Geduld wird zu Einsicht

Erhard Fucke

Ein Wort gibt es
das ist ein Schlüssel
zu jeder Schöpfung: Geduld.
Sinne dem nach
und du wirst selbst
Schöpfern genähert. 

Wenn schon das Sinnen über die Geduld uns den Schöpfer näherbringen soll, wie viel mehr dann das Üben der Geduld selbst. Die Tugendlehre, die im Griechentum aus inneren Erfahrungen der Seele ins Wort und in den Begriff gebracht wird, erhält durch Plato die erste umfassende Form der vier Kardinaltugenden: Klugheit, Gerechtigkeit, Mut und Maß. Wie stark diese Tugendlehre die Menschen bewegte, zeigen die ausführlichen Kommentare von Thomas von Aquin eineinhalbtausend Jahre später. Rudolf Steiner greift die Tugendlehre als modernes Schulungsmittel auf und verbindet sie mit dem Entwicklungsgedanken: Dass sich die Geduld zur Einsicht wandle: eine ungewöhnliche Metamorphose! Wie kann dies durch eigene Überlegungen nachvollzogen werden?

Alle vierundzwanzig Tugenden, die zwölf Grundtugenden wie deren Verwandlungen, treten nicht ungehindert im Seelenleben auf. Sie müssen gegen manche Widerstände vom Ich übend erworben werden. Das anfangs größte Hindernis besteht darin, die Kontinuität des Übens aufrechtzuerhalten. Wie leicht reißt der Faden ab, weil andere Dinge sich in das Bewusstsein drängen und es besetzen. Das Knüpfen der Perlenschnur, die Übung an Übung reiht, fordert Beharrlichkeit, Stetigkeit und Geduld. Diese Fähigkeit, die bewusste Wiederholung des Gleichen durchzusetzen, stärkt den Willen. Die Geduld gewöhnt und strukturiert ihn, so dass er immer leichter abrufbar wird. Im Vollzug stärkt sie seine Durchsetzungskraft. Im Ziel, auf das die Geduld sich richtet, verbindet sie den Willen mit einem Motiv, oder anders gewendet: mit dem Denken. Die Geduld hilft also die Balance zwischen den Polen des Seelenlebens herzustellen. Mit diesem Charakter steht sie beim Bau und der Gestaltung jeder Tugend Pate. Ohne ihre konsequente Ausbildung kann auch keine andere Tugend gedeihen.

Mit solchen Überlegungen fällt ein erstes Licht auf den inneren Zusammenhang der Tugenden und auf ihre gleichsam organhafte, gemeinsame Wirkensweise. Noch nicht geklärt ist damit aber die Metamorphose von der Geduld zur Einsicht. Der Weg, den die Anthroposophie ermöglicht, zielt auf den Erwerb eines imaginativen Bewusstseins, wie es Goethe in seinen Bemühungen um die Naturwissenschaften zeigt. Goethes Urpflanze ist eine solche Imagination. Um zu Imaginationen zu kommen, bedarf es einer neuen Formierung des Erkenntnisstrebens, dem die Einsicht vorausgeht, dass die augenblickliche Erkenntnisart nur das Tote erklärt und am Lebendigen scheitert. Nach Goethe sind die Phänomene die Theorie. Man kann diese Aussage dahin deuten, dass er einer einseitig begrifflichen Weltdeutung misstraute. Er wollte stattdessen die Sache selbst sprechen lassen. Das aber wird nur möglich sein, wenn der Erkenntnissuchende sich in neuer Weise auf die Wahrnehmungsinhalte konzentriert.

Das Werden und Absterben einer Pflanze wird in der Seele mitvollzogen und es wird auf die Empfindungen geachtet, die diesen Vorgang begleiten. Das hingebungsvolle Miterleben der Phänomene bei unterschiedlichen Konstellationen gibt diesen Gelegenheit, sich im Bewusstsein des Betrachters auszusprechen. Wer dieses Bestreben verfolgt, bemerkt gravierende Unterschiede zum bisherigen Wahrnehmen. Das intensive Einleben in die Phänomene, das zum Beispiel bei der Pflanze deren Gestalt aktiv im Bewusstsein entstehen lässt, beschenkt den Betrachter mit einer Fülle neuer Empfindungen, unter denen erstaunlich viele sind, die einen ästhetischen Charakter haben. Dadurch wird er an die so unterschiedlichen Gestalten der Pflanzen herangeführt, und diese offenbaren langsam ihr Wesen gleich der sinnlich-sittlichen Wirkung der Farben. Wie diese ist auch das Wesen der Pflanzen nicht sinnlich vorgegeben, obwohl es sich im Sinnlichen ausdrückt und von diesem Ausdruck her bewusstseinsmäßig erschlossen werden kann. Goethe freute sich darüber, dass seine Art, die Welt zu betrachten, als anschauende Urteilskraft bezeichnet wurde. Sie war wirklich das Resultat einer gesteigerten Anschauung, in der die Pflanzen ihr Wesen selbst aussprachen, also für die menschliche Einsicht sich öffneten.

Der Unterschied zum üblichen Erkennen wird in dem Gespräch mit Schiller über die Urpflanze deutlich. Schiller erklärt das Zustandekommen dieser Imagination mit dem Ausruf: »Das ist eine Idee.« Goethe entgegnet: »Wie gut, dass ich meine Ideen mit Augen sehen kann.«

Diese imaginative Einsicht ist ein Ergebnis unendlicher Geduld. Die Geduld ist am Werk, weil der Betrachter immer wieder aufs Neue zur Anschauung zurückkehrt und nicht vorschnell in die Interpretation springt. Sie führt ihn beständig zu den Phänomenen zurück, auch wenn die Anschauung vorerst keine besonderen Resultate zeitigt. Sie stärkt die Überzeugung, dass das Üben an sich schon Gewinn ist, weil es das Beherrschen der Seelenfähigkeiten fördert. Nur wenn die Geduld das stille Üben beibehält, kann sich die imaginative Einsicht bilden. – Das macht uns den anfangs zitierten Spruch Christian Morgensterns verständlich. Goethe meint, mit der Urpflanze könnten viele Pflanzen entworfen werden, auch solche, die es gar nicht gibt, die aber durchaus lebensfähig wären.

Da wird die Annäherung des gesteigerten menschlichen Bewusstseins an die »Schöpfer« greifbar. Doch solch imaginatives Bewusstsein ist nicht nur für die Klärung des Naturgeschehens nötig, sondern ebenso zum Beispiel für die Erkenntnis der Wirtschaftsprozesse. So ist der Umfluss und die Funktion der Waren laut Steiner nur durch Imagination im sozialen Organismus zu erkennen. Gerade in unserer Zeit, die durch die Hast und die Vielfalt der Information unser Bewusstsein zerstreut, scheint die Ausbildung von geduldigem und intensivem Beobachten wichtig, ja lebensnotwendig zu sein. Der Geduld innerstes Wesen wird in einem Spruch Rudolf Steiners eingefangen:

Wenn Ruhe der Seele Wogen glättet
Und Geduld im Geiste sich breitet,
Zieht der Götter Wort
Durch des Menschen Innres
Und webt den Frieden
Der Ewigkeiten
In alles Leben
Des Zeitenlaufs.