Gefangen im virtuellen Leben. Eine wahre Geschichte

Sandra Thurm

Da war ich 17 Jahre alt. Ich war mit dabei, als wir die anfänglichen Schritte ins World Wide Web auf unserem Computer unternahmen und das CD-Laufwerk das Diskettenlaufwerk ersetzte. Ich hielt mit diesem Fortschritt mit und besuchte Messen, baute den Computer ständig um – immer auf den neuesten Stand, den der Markt anbot. Ab 1996 fing ich an, mit dem Computer Musik aufzunehmen. Mich faszinierte, was der PC leistete.

Mit der Zeit beherrschte ich den Computer immer besser. In meiner Ausbildung zur Mediengestalterin vertiefte ich mein Wissen. Ich schrieb Programme, programmierte interaktive Präsentationen und konstruierte dreidimensionale Welten. Stundenlang tüftelte ich an Funktionen für Webseiten. Es freute mich, wenn die Anwendung ausführte, was ich ihr beibrachte. Ich erschuf fremde Welten am Computer. Je realer sie aussahen, desto besser. Up to date zu sein hatte in meinem Beruf höchste Priorität. Deswegen war es erforderlich, neben den Scriptsprachen in den Anwendungen auch neue Script- und Programmiersprachen für das Internet zu erlernen.

Immer mehr Anwendungen kamen auf den Markt. Die Kunden verlangten die neuesten Shopping-Systeme oder wollten ihren eigenen Blog. Demzufolge beschäftigte ich mich mit Netzwerkservern, Datenbanken und Datenbankverwaltung. Allmählich wuchs mir alles über den Kopf. Die Kunden bezahlten immer weniger für diese Arbeit, weil sie nicht erkennen konnten, was alles dahinter steckte, bis ein funktionierender Onlineshop im Internet steht. Ich fühlte mich nicht wertgeschätzt und flüchtete mich in die 3D-Welten.

Ein zweites Leben

Es gab im Internet eine Plattform, bei der ich mich anmeldete. In dieser lebte man ein zweites Leben in einer anderen Realität. Die Menschen flüchteten in diese Welt, weil sie die reale Welt nicht mehr ertrugen. Sie erschufen dort einen Menschen, der ihren Wünschen entsprach. Es gab die Möglichkeit, eine digitale Beziehung zu führen, ohne sich in Wirklichkeit auf jemanden einzulassen. Ich baute in meinen Programmen Einrichtungsmöbel für die Traumhäuser der Menschen, die dort lebten. Die Betreiber der Plattform und die Verkäufer der Gegenstände machten große Gewinne. Die Nachfrage stieg. Die Menschen dort kauften für ein paar Dollar ein Haus. Sie brauchten Bekleidung und Einrichtungsgegenstände, für den Aufbau ihrer Welt. Am Ende saß ich jeden Tag zwanzig Stunden am Rechner und baute und programmierte. Ich hielt Kontakt zu irgendwelchen Menschen am anderen Ende der Welt, die ich nicht kannte. In meiner realen Welt steckte ich in einer Gefangenschaft und hatte nur die Familie um mich und kaum Freunde. Ich suchte nicht den Kontakt nach außen. Das äußerte sich in einer Phobie vor Menschenmassen und in öffentlichen Verkehrsmitteln. Sobald ich die Augen öffnete, stellte ich den Computer an. Erst bei Tagesanbruch schaltete ich ihn wieder aus. Das, was ich tat, verfolgte mich nachts in den Träumen. Ich träumte von Egoshootern, von Figuren aus dem Internet und von Programmiercodes und Algorithmen.

Schließlich hatte ich unbemerkt eine Thrombose bekommen, die sich zu einer Lungenembolie weiterentwickelte. Ich bemerkte, dass etwas nicht mit mir stimmte. Ich ging kaum noch einen Schritt, ohne dass mir die Luft ausging. Ich kam ins Krankenhaus. Der Arzt sagte, dass ich den nächsten Tag nicht überleben würde. Nach drei Tagen erfuhr ich, dass ich das Schlimmste überstanden hatte. Die Thromben waren in meiner Halsschlagader und kurz davor, das Gehirn zu erreichen. Als ich dieses Erlebnis überstanden hatte, wollte ich einige Zeit nichts mehr mit dem Computer zu tun haben. Er hatte mein Leben verändert und mir wurde klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Als Kind war ich immer spirituell. In der Zeit nach meiner Lungenembolie widmete ich mich wieder der Spiritualität. Meine Familie wollte das nicht verstehen. Sie erwarteten von mir, dass ich funktionierte wie vorher. Aber diese Erfahrung mit dem Tod riss mir den Boden unter den Füßen weg. Ich hatte verstanden, dass das Leben mehr bietet und dass mich diese Lebensweise später einmal das Leben kosten würde. In mir kamen Fragen auf: »Wer bin ich?«, »Was ist meine Lebensaufgabe?«, »Was hat dieses Leben für einen Sinn?« Unter­dessen passierten noch ein paar Ereignisse, die mein Leben veränderten.

Die Beziehung zu meinem Ex-Mann und seiner Familie war eine Katastrophe. Ich floh wegen häuslicher Gewalt. Nach meiner Flucht war ich acht Monate wohnungslos. Kurz bevor ich eine Wohnung fand, lebte ich in einem Obdachlosenheim. Ich arbeitete zu dieser Zeit ehrenamtlich mit der Kirche zusammen. Wir gestalteten zusammen die Jugendgottesdienste und Veranstaltungen. Ich fühlte mich nicht nur wertgeschätzt, sondern bekam dort auch Hilfen, die ich benötigte. In dieser Zeit besaß ich keinen Computer, kein Internet, kein Handy, keinen Fernseher und kein Radio. Ich lebte ein Jahr medienabstinent. Das führte dazu, dass ich viele Kontakte zu Menschen aufbaute. Ich langweilte mich nie. Bücher traten bei mir immer mehr in den Vordergrund. Ich konnte mir Bücher in der Bibliothek kostenfrei ausleihen, weil ich einen Berechtigungsausweis besaß, den ich von der Stadt als bedürftiger Mensch ausgestellt bekam. Ab diesem Zeitpunkt hielt ich mich viel in der

Bibliothek auf und ging zu Orten, wo sich mittellose Menschen trafen, um nicht alleine zu sein. Nach einem Jahr, als ich endlich eine Wohnung hatte, bekam ich einen älteren Computer. Am Anfang war ich noch vorsichtig.

Das Leben ist schön

Inzwischen hat sich mein Leben sehr gewandelt. Eine Freundin ermöglichte mir den Ausstieg aus Hartz IV. Ich fand in Ruhe heraus, was ich gerne in Zukunft arbeiten will. In der Zeit seit meiner Flucht bis heute, habe ich viel ehrenamtlich mit Kindern und

Jugendlichen gearbeitet. Jetzt bin ich im 2. Lehrjahr als PiA im Waldorferzieherseminar in Stuttgart und fühle mich zu Hause angekommen. Ich liebe meine Arbeit. Ich bin wieder vernetzt, aber in einem gesunden Maß. Ich arbeite mit dem Computer nur noch, um Bücher zu schreiben oder etwas für die Ausbildung auszuarbeiten. Der Computer ist auch mein Werkzeug für meine Musik. In dem Maß ist der Umgang völlig in Ordnung.

Während meiner Computersucht fehlte der Kontakt zur Außenwelt. Ich war völlig abgeschnitten vom Leben. Seine Schönheit konnte ich erst erfahren, als ich mich mitten hinein begeben hatte. Keine virtuelle Realität kann das ersetzen. Und es hilft nur für eine bestimmte Zeit, vor Problemen zu fliehen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ich mich der Realität stellen musste. Die Erfahrungen in der realen Welt, im Hier und Jetzt, haben mich stärker gemacht. Es ist ein Schatz, den ich später einmal weitergeben kann, zum Beispiel an Personen, die in den Situationen gefangen sind, wie ich es war.

Gerade in der Zeit, als wir im Seminar die Epoche Medienpädagogik hatten, begegnete mir jeden Morgen im Bus einer meiner ehemaligen Ausbilder, der mir das Programmieren am Computer beigebracht hatte. Ich glaube nicht an Zufälle im Leben, sondern an Synchronizitäten. Aber das ist ein anderes Thema ...

Zur Autorin: Sandra Thurm ist ehemalige Mediengestalterin für Digital- und Printmedien, Fachrichtung Mediendesign und zur Zeit im zweiten Jahr der praxisintegrierten Ausbildung zur Erzieherin am Waldorferzieherseminar in Stuttgart.