Gehört Josef auf ein Krippenbild?

Thomas Peek

Die Weihnachtsgeschichte bietet sich ideal an zur ehr­lichen und offenen Auseinandersetzung mit dem Thema (Heilige) Familie. Zugleich bietet sie reichlich Stoff, um über die eigenen Aufgaben in der Welt nachzudenken. Wie hätte jeder von uns sich selber wohl als einer der Hirten gefühlt, denen während seiner Nachtwache erst ein Engel und bald »die Menge der himmlischen Heerscharen« erschien, um die Frohe Botschaft zu verkünden?

Um ehrlich zu sein, verstand ich als Schüler spätestens in der oberen Mittelstufe diese weihnachtlichen Bilder nicht mehr, obwohl sie mir kurz vorher noch geläufig waren. Da hieß es, der Sohn Gottes sei auf die Erde gekommen. Er soll in eine Krippe gelegt worden sein und man nannte ihn »Retter der Welt«! Das klang damals für mich kaum überzeugend. Wer die heutigen kritischen Blicke und manche Kommentare von Oberstufenschülern während der Christgeburt-Spiele wahrnimmt, spürt ebenfalls wenig von andächtig erfüllter Stimmung. Schnell drängt sich ein Hinweis Rudolf Steiners auf: Das menschliche Bewusstsein hat sich seit der Zeitenwende grundlegend verändert. Die Menschheit besitzt heute ein sehr viel wacheres Bewusstsein. Nun versuchen wir weniger aus einem Gefühl heraus, als vielmehr nach sorgfältigen Abwägungen aus dem Denken heraus zu handeln. Die Weihnachtsgeschichte ist mit dem Verstand alleine kaum zu begreifen. Folglich werden zur Adventszeit beinahe zwangsläufig kritische Töne laut. Trotzdem berührt sie weiterhin die Gefühlsebene vieler Menschen.

Der fehlende Vater

In unserer modernen Lebensrealität trennen sich viele Männer bereits früh ganz oder teilweise von ihrer traditionellen Vaterrolle. Dafür gibt es individuelle Gründe. Erwähnt seien hier ausdrücklich alleinerziehende Väter!

Während der adventlichen Gespräche in unserer neu zusammengestellten fünften Klasse offenbarte sich bald, dass das Aufwachsen bei beiden leiblichen Elternteilen zur großen Ausnahme geworden ist. Mehrere Schüler der Klasse suchen oder pflegen Kontakt zu den leiblichen Vätern, andere fanden in dem neuen Lebensgefährten der Mutter ihren Vater, wieder andere wollen von Vätern (momentan) gar nichts wissen. Das wurde in prägnanten Aussagen sehr deutlich.

Als sich im Rahmen der Weihnachtsgeschichte Bedürfnisse andeuteten, über das Thema »Väter« zu sprechen, forderten einzelne Schüler, dass in unserem weihnachtlichen Tafelbild Josef unbedingt vorkommen und besonders bedacht werden müsse. Eine kleinere Gruppe betonte indessen, dass auf den »Erzeuger« auch gut und gerne verzichtet werden könne.

Zunächst wurde vom Lehrer weitgehend ohne Argumentation erwidert, der gehöre ja nun schon traditionell dazu. Bald stellte sich als nächste Frage an die Klasse: Wie alt soll denn unser Josef sein? Sofort klang es fast einmütig: »Ungefähr so alt wie Maria, eben so alt wie (m)ein Papa«! Auch wenn einzelnen bekannt war, dass Josef traditionell deutlich älter als Maria dargestellt wird, überzeugt diese Vorstellung heutige Kinder kurz vor dem Teenager-Alter wenig. Als eine Schülerin forderte, Josef müsse unbedingt liebevoll mit dem kleinen Christkind umgehen, stimmten die meisten wie selbstverständlich nachdrücklich zu. Das sei doch wohl klar! Es gab jedoch auch Klassenkameraden, die höchstens still dazu nickten. Den Klassenlehrer stimmten die Forderungen nach einem liebevollen, jungen Josef allerdings nachdenklich.

Josefs Treue

Auf vielen alten Krippenbildern findet man Josef von Nazareth überhaupt nicht. Wurde er gemalt, sieht er meist sorgenvoll aus, oft müde. Zuweilen wirkt er nachdenklich, sogar blass. Traditionell wird Josef deutlich älter dargestellt als Maria. Vielleicht ist mit seinem angenommenen fortgeschrittenen Alter eine geistige Reife gemeint. Aus den drei Erwähnungen Josefs in der Bibel erfahren wir jedenfalls nichts über dessen Lebensspanne. Treu stand er allerdings zu Maria. Josef kümmerte sich um ihr Kind, gab sich offiziell als der Vater aus und rettete Jesus mit der Flucht vor den mordenden Scharen des Herodes sogar das Leben. Diese Erzählungen nötigten unserer Klasse Respekt ab. In den Augen einzelner Jungen war sogar zu lesen, dass Josef zu so etwas wie einem Vorbild wurde. Zugleich steigerte sich die Aufmerksamkeit bei der Suche nach einem väterlichen Idealbild.

Der liebende Vater

Wie aber sollte das Tafelbild der Heiligen Familie nun für unsere Klasse aussehen? Der Vater Josef musste jedenfalls eine zentrale Rolle einnehmen. Wenige Bilder zur Geburt Christi seit der Romantik lassen etwas von seiner männlichen Stärke und Ausstrahlung erahnen. In spätantiken und mittelalterlichen Darstellungen wartet Josef zuweilen abseits seiner Frau und des Jesuskindes. Er wirkt dann in sich gekehrt – oder besser, wie träumend in sich versunken. So durfte er auf der Tafel natürlich nicht dargestellt werden! Für die Klasse war Josef ein stolzer, glücklicher Vater, der sich um das Wohl seines jungen Sohnes sehr bemüht. Berührt wirkten nicht nur zwei sonst sehr zurückhaltende Schüler bei einem Zitat von Honoré de Balzac: »Erst als ich Vater wurde, habe ich Gott verstanden«. Verstand auch Josef Gott erst, nachdem er unfreiwillig Ziehvater wurde? Vermutlich wird sich kein leiblicher Vater, der solche religiöse Wärme spürt, freiwillig von seinem Sohn trennen wollen.

Außer dessen Namen erfahren wir aus der Bibel weiterhin, dass Josef Zimmermann war. Er übte also ein ehrbares Handwerk aus. In den seit Jahrhunderten weitgehend abgeholzten, waldarmen Gegenden des östlichen Mittelmeerraumes bedurfte dies um die Zeitenwende sicherlich auch manches organisatorischen Geschicks. Und sofort erstreckten sich unsere Klassengespräche auf das weitere Leben Jesu. Bereits als Junge trat der Sohn beruflich in die väterlichen Fußstapfen. Vermutlich war das bei der damaligen Landbevölkerung für den Erstgeborenen so üblich. Von Schülern wurde allerdings auch argumentiert, Jesus hätte einfach aus Liebe zu seinem (Zieh-) Vater ebenfalls Zimmermann werden wollen. In jedem Fall gingen wir davon aus, dass ein sehr enges Band zwischen Vater und Sohn bestand, schon seit frühester Kindheit.

Auf die Frage an die Klasse, welche Haltung Josef als liebender Vater bei seinem neugeborenen Sohn einnehmen müsse, begann das bereits erwähnte Mädchen spontan und schweigend ein imaginäres Kind zu wiegen, was für sie gleichzeitig liebendes Willkommen und Schutz bedeutete. Für die Klasse war das der vermutlich entscheidende und berührende Moment unserer Gespräche. Diese wiegende Haltung musste auch Josef an der Tafel einnehmen.

Die nicht mehr so heile Familie

Selbst die beste familiäre Gemeinschaft ist nicht perfekt. Wahrscheinlich stand auch die Familie von Maria, Josef und Jesus vor inneren und äußeren Zerreißproben. Wir erleben, dass sich familiäre Strukturen wandeln. In unserem Kulturkreis ist die Familie schon lange vieles andere mehr als Vater und Mutter mit zwei Kindern. Aber jeder Mensch benötigt unbedingt familiäre Solidarität und die Sicherheit verlässlichen Daseins füreinander. In der Familie und in der Klasse wird grundlegendes Lebenswissen vermittelt. Hier entsteht Urvertrauen durch Zuwendung und Liebe. Wenn das einigermaßen gelingt, kann es durch das weitere Leben tragen. Das erfahren wir täglich neu durch unsere Schüler. Jeder Lehrer muss auch versteckte oder tabuisierte Themen seiner Klasse abspüren und unabhängig von Lehrplanvorgaben Gesprächsbereitschaft signalisieren. Mit Schülern sollte unbedingt gleichermaßen über schöne, angenehme wie über schwierige Themen gesprochen oder gearbeitet werden. In einer jüngeren Mittelstufenklasse gilt es, solche unbewussten Fragen erst anzuregen. Zuweilen übernimmt der Klassenlehrer dabei auch die Aufgaben eines väterlichen Josef.

Jede Klasse entwickelt ihr eigenes, besonderes Weihnachtsbild. Unser Tafelbild begleitete auf ausdrücklichen Wunsch der Schüler die Klasse noch bis Februar. Eine Schülerin wischte es erst rechtzeitig zu Fasching ab.

Zum Autor: Thomas Peek ist Klassenlehrer an der Ita-Wegman-Schule in Benefeld.