Wenn es Weihnachten eigentlich nicht mehr gibt

Alexandra Handwerk

»Morgen ist Weihnachten!« Gibt es einen schöneren Satz in der Kindheit? Steckt er nicht voller Verheißung auf unsagbar Schönes und Großes? Wird nicht das Herz warm und die Seele weit?

»Morgen ist Weihnachten!« Gibt es einen komplizierteren Satz in der Jugend? Steckt er nicht voller Zweifel und unangenehmer Erwartungen, die all die Erwachsenen an mich haben werden? Ich will nicht singen, ich will nicht in die Kirche, ich will keinen fetten Weihnachtsbraten. Ich will auch an Weihnachten Vegetarier sein dürfen. Ich will keine Verwandtschaft, auch wenn der Geldschein im Umschlag nicht zu verachten ist. Aber was will ich dann? Keine Ahnung. »Morgen ist Weihnachten!« Muss das sein? Hab’ ich darauf Bock?

»Morgen ist Weihnachten!« Gibt es einen komplexeren Satz mitten im Erwachsenenleben? Steckt er nicht voller unerfüllbarer Erwartungen? Habe ich wirklich an alles gedacht? Sind alle Geschenke gekauft und eingepackt? Ist alles Essen und Trinken für die Reihe der Feiertage eingekauft? Wird der Baum auch ordentlich aussehen? Wer wird sich diesmal alles streiten? Wer unzufrieden mit seinem Geschenk sein? Wie wird das Fest feierlich, und was mache ich, wenn die Schwiegereltern schlecht drauf sind? – Oh Gott, bin ich froh, wenn es geschafft ist!

»Morgen ist Weihnachten!« – ach, wären wir doch alle noch Kinder! Weihnachten lebt vom Besonderen: Düfte, besondere Farben, die vielen Kerzen am Baum mitten im Zimmer. Das reicht, um des Kindes Augen zum Leuchten zu bringen. Etwas in seinem Herzen antwortet auf diese Stimmung. Es bringt Weihnachten mit ins Weihnachtszimmer. Und den Eltern wird warm ums Herz, wenn die Mühe sich gelohnt hat, wenn die reine Freude in den Kindergesichtern steht. Dann wird es auch bei ihnen Weihnachten.

Und plötzlich wachsen dann die Kinder aus dieser Stimmung heraus. Ohne Vorwarnung. Einfach so. Es ist nicht so, dass sie Weihnachten nicht mehr liebten. Sie tragen es bloß nicht mehr ohne Weiteres in sich. Ihr Herz antwortet nicht mehr so, wie es immer geantwortet hat. Plötzlich steht etwas zwischen der Weihnachtsstimmung und ihrem Inneren. Eine Distanz, die sie gern überbrücken würden, aber sie wissen nicht, wie. Ihre Augen, ihre Ohren bleiben an der Oberfläche hängen. Der Weihnachtsbaum ist plötzlich eine geschmückte Tanne, das Weihnachtslied klingt schräg, manchmal gar peinlich, das Essen ist einfach ein leckeres Essen, das Geschenk eine Sache mehr, die man jetzt hat. Auf all dem lag bisher der Weihnachtszauber mit all seinen unnennbaren Wundern, aber an dieses Wunderland reichen sie nicht mehr heran.

Gerade das weckt in den jungen Menschen eine große Sehnsucht. Sie wollen das Verlorene wiederhaben und sie haben auch eine Idee, wer das wieder beschaffen soll: ihre Eltern nämlich. Die bemühen sich oft auch redlich. Alles wird raffinierter, größer, schöner, aufwendiger – vielleicht hilft eine Reise – aber zurück bleibt der schale Geschmack: Vielleicht war es toll und schön, aber war es Weihnachten?

Unwiederbringlich

Was hilft da? Für die Kinder ist die bisherige Weihnachtsstimmung verloren, unwiederbringlich. Sie  wird durch keinen Extraaufwand wieder zu beleben sein. Mit ihr geht es wie mit allen großen Zaubern der Kindheit: das Spielen, Springen, Lachen, das Eintauchen in Geschichten, der selige Glaube an Nikolaus und Osterhase, das sorglose Dahinleben, all das geht verloren. Unwiederbringlich.

Aber es stirbt nicht aus dem Kind heraus, sondern in das Kind herein. Dort ruht es. Ist Fundament geworden. Ist da. Doch nicht mehr verfügbar. Äußert sich nur noch in Sehnsucht und Ahnen und Hoffen. Und ist flüchtig, wenn man zu stark danach greift.

Für die Erwachsenen, die das jugendlich werdende Kind begleiten, ist diese Zeit eine Herausforderung. »Mach Du, dass alles wieder da ist, aber so, wie ich es jetzt brauche. Und wie ich es jetzt brauche, das weiß ich selbst nicht«, so tönt der unausgesprochene, tägliche Appell, und jedes Angebot wird abgewehrt. Wie schwer ist es da, keinen Vorschlag zu machen. Wie schwer ist es, zu schweigen. Wie schwer ist es, zu warten und Geduld zu haben. Denn eines muss bleiben, wenn alles wegfällt: die mütterliche und väterliche Wärme.

Die Wärme, mit der die Eltern bisher Weihnachten »gemacht« haben, bekommt in dieser besonderen Zeit eine neue Aufgabe. Sie muss sich nicht mehr auf die perfekte Vorbereitung richten, sondern kann sich der neuen Entwicklung zur Verfügung stellen. Denn der Jugendliche baut mit seinen Sehnsüchten, seinem Ahnen und Hoffen an sich selber. Und was baut er? Zarte Gebilde, kaum fassbar. Erste Versuche. Verbunden mit der Erfahrung – ich kann das auch nicht. Und da braucht es die Wärme der Eltern, die diesen Weg mitgehen.

Die Natur ist an diesem Punkt ein starker Helfer. Sie berührt den Jugendlichen im Herzen. Wenn man an Weihnachten den vollen Sternenhimmel erleben kann, ein einsames Meer oder Seeufer oder gar eine steile Bergflanke zum Helfer hat, viele Teelichter im windsicheren Glas schützen muss und mit ihrem Licht eine Kathedrale in die dunkle Landschaft bauen oder ein Feuer entzünden kann und in der nächtlichen Kälte heißen Punsch trinkt, wenn keiner etwas sagen darf, außer er hat etwas Weihnachtliches zu teilen, keiner etwas singen darf, außer er trifft den richtigen Weihnachtston, wenn alle zuhören und bereit sind, zu staunen, dann kann daraus vielleicht ein kleiner neuer Weihnachtskeim werden. Vorsicht, dieser Keim ist zerbrechlich, er ist Gegenwart und nächstes Jahr ist es ganz anders. Jetzt dürfen nur die Jugendlichen Gewohnheiten bilden. Sie müssen sagen und bewerten, was sich schon fast wie Weihnachten anfühlte und was noch ganz anders sein muss.

Eine neue Geschenkkultur

Und die Geschenke? Wir machen uns oft nicht klar, dass dieser Brauch aus einer Zeit stammt, in der der materielle Luxus noch nicht verbreitet war. Die Hirten in der Weihnachtsgeschichte machen es uns vor. Ihre Geschenke richten sich nach dem Bedarf und der Not. Milch, Mehl, Wolle und ein Lamm, das sind die Lebensgrundlagen für die Heilige Familie, damit sie nach der Geburt des Kindes leben kann. Wir sind längst aus der Zeit heraus, dass etwas Überlebenswichtiges geschenkt wird. Was gebraucht wird, wird gekauft, zeitnah.

Was kann man da überhaupt noch schenken? Unsere Jugendlichen haben ein starkes Bewusstsein von der Zerbrechlichkeit unserer Erde. Oft machen sie uns zu Recht darauf aufmerksam, wo wir mit Ressourcen unachtsam umgehen. Wir haben nicht besonders viel Zeit für sie. Mir scheint, das könnte eine der Quellen einer neuen Geschenkkultur werden. Man könnte am Feuer etwas versprechen: den ganzen Januar kein Fleisch mehr aus Massentierhaltung zu essen, keine einzeln verpackten Schokoriegel mehr zu kaufen, im Sommer mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren oder jede Woche einen medienfreien Tag einzuhalten.

Und am ersten Weihnachtstag ein richtig gutes Essen und ein geschmückter Raum? Natürlich. Vielleicht darf anstatt des traditionellen Familientreffens jedes Familienmitglied einen Menschen einladen, den es wirklich gern als seinen Gast bei sich hat. Und die ganze Verwandtschaft? Die versteht das, wenn man es ihr erklärt. Wenn man offen und transparent damit umgeht. Und wenn man eine Alternative anbietet, bei der die Jugendlichen dabei sein können, aber nicht müssen. Vielleicht schwärmen sie sogar von dem ganz anderen Weihnachtsfest. Vielleicht. Wie gesagt, es ist zerbrechlich …

Ja, und das Weihnachtsgeschehen selbst?

Wenn das Kind im Elternhaus, im Kindergarten und in der Schule sich durchtränkt hat mit der Weihnachtsgeschichte, wenn es das Weihnachtsspiel gespielt hat und mit »Marias kleiner Esel« jeden Advent auf die beschwerliche Reise gegangen ist, dann ist auch dieses untergetaucht und Fundament geworden. Und es darf ruhen. Im Verborgenen ruht das Bild des Gottes, der sich in Liebe der Welt schenkt. Der sich schutzlos der Erde anvertraut, sich ihren Unzulänglichkeiten hingibt.

Hat nicht jeder Jugendliche durch Geburt und Kindheit dasselbe durchgemacht? Sich schutzlos der Erde anvertraut und sich ihren Unzulänglichkeiten hingegeben? Sie sind sich gar nicht fremd, der Jugendliche und das Christkind. Und es ist gut, wenn der Jugendliche als erster wieder die Nähe sucht.

Wenn die Jugendlichen ihr eigenes Weihnachtsfest schaffen und beginnen, es zu lieben, entwickeln sie eine reale Beziehung zu  Christus, dem dieses Fest gewidmet ist. Das kann gar nicht anders sein. Man darf mit Geduld warten, wie die ungestörte Liebe aus Kindheitstagen ihre eigene Gestalt im Erwachsenenleben entwickeln wird. Und sie wird sich entwickeln – nur vielleicht in einer ganz anderen Form, als wir es erwarten.

Zur Autorin: Alexandra Handwerk ist freischaffende Anthroposophin.