Geistiges Schauen üben

Christoph Hueck

Meditation bedeutet, innerlich zur Ruhe zu kommen, sich zu fokussieren, klar zu werden, sozusagen seelisch bei sich aufzuräumen. Das ist die eine Seite, für viele die wichtigste. Denn der seelische Wildwuchs und das innere Durcheinander, dem wir durch die äußeren Verhältnisse ausgesetzt sind, bewirken eine Schwächung unserer Lebenskräfte. Innere Ruhe und Klarheit stärken sie.

Die andere Seite der Meditation, wie sie im Bereich der Anthroposophie und Waldorfpädagogik gepflegt wird, ist die Erweiterung und Vertiefung des Erkennens. Es macht nämlich einen großen Unterschied, ob man mehr oder weniger von der Welt und den Menschen, die einen umgeben, erlebt und erkennt.

Steine sprechen

In unserer regelmäßigen anthroposophisch-meditativen Übungsgruppe praktizieren wir zum Beispiel eine kleine Steinmeditation, die auf Georg Kühlewind, einen der Pioniere der anthroposophischen Meditation, zurückgeht (siehe Literatur). Sie besteht aus vier Stufen.

Zuerst betrachten wir – jeder für sich – einen kleinen Kieselstein, und versuchen, uns seine Gestalt und seine Details, seine Formen, Farben und Oberflächenstrukturen so gut wie möglich einzuprägen. Das ist bereits eine gute und wirksame Konzentrationsübung.

Dann schließen wir die Augen und stellen uns den Stein innerlich vor, zeichnen ihn sozusagen vor unser inneres Auge hin. Er soll dabei so lebensecht, klar und detailliert wie möglich vor uns erscheinen. Das ist schon recht schwierig, denn der Stein bleibt nicht so schön da, wie er es äußerlich tut. Wir müssen immer wieder neu ansetzen, um ihn durch innere Tätigkeit vor uns hinzustellen. Während der erste Schritt eine Übung des wachen und fokussierten Wahrnehmens ist, übt der zweite das aktive und konzentrierte Vorstellen. Es kann durchaus sein, dass man am Anfang kaum etwas von dem vorher Wahrgenommenen vorstellen kann.

Blickt man dann aber wieder äußerlich auf den Stein, so nimmt man schon mehr wahr als vorher. Die beiden Schritte verstärken sich gegenseitig, und schon nach wenigen Wochen regelmäßigen Übens (es reichen 10-20 Minuten am Tag) kann man den Stein immer länger und genauer in der Vorstellung halten. Wie bei jeder Fähigkeit, die man neu erlernen möchte, kommt man durch regelmäßiges Üben auch tatsächlich weiter.

Für die dritte Stufe unserer Meditation nehmen wir dann eine ganz andere innere Haltung ein. Vorher hatten wir die Intention, den Stein mit unserer Wahrnehmungs- und Vorstellungskraft so genau wie möglich zu erfassen. Die Aufmerksamkeit strahlte sozusagen von uns aus und zum Stein hin. Nun versuchen wir, uns innerlich so ruhig und leer wie möglich zu machen und dann – indem wir ihn wiederum betrachten – den Stein gleichsam zu uns »sprechen« zu lassen. Wir versuchen, so viel wie möglich zum Gefäß oder Resonanzraum für ihn zu werden.

Das ist eine ganz andere Form der Wahrnehmung, in der mehr das Empfinden und Fühlen als die Vorstellungskräfte wirken. Auch körperlich kann man beobachten, dass man bei den ersten beiden Stufen Kräfte im Kopfbereich anwendet, während jetzt eher die Herzregion angesprochen ist. Doch ist hier Vorsicht geboten. Es besteht nämlich die Gefahr, dass man sich nur selbst fühlt. Es kommt aber darauf an, den Stein zu fühlen. Das ist ein durchaus subtiler, aber wesentlicher Unterschied. Denn das Ganze soll ja dazu führen, die Selbstbegrenzung des Ich zu überwinden und wirklich mit der Welt in Berührung zu kommen. Rudolf Steiner wies in seinem Buch »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« darauf hin, dass der Schüler der Meditation »zwischen einer Schar von Verführern seiner Seele« hindurch muss. »Sie alle wollen sein ›Ich‹ verhärten, in sich selbst verschließen. Er aber soll es aufschließen für die Welt.«

Die erste und zweite Stufe dieser Meditationsübung sind daher eine unerlässliche Voraussetzung für die dritte. Denn nur durch die genaue Wahrnehmung und objektive Vorstellung komme ich ja überhaupt in Kontakt mit dem anderen Wesen, das ich vertieft erleben und erkennen möchte.

An dieser kleinen Übung kann man schon bedeutende seelische Beobachtungen machen. Zum Beispiel über das Verhältnis von Zeit, Tätigkeit und Erleben.

Auf der ersten Stufe des Wahrnehmens bleibt der Stein ja einfach dort, wo er ist, und er tut das auch dann, wenn die Aufmerksamkeit abschweift. Er liegt mir gegenüber, zeigt mir aber auch nur seine Oberfläche.

Auf der zweiten Stufe bleibt das Bild des Steins für eine mehr oder weniger kurze Zeit vor mir stehen, verschwindet dann aber wieder aus meiner Vorstellung. Ich brauche Energie, um es immer wieder neu in den Fokus des Bewusstseins zu stellen. In dieser Tätigkeit bin ich auf eine geheimnisvolle, fließende und strömende Weise schon viel stärker mit dem Stein verbunden als im äußeren Wahrnehmen.

Auf der dritten Stufe der inneren Öffnung ändert sich die Qualität des Erlebens. Wenn sie gelingt, fühlt man den Stein viel intensiver, als das im bloßen Wahrnehmen und Vorstellen möglich ist. Plötzlich geht der Vorhang der Seele auf und man wird innerlich wie von dem anderen Wesen berührt, fühlt etwas von seinen Qualitäten, von seiner Substanz, seiner Härte und Dichtigkeit, seiner Kristallinität, seiner Ruhe und Ertragsamkeit, seinem Stein-Sein. Doch sobald man die Berührung bemerkt, ist sie auch schon wieder entschwunden. Man weiß noch: Da war was, aber man »hat« es nicht mehr. Den physischen Stein kann man in der Tasche tragen, die seelische Berührung weht und vergeht wie ein Lufthauch.

In seinem Buch »Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen« beschrieb Steiner gerade diese Kürze des Erlebens als Kriterium echter übersinnlicher Erfahrungen: »Man kann sagen: in dem Augenblick, in dem sie auftreten, sind sie auch schon wieder entflohen. […] Das übersinnliche Erleben ist wirklich viel verbreiteter, als man gewöhnlich denkt. Der Verkehr des Menschen mit der geistigen Welt ist im Grunde etwas ganz Allgemein-Menschliches. Aber die Fähigkeit, mit rasch wirkender Bewusstseinskraft diesen Verkehr erkennend zu verfolgen, muss mühsam erworben werden.«

Die beiden ersten Stufen der beschriebenen Übung kann man »machen«, sie hängen von mir selbst ab. Für die dritte kann ich mich nur vorbereiten, das Erlebnis selbst bleibt immer ein Geschenk.

Die vierte Stufe erfordert schließlich noch eine andere Art von Vorbereitung. Dazu versuchen wir, das Gefühl von Ehrfurcht in uns wachzurufen und uns so intensiv wie möglich damit zu durchdringen. Mit dieser Ehrfurcht blicken wir dann wieder auf den kleinen Stein und hüllen ihn gleichsam darin ein. Wir sind jetzt ganz bei ihm, und er beginnt, uns noch mehr von seinem Wesen zu offenbaren als bisher. In einer Art von erlebendem Denken oder denkendem Erleben (man könnte es »geistiges Schauen« nennen) fühlen und erkennen wir, wie unvorstellbar alt er ist, wie viel er von seiner Entstehung an erfahren hat, bis er jetzt hier in unserer Hand liegt. Wir spüren, dass er einst Teil eines riesigen Gebirges war und erahnen die Kräfte, die auf ihn gewirkt und zu dem gemacht haben, was er jetzt ist. Wir erleben ihn als Repräsentanten der Erde, die uns trägt, und können ihm gegenüber ein tiefes Dankbarkeitsgefühl empfinden. Wir tauchen in eine überzeitliche Sphäre ein und begegnen dort dem geistigen Wesen des Steins.

Schließlich beenden wir die Übung mit einem kurzen inneren Rückblick und einem Gefühl von Dankbarkeit für das Erlebte.

Das Ganze muss, wie gesagt, nicht länger als 20 Minuten dauern. Aber es wirkt, gerade in regelmäßiger Wiederholung, homöopathisch durch den ganzen Tag. Die Seele wird klarer, die Wahrnehmung feiner und reicher, die Lebenskräfte frischer, die Arbeit geht leichter, konzentrierter und wirkungsvoller von der Hand. Man schläft besser ein und wacht schneller auf, hört besser zu, begreift schneller, wird kritikfähiger usw. Man erlebt aber auch zum Beispiel die betäubende und vergiftende Wirkung der Bildschirmmedien stärker, und mit der Zeit entwickelt man die Kraft, die eigene Aufmerksamkeit selbst zu führen und nicht mehr wie gebannt überall, wo es bunt flimmert, hinschauen zu müssen.

Mit Hilfe des Engels

Die genannte Übung lässt sich im Sinne von Erkenntniserweiterung ausbauen. Interessant ist es zum Beispiel, auf dieselbe Art und Weise eine Pflanze zu meditieren und dann die Erfahrungen mit den am Stein gemachten zu vergleichen. Man kann die Übung natürlich auch auf einen Vergleich von Stein, Pflanze, Tier und Mensch ausweiten. Ebenso lassen sich verschiedene Mineralien oder Pflanzen miteinander vergleichen. Man wird dadurch immer feinere Wahrnehmungsunterschiede bemerken; die Rose, die Tulpe, das Stiefmütterchen oder die Distel werden auf immer subtilere Weise in unterschiedlichen Sprachen von sich erzählen.

Insbesondere wird die Begegnung mit anderen Menschen vertieft und bereichert, wenn es auch nicht ohne Weiteres zu empfehlen ist, andere Menschen auf diese Art zu meditieren. Man kann aber zum Beispiel als Lehrer oder Erzieher sich einem Kind innerlich meditativ zuwenden, wenn man vorher »seinen Engel um Erlaubnis« fragt, und man kann in diesem Fall die letzte, vierte Stufe der Meditation in die innere Frage ausklingen lassen: »Was kann ich morgen für dich tun, um dir auf deinem von dir selbst gewählten Weg einen Schritt weiter zu helfen?« Die Antwort kommt dann oft ganz unverhofft an einem der nächsten Tage.

Zum Schluss noch ein paar Worte zum Praktischen. Zunächst: Es hat keinen Sinn zu meditieren, wenn man müde ist. Dann verpufft die Energie, und man wird eher frustriert, als dass man weiterkommt. Man braucht eine Zeit und einen Ort, wo man ungestört ist. Die Körperhaltung sollte die Wachheit unterstützen, man sollte aufrecht sitzen, aber nicht unbequem. Und es ist hilfreich, Anfang und Ende der Übung bewusst zu gestalten. Besonders fruchtbar ist es, gemeinsam in Gruppen zu üben und sich über Erfahrungen, Fragen und die anthroposophischen Hintergründe auszutauschen.

So bleibt auch die Anthroposophie Rudolf Steiners kein bloß gedankliches System mehr, sondern wird immer mehr zu einer lebenspraktischen und lebensförderlichen Weltanschauung.

Zum Autor: Dr. Christoph Hueck, Biologe, Waldorfpädagoge, Dozent für Anthroposophie und anthroposophische Meditation, Mitbegründer der Akanthos Akademie, Stuttgart, www.anthroposophie-als-geisteswissenschaft.de

Literatur: G. Kühlewind: Die Belehrung der Sinne – Wege zur fühlenden Wahrnehmung, Stuttgart 1998, erscheint als Neuausgabe im Frühjahr 2019 | R. Steiner: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? GA 10, Dornach 1992 | R. Steiner: Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen, GA 16, Dornach 1982

Veranstaltungshinweise: 17.11.18: »Meditation und die Wahrheitskriterien der übersinnlichen Erkenntnis«, Forschungskolloquium, Stuttgart; 22.-24.3.2019: »Die Seele atmet im Licht – meditatives Üben zwischen Wahrnehmung und Denken«. www.akanthos-akademie.de