Gegen Rechtsextremismus vorgehen
Der vom »Arbeitskreis für eine offene Gesellschaft« im Bund der Freien Waldorfschulen veranstaltete Online-Thementag »Gegen Rechtsextremismus vorgehen«, hat durch die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen eine neue Komponente bekommen, denn bei diesen Protesten nahmen neben Angehörigen von Waldorfschulen auch Rechtsextreme teil. Der Schreck war groß.
Die Journalistin Annika Brockschmidt hat bei zeit.online auf die Querdenker-Demonstration vom 29.8. in Berlin mit dem Artikel »Sind das jetzt alles Nazis?« reagiert.
Brockschmidt formuliert darin die These, dass der gemeinsame Auftritt von »esoterischen Hippies« und »anthroposophischen Hausfrauen«, die man gewöhnlich der linken Mitte zugerechnet hat, und der radikalen Rechten kein Zufall sei, sondern vorhandene Verbindungen offenbare: »Historische Linien ziehen sich in Teilen der Naturschutz-, Öko- und Esoterikbewegung vom völkischen Sumpf um 1900 bis heute. Bei den Lebensreformern haben wir das ganze politische Spektrum von links bis rechts, von Gleichheitsideen bis Rassismus.«1 Dabei spiele die am Ende des 19. Jahrhunderts sehr populäre Theosophie von Helena Blavatsky eine entscheidende Rolle. Zentral für ihre Sicht seien die sogenannten Wurzelrassen, die nach dem Untergang von Atlantis entstanden sein sollen, wobei deren höchste Entwicklungsstufe die germanische Rasse sei. Auf Blavatskys Ideen beruhe auch die Anthroposophie Steiners, die zutiefst wissenschaftsfeindlich und rassistisch sei und dadurch und durch ihre esoterische Ausprägung eine deutliche Nähe zum Nationalsozialismus offenbare. Zwar gebe es in der Geschichte von Nationalsozialismus und Anthroposophie auch Brüche und Gegensätze: die Anthroposophische Gesellschaft und die Waldorfschulen wurden von den Nationalsozialisten verboten. Es gebe aber auch Verbindungen, die in der Distanz, teilweise sogar Verachtung der Weimarer Republik, der Affinität zu charismatischer Führerschaft und Verschwörungstheorien bestünden.
Das Verhältnis von Nationalsozialismus und Anthroposophen ist kompliziert. Komplizierter, als es Brockschmidt darstellt, aber leider auch komplizierter als in der Darstellung von Peter Selg in der ErziehungskunstArtikel2. Es gab leider doch mehr Anthroposophen mit Sympathien zum Nationalsozialismus als die Hinweise auf die Verbote suggerieren, wie es heute noch Menschen im Waldorf-Umkreis mit Verbindungen zur radikalen Rechten gibt. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen.
Rassismus ist aber keine Besonderheit der Esoterik, wie Brockschmidt behauptet, sondern zentraler Bestandteil der Wissenschaft um 1900. Und an dieser Stelle war Steiner überhaupt nicht wissenschaftsfeindlich, sondern vielleicht sogar zu sehr auf eine wissenschaftliche Theorie fixiert, nämlich den Darwinismus. Ein zentrales Anliegen von Steiner war die Entwicklung des Menschen und der Menschheit. Und dieser Entwicklungsgedanke war in den tonangebenden wissenschaftlichen und politischen (höfischen) Kreisen des wilhelminischen Kaiserreichs um 1900 nicht anerkannt. Steiner hat aus eigener Überzeugung, aber noch verstärkt durch die offizielle Blockadehaltung, für Darwin und vor allem für dessen Vertreter in Deutschland, Haeckel, Partei ergriffen und deren Entwicklungslehre verteidigt, wofür sich Haeckel bei Steiner auch bedankt hat. Dabei hat Steiner zurückgestellt, dass er die Entwicklung in einigen Punkten anders sah. Von Goethe kommend hatte er die Vorstellung, dass die Entwicklung von einem geistigen Urbild (Goethes Urpflanze) ausgehend bis zur Freiheit des Menschen verlaufe. Bei Darwin und Haeckel lag die Betonung darauf, dass sich einfache Organismen in Stufen zu komplexen Organismen entwickeln. Diese Stufen hat vor allem Haeckel bewertet. Die höheren waren die besseren. Und Haeckel hat diese Stufen dann auch auf die unterschiedlichen »Menschenrassen« bezogen. Die Naturvölker waren minderwertig, die zivilisierten Europäer standen auf der höchsten Stufe. Damit lieferte Haeckel »dem Rassismus ein wissenschaftliches Fundament«3, war Vertreter der sogenannten Rassenhygiene (ab 1905) und der Eugenik. Auf Aussagen aus diesem Zusammenhang, den sogenannten Sozialdarwinismus, haben sich die Nationalsozialisten bezogen, während sie auch vorhandene pazifistische Aktivitäten von Haeckel abgelehnt haben.
Steiner hat die Stufenfolge von Haeckel zum Teil übernommen (1899), aber in der Bewertung verändert und immer wieder auf das Allgemeinmenschliche und die Bedeutung der Individualität des einzelnen Menschen hingewiesen. Trotzdem finden wir aus diesem Zusammenhang Formulierungen, die man meines Erachtens als rassistisch bezeichnen muss, wenn auch nicht im engeren, sondern im weiteren Sinne.
Wir müssen dabei natürlich bedenken, dass Rassismus ein unhinterfragtes, allgemein anerkanntes Konzept um 1900 war.
Steiner hat bei der Ausarbeitung seiner Anthroposophie, anfänglich noch als Theosophie, seine Darstellung immer wieder überarbeitet. Dabei hat er darauf hingewiesen, dass für den »Geistesforscher der hochkomplexe physische Leib die größte Herausforderung«4 darstelle, das Schwierigste sei (das größte Rätsel). Nach dieser Aussage wundert man sich über manche extrem vereinfachende, pauschal verallgemeinernde und fragwürdige Aussage über angebliche Eigenschaften von bestimmten »Rassen« wie den »Negern« (GA, 348, S.55) die allerdings im Wesentlichen aufgrund von Vortragsmitschriften vorliegen.
Das müssen wir bedenken, denn es ist wichtig für uns, zu verstehen, wie »Rechte«, vor allem radikale Rechte, Steiner lesen. Und sie lesen ihn. Und davon gibt es leider eine ganze Reihe.
Aus der Zeit des Nationalsozialismus verweise ich nur auf Werner Georg Haverbeck. Nationalsozialist in teilweise führender Position, Anthroposoph und Pfarrer der Christengemeinschaft. Er gründete 1963 in Vlotho das Collegium Humanum, das sich seit den achtziger Jahren zu einem Zentrum für Antisemitismus und Holocaustleugner entwickelt hat. Es wurde 2008 verboten. Seine Frau, Ursula Haverbeck, ist eine der bekanntesten Holocaustleugnerin, die bereits mehrere Haftstrafen verbüßt hat. 1989 veröffentlichte Haverbeck seine Schrift: »Rudolf Steiner: Anwalt für Deutschland«, wodurch seine extreme Positionierung für alle erkennbar wurde.
1993 veröffentlichte der Schweizer Waldorflehrer Bernhard Schaub »Adler und Rose«, in dem auch er den Holocaust leugnete. Er musste daraufhin die Waldorfschule verlassen, ist in der radikalen Rechten extrem gut vernetzt und versucht seitdem, auf Waldorfschulen oder Freie Schulen Einfluss auszuüben.
2004 wurde in einer Waldorfschule in Niedersachsen bekannt, dass ein Lehrer der NPD angehörte und für diese in den sächsischen Landtag ziehen wollte. Ihm wurde gekündigt. Als er daraufhin eine Initiative für eine nationale Waldorfschule gegründet hat, reagierte der Bund erfolgreich mit der Stuttgarter Erklärung (2007), um die Gründung einer explizit nationalen und rassistischen Waldorfschule zu verhindern.
2013 wurde eine Schule in Berlin gegründet, an der Bernhard Schaub beteiligt war. Der Bund hat diese Schule nicht aufgenommen.
2014 wurde entdeckt, dass ein Mitglied einer Schule in Schleswig-Holstein den Reichsbürgern nahestand. Diesem Mitglied wurde gekündigt und der Bund veröffentliche daraufhin die Broschüre »Die »Reichsbürgerbewegung«. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Neu-Deutschtum« (2015).
2015 wurde in einer Waldorfschule in Nordrhein-Westfalen entdeckt, dass ein Lehrer Kontakte ins rechtsextreme Milieu hat. Die Schule hat sich von dem Lehrer getrennt. Und auf Anregung von Eltern begann die Zusammenarbeit mit der regionalen Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus, die auch in anderen Fällen seitdem gesucht und als äußerst produktiv empfunden wurde.
Nach diesem Vorfall wurde vom Sprecherkreis der nordrhein-westfälischen Waldorfschulen der Arbeitskreis »Waldorfschulen gegen Rechtsextremismus« gegründet. Dadurch war eine Plattform gegeben, auf der von Vorfällen berichtet werden und nach Strategien der Bekämpfung gesucht werden konnte. Von diesem Arbeitskreis wurde 2018 eine Waldorfschule in der Auseinandersetzung mit Eltern unterstützt, die an der Demonstration in Chemnitz teilgenommen hatten. Weitere Vorfälle, die in dem Arbeitskreis thematisiert worden sind, waren u.a.:
- Hakenkreuze an den Wänden, bei denen eine Schule den Staatsschutz eingeschaltet hat
- Reichsbürger in der Elternschaft
- Rassistische Äußerungen in einem Schülerchat, bei dem die Staatsanwaltschaft eingeschaltet worden ist.
- Holocaustleugnung.
2019 wurde der »Arbeitskreis für eine offene Gesellschaft – gegen politischen Extremismus und Populismus« als Arbeitskreis des Bundes gegründet.
In diesem Kreis haben wir den Fall Caroline Sommerfeld besprochen, der von der Wiener Waldorfschule aufgrund ihres Bekenntnisses zu den Identitären, einer vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuften Bewegung, gekündigt worden war. Sie hat 2017 ein Buch im Antaios Verlag veröffentlicht, der von Götz Kubitschek geleitet wird. Dieser ist Mitbegründer des Instituts für Staatspolitik in Schnellroda, der zentralen Institution der Neuen Rechten, und Redakteur der Zeitschrift »Sezession«, dem zentralen Publikationsorgan der Neuen Rechten.
Frau Sommerfeld hat nach ihrer Kündigung der Waldorfschule vorgeworfen, die wirklichen Ideen Steiners verraten zu haben. Diese »angeblichen« Ideen hat sie in ihrem Buch »Wir erziehen«5 (2019) formuliert. Ein Abschnitt trägt den Titel »Erziehung zum Ethnopluralismus«. Dies ist der Begriff der Neuen Rechten für Rassismus. Es gehe darum, dass ein Kind vor allem ein Bewusstsein der Zugehörigkeit zu seinem eigenen Volk entwickelt. Und genau das leiste die Waldorfpädagogik, denn sie „verwurzele“6 die Kinder in ihrer »Volksseele«. Ein Volk habe nicht nur eine gemeinsame Abstammung, sondern auch seine gemeinsamen Mythen und seine gemeinsame »Seele«, wobei sie sich bei diesem Begriff ausdrücklich auf Steiners Vortragszyklus »Die Mission einzelner Volksseelen« bezieht. Aber während Steiner diesen Begriff unter anderem aus dem Idealismus ableitet, bei dem Sprache und Kultur im Zentrum stehen, betont Sommerfeld zusätzlich dabei die »Abstammungsgemeinschaft«, die als solche erst am Ende des 19. Jahrhundert in dieser Deutlichkeit proklamiert worden ist. Damit gibt sie dem Begriff der »Volksseele« erst seine eindeutig rassistische Grundierung.
Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind groß.
Anmerkungen
1 https://www.zeit.de/kultur/2020-09/querdenken-demo-corona-protest-rechtsradikale-linksradikale-b2908
2 P. Selg: Anthroposophie und Rechtsextremismus? Zum Verhalten der Waldorfschulen im »Dritten Reich«. In: Erziehungskunst. Heft 11, November 2020, S. 52 – 55
3 J. Neffe: Danke Darwin! In: DIE ZEIT, 31.12.2008
4 Zitiert nach: Chr. Lindenberg: Rudolf Steiner. Reinbek bei Hamburg 1992, S. 104
5 C. Sommerfeld: Wir erziehen. Schnellroda 2019
6 ebd., S.261
Ansgar Martins, 03.12.20 13:12
Vielen Dank für den Artikel, und das in der "Erziehungskunst"! Gut, dass endlich mal jemand Selgs Kolportagen und Konstruktionen widerspricht. Gut, dass jemand Sommerfeld und andere solche Aktivitäten kritisch im Blick behält. Ich wünsche viel Erfolg bei dieser Arbeit.
An ein paar Stellen hätte ich Einwände, eher betreffend die Geschichte als die Gegenwart:
1. Auch Haeckel kommt von Goethe her. Er entwirft eine Morphologie, in der Formwandel und Evolution auf ähnliche Weise zusammen betrachtet werden wie in Goethes Metamorphosenlehre. Steiner musste Haeckel nicht goetheanisch ergänzen, sondern konnte genau da anknüpfen und war anfänglich völlig begeistert. Erst nach 1902 begann er, einige spiritualistische Ergänzungen und Vorbehalte zu formulieren.
2. Die Darstellung, dass Rassismus um 1900 weit verbreitet und wissenschaftlich verankert war, trifft zu. Es gibt trotzdem meines Erachtens keine Anhaltspunkte dafür, dass Steiner seine Vorstellungen über "Rassen" von Haeckel übernahm. Bezeichnenderweise redete er über das Thema erst in der Zeit, in der er sich mit der Theosophie vertraut machte, und benutzte dann auch die theosophischen Namen. In diesem Fall ist Brockschmidt zuzustimmen mit der Diagnose: Bei Steiners ersten Äußerungen zum Thema liegt die Rassenlehre Blavatskys vor. Die Wurzelrassen entstehen dabei allerdings nicht nach dem Untergang von Atlantis, da entsteht nur eine, die "arische Wurzelrasse".
3. Von den siebenfältigen "Wurzelrassen" der Theosophie grenzte Steiner sich ab 1905 nach und nach ab. Die heute meist zitierten Steiner-Vorträge zum Thema entwerfen dann eine alternative Rassentheorie, die nicht auf Blavatsky oder Haeckel oder das Evolutionsdenken des 19. Jahrhunderts zurückgeht, sondern auf die statischen Typenlehren um 1800. Johann Friedrich Blumenbach hat ganz ähnliche Stereotype entworfen und von ihm übernimmt Steiner die Begriffe. In seiner Abgrenzung von der Theosophie greift Steiner also auf noch ältere, "wissenschaftliche" rassistische Entwürfe zurück.
4. Die Inklusion des Individuellen und "Allgemeinmenschlichen" ist keine Besonderheit Steiners. Auch die Rassentheoretiker der Aufklärung formulierten solche Vorbehalte und äußerten sich dann doch rassistisch, wenn sie über ihre "Rassen" reden. Und auch die Theosophie ist "allgemeinmenschlich" und internationalistisch, trotz und in eins mit Blavatskys Rassismus. Dieses Ineinander und Miteinander von Humanismus und Menschenfeindlichkeit ist sozusagen der crucial point.
5. Der Begriff der "Volksseele" wird nicht besser oder schlechter dadurch, dass Steiner ihn in der Tradition des deutschen Idealismus benutzt. Auch Sommerfeld, die promovierte Philosophin ist, steht in dieser Tradition. Freilich ist ihre "Abstammungsgemeinschaft" aber viel dumpfer. Es gab auch eine idealistische Strömung in der völkischen Bewegung im Anschluss an Fichte und Lagarde ("Das Deutschtum liegt nicht im Geblüte, sondern im Gemüte"). Rassismus existiert auf beiden Seiten der Idealismus/Materialismus-Kontroverse.
6. Um die Geschichte der Anthroposophen im Nationalsozialismus zu verstehen, sind die Rassenlehren nur eingeschränkt von Relevanz. Die Teile des anthroposophischen Milieus, die 1933 "dabei" sein wollten (wie Guenther Wachsmuth, der einer davon war, das ausrückte), griffen eher auf Steiners "Deutschtum" und seine Vorstellungen über finstere Geheimlogen hinter "Angloamerika" zurück. Es waren also eher Steiners Kriegsvorträge, die hier zu beachten sind. Diese Nuance ist wichtig, weil der "deutsche Geist" bei Steiner ja nicht körperlich, sondern spirituell funktioniert. Und diese idealistisch-spirituelle "Ergänzung" des biologischen Rassismus war für Nazi-Anthroposophen wichtig (ungefähr nach dem Motto: "Hitler kommt von unten, Steiner kommt von oben, und so geben sie sich die Hand...")
7. Umgekehrt sahen Nazis mit Sympathien für Steiner und die Anthroposophie dennoch, dass die Völker- und Rassenlehre eine Differenz darstellte, Alfred Bäumler zum Beispiel. Die Berührungspunkte lagen eher in "ganzheitlichen", organischen oder antimaterialistischen Ideen.
8. Solche Theorien werden nicht erst von explizit rechtsradikalen Steiner-Lesern geteilt, sondern ziehen sich weit durch die anthroposophische und Waldorf-Literatur und dürften sich noch in den Lehrerzimmerbibliotheken vieler Schulen finden. Auch hier sind die Herausforderungen groß.
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