mein Leib von seiner Außenseite, so wie ihn meine Mitmenschen sehen; sie sehen meinen Körper. Diese Außensicht unterscheidet sich deutlich von der eigenen Erfahrung des Leibes, den ich von innen her erlebe, in dem ich gewissermaßen wohne.

Betrachte ich meinen Leib, dann ergeben sich eine Reihe von Beobachtungen. Ich stelle zunächst fest, dass er immer da ist; ich kann ihn nicht einfach wie eine Aktentasche irgendwo stehen lassen. Mein Leib ist in seiner »Ständigkeit« absolut und seine fortwährende Anwesenheit ermöglicht es mir überhaupt erst, dass sich mir alle anderen Gegenstände zeigen können.

Meinen Leib sehe ich immer nur von einer Seite. Um alle anderen Dinge kann ich herumgehen und sie von den verschiedensten Perspektiven aus anschauen, bei meinem eigenen Leib kann ich das nicht tun. Es ist also immer derselbe Blickwinkel, von dem aus ich meinen Leib und auch die Welt wahrnehme. Im Spiegel sehe ich nur meinen Körper, da sehe ich mich so, wie mich andere Menschen sehen.

Der Leib ist für mich kein Gegenstand wie andere, sondern er ist immer mit mir. Er zwingt mir eine bestimmte Perspektive auf alle anderen Gegenstände der Welt auf. Er ist für mich der zentrale Punkt, von dem aus ich die Welt anschaue. Mein Leib ist der Ankerpunkt in der Welt, nur von ihm aus kann ich Welt erleben. Der französische Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty sagt daher mit Recht: »Der Leib ist unser Mittel überhaupt, eine Welt zu haben« (Merleau-Ponty 1966, S. 176).

Der Leib ist kein Gegenstand in der Welt, sondern er ist ein Mittel der Kommunikation mit der Welt. »Der eigene Leib ist in der Welt wie das Herz im Organismus: er ist es, der alles sichtbare Schauspiel unaufhörlich am Leben erhält, es innerlich ernährt und beseelt, mit ihm ein ein­ziges System bildend« (Merleau-Ponty 1966, S. 239).

Mit meinem Leib bin ich ein Teil der Natur. Er hängt untrennbar mit meiner Umwelt zusammen. Er kann nur sein, weil es die Umwelt gibt. Und jede Umwelt ist immer nur diejenige eines Leibes.

Alle Gegenstände werden von mir mittelbar bewegt. Ich will beispielsweise eine Tasse ergreifen. Der Ort der Tasse auf dem Tisch bestimmt von Anfang an die Bewegung meiner Hand. Die Handbewegung geht also vom Ziel aus. Im Ziel liegt der Keim der Bewegung, der sich dann in der sichtbaren räumlichen Bewegung offenbart. Meinen Leib bewege ich dagegen unmittelbar. Da bin ich gewissermaßen fortwährend am Ziel. Ich muss ihn nicht wie einen anderen Gegenstand von außen fassen und zu einem anderen Ort hinführen, sondern er ist von Anfang an bei mir.

Schon solch einfache Betrachtungen zeigen, wie einzigartig unser Leib ist. Mit jeder Geburt ereignet sich das Wunder seiner Entstehung. Dass es uns im Laufe der Zeit selbstverständlich wird, macht das Wunder nicht kleiner.

Bedingungen gesunder Leibentwicklung

Phänomenologisch gesehen spielen Leib, Seele und Geist ineinander. Man kann sie beim lebenden Menschen nicht trennen. Der menschliche Leib ist ein durchseelter und durchgeistigter Leib. Mit der Geburt ergreift ein Menschengeist den Keim seines Leibes und tritt damit in die Welt ein. In den ersten beiden Jahrzehnten seines Lebens ist er vor allem damit befasst, seinen Leib zu bilden, das heißt, sich in der Welt selbstständig zu beheimaten. Jede Erziehung und alle schulischen Angebote zielen im Kern darauf, dass der junge Mensch die Möglichkeit hat, an Leib, Seele und Geist gesund und individualisiert in sein Erwachsenendasein einzutreten.

Der Leib ist ein Teil der Natur, er »ist die Natur, die wir selbst sind« wie der Philosoph Gernot Böhme formuliert (Böhme 2003, S. 63). Das Kind bedarf daher einer Umgebung, die ihm erlaubt, sich »naturgemäß« zu verhalten. Es bedarf der Anregungen und Herausforderungen, seine Grob- und Feinmotorik auf vielfältigste Weise zu üben. Kinder brauchen tragfähige Bindungen zu Erwachsenen, mit denen sie in vielfältigem sprachlichen Austausch stehen. Sie bedürfen auch der Anlässe, die sie zu eigenen fantasievollen Gedanken anregen. Vor allem aber brauchen sie für die gute Entwicklung ihres Leibes vielfältige Erfahrungen, die ihnen erlauben, ihre Sinne umfassend auszubilden, denn die »Kommunikation mit der Welt« setzt gesund ausgebildete Sinne voraus. Gerade in einer medial vernetzten Welt ist daher die möglichst häufige Begegnung mit der Natur sehr hilfreich. Man muss sich bewusst sein, dass in den ersten sechs bis acht Lebensjahren sämtliche leiblichen Reifungsvorgänge, alle Er­fahrungen und jede Tätigkeit des Kindes sich in der Bildung des Gehirns abspiegeln. Das Leben in der frühen Kindheit prägt die Struktur des Gehirns. Ist diese einmal gebildet, kann sie im späteren Lebensalter nur mit großen Anstrengungen verändert werden. Deshalb ist es für die Biografie eines Menschen entscheidend, ob er als Kind in der Auseinandersetzung mit einer realen Umwelt seinen Leib gesund hat ausbilden können – oder ob er zu viel Zeit mit Bildschirmmedien verbracht hat.  

Das Virtuelle und der Leib

Wie steht der Mensch leiblich zu dem »Raum« in Beziehung, den ihm die Bildschirme eröffnen? Zuerst fällt auf, dass der Mensch seinen Leib kaum bewegt. Was sich im Bildschirm zeigt, nimmt der Mensch nur über Auge und Ohr auf. Vor einem Bildschirm ist der Leib weitgehend stillgestellt. Allein der menschliche Geist hat einen Zugang zum virtuellen »Raum« des Bildschirms.

Der Leib wird unbewegt zurückgelassen. Der Mensch wird sozusagen zum körperlosen Geist, der, den Leib ver­lassend, im virtuellen Geisterland sein Zuhause aufschlägt.

In der Virtualität, im »Cyberspace«, haben wir im Diesseits bereits eine technische Form des Jenseits. Seine »Unstofflichkeit« imitiert göttliche Eigenschaften. Der Philosoph Hartmut Böhme charakterisiert diese Situation sehr treffend: »Cyberspace ist das Medium von Weltflucht und zugleich das Medium, um sich immer und überall präsent zu machen. Cyberspace ist die technische Form Gottes: ubiquitäre Gegenwart in der Form abwesender Anwesenheit« (Böhme 1996).

Durch Bildschirmmedien trete ich seelisch-geistig aus meinem Leib heraus, überwinde seine räumliche und zeitliche Begrenztheit. Das ist verführerisch. Für Erwachsene ist das meist kein Problem. Aber für Kinder, die sich ja erst in die räumlich-zeitlichen Verhältnisse des Leibes einleben wollen, ist die leibverlassende Geste vor dem Bildschirm ungesund: Sie behindert ihr Leibwerden. Das Erziehungsideal der frühen Kindheit ist daher, den Medienkonsum möglichst gering zu halten, strenge zeitliche Regeln zu setzen und vor allen Dingen keine eigenen Bildschirmmedien im Kinderzimmer zuzulassen. Hier sind Kinder auf den Schutz durch Erwachsene angewiesen (mehr dazu in »Struwwelpeter 2.1«). 

Handeln statt fingern

Unser Leben mit digitalen Apparaten verführt uns zum Fingern und Wischen auf Bildschirmen. Der deutsch-koreanische Philosoph Byun-Chul Han sprach gar von einer sich daraus ergebenden Atrophie der Hände: »Der ›fingernde, handlose Mensch‹ der Zukunft, der Homo digitalis, handelt nicht. Die ›Atrophie der Hände‹ macht ihn handlungsunfähig. Sowohl die Behandlung als auch die Bearbeitung setzen einen Widerstand voraus. Auch die Handlung muss einen Widerstand überwinden. Sie setzt das Andere, das Neue gegen das, was vorherrscht. [...] Vom Digitalen geht kein materieller Widerstand aus, den man vermittels Arbeit zu überwinden hätte« (Han 2013, S. 47). Worauf Byun-Chul Han auf philosophische Weise aufmerksam macht, zeigt sich in handfesten Beobachtungen. So wird berichtet, dass in den ersten Klassen britischer Schulen immer mehr Kinder Schwierigkeiten haben, Stifte oder Füller richtig zu halten. Da sie in ihrer frühen Kindheit vor allem mit Touchscreens umgingen, hat sich die Muskulatur ihrer Finger nicht genügend ausgebildet. Ihnen fehlen fundamentale Bewegungsfähigkeiten der Hände. Durch intensive Therapie in den ersten Monaten der Schulzeit müssen diese Kinder die fehlende Entwicklung ihrer Feinmotorik nachholen, wie »The Guardian« berichtet (Hill 2018).

Bei diesen Kindern ist das zentrale Werkzeug für alles Handeln nicht genügend ausgebildet: die Hand! Wenn mir die Fähigkeit fehlt, einen Stift mit drei Fingern zu halten, dann bin ich auch an vielen anderen Stellen des Lebens in meinen Aktivitäten behindert. Durch die Ungeschicklichkeit bin ich auf andere Menschen oder Geräte angewiesen, bin also abhängig. Die lautstark propagierte Ausstattung der Schulen mit Tablets ist so gesehen die Aufforderung, Kinder zum »Fingern« zu erziehen. Das ist an manchen Stellen im Schulalltag durchaus sinnvoll. Viel wichtiger aber ist, dass es in der Schule ausgleichende Gegengewichte gibt: Im Zeitalter des »Fingerns« ist es notwendig, verstärkt Felder zum Handeln anzubieten. Wir können zwar digitale Geräte kaufen, müssen aber vor allen Dingen in praktische Handlungsfelder der Schule investieren. In einer Zeit der intelligenter werdenden Geräte müssen wir in den Schulen auch praktische und künstlerische Arbeitsfelder anbieten, auf denen Kinder sich geschickte Hände erüben können, damit sie im späteren Leben handlungsfähig sind.

Das Wunder der Geburt

Wer ein Buch über Embryologie in die Hand nimmt und die Entwicklung des werdenden Menschenkeimes studiert, der kann nur eine tiefe Ehrfurcht vor dem Werden des Menschen empfinden. Jede Geburt ist ein tiefes Wunder. Die Philosophin Hannah Arendt schreibt dazu: »Das Wunder, das den Lauf der Welt und den Gang menschlicher Dinge immer wieder unterbricht und von dem Verderben rettet, das als Keim in ihm sitzt und als ›Gesetz‹ seine Bewegung bestimmt, ist schließlich die Tatsache der Natalität, das Geborensein, welches die ontologische Voraussetzung dafür ist, dass es so etwas wie Handeln überhaupt geben kann. [...] Das ›Wunder‹ besteht darin, dass überhaupt Menschen geboren werden, und mit ihnen der Neuanfang, den sie handelnd verwirklichen können kraft ihres Geborenseins« (Arendt 2016, S. 316 f.).

Und wenig später fügt sie hinzu: »Dass man in der Welt Vertrauen haben und dass man für die Welt hoffen darf, ist vielleicht nirgends knapper und schöner ausgedrückt als in den Worten, mit denen die Weihnachtsoratorien ›die frohe Botschaft‹ verkünden: ›Uns ist ein Kind geboren‹«. Schenken wir dem Kind Schutz, geben wir ihm Entwicklungsräume, damit es die Wege in seine Zukunft finden kann.

Hinweis: In dem Reader »Struwwelpeter 2.1 – Ein Leitfaden für Eltern durch den Mediendschungel« sowie dem Buch Gesund aufwachsen in der digitalen Medienwelt – Eine Orientierungshilfe für Eltern und alle, die Kinder und Jugendliche begleiten (shop.diagnose-funk.org/Gesund-aufwachsen-in-der-digitalen-Medienwelt) sind eine Vielfalt von pädagogischen Anregungen und Tipps für die Erziehung gegeben.

Zum Autor: Dr. Edwin Hübner ist Professor an der Freien Hochschule Stuttgart und Autor mehrerer Sachbücher zum Thema Medienerziehung.

Literatur: M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966 | G. Böhme: Leibsein als Aufgabe. Leibphilosophie in pragmatischer Hinsicht, 2003 | H. Böhme: »Die technische Form Gottes. Über die theologischen Implikationen von Cyberspace«. In: Neue Züricher Zeitung vom 13.04.1996. Auch in: Praktische Theologie, H. 4 (1996), S. 257-261 | B.-C. Han: Im Schwarm. Ansichten des Digitalen. Berlin 2013 | A. Hill: »Children struggle to hold pencils due to too much tech, doctors say«. In: The Guardian vom 25.02.2018. (Zugriff 30.09.2020) | H. Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München, Berlin, Zürich 1972/2016