Land macht Leute. Geographie als Weg zum anderen Menschen

Johannes F. Brakel

Die Geographie erkundete den Weg zu Menschen anderer Regionen und machte ihn gangbar. Anders als andere Wissenschaften, die – analytisch trennend – immer spezielleres Wissen in immer schmaleren Fachgebieten erkunden, führt die Geographie aus den verschiedensten Fachgebieten das Wissen zu jeweils einem Gebiet der Erde – synthetisch – zusammen. Zu diesen Fachgebieten gehören u.a.: Geologie, Geomorphologie, Bodenkunde, Hydrographie, Meteorologie, Land- und Forstwirtschaft, Botanik, Zoologie, Ökologie, Demographie, Geschichte und Religionswissenschaft.

Die Aufgabe, Wissenschaft für den Handel zu sein, hat die Geographie im 20. Jahrhunderts zum großen Teil verloren. Ihr synthetischer Ansatz wurde als unwissenschaftlich verunglimpft; die Wissenschaft der Geographie geriet in eine Krise. An den Schulen verschwand sie mehr und mehr aus den Lehrplänen. Heute führt sie nur noch ein Dasein am Rande von Politik und Sozialkunde.

Ihre pädagogischen Möglichkeiten hingegen sind ungebrochen: Ihre synthetische Vorgehensweise erleben viele Kinder als wohltuende Ergänzung zu den analytischen Naturwissenschaften. Indem wir unseren Kindern von den Lebensbedingungen und -verhältnissen in anderen Regionen berichten, können sie das dortige Leben nicht nur verstehen, sondern auch mitfühlen, ja im besten Falle lieben lernen. Die Geographie führt also auch im übertragenen Sinne zum anderen Menschen.

Selbst uns Erwachsenen geht das so. Wer nur einmal den Dokumentarfilm »China Blue« von Micha X. Peled über die Lebensverhältnisse der chinesischen Näherinnen gesehen hat, kann eigentlich gar nicht anders, als die kleine Jasmin und ihre Freundinnen zu mögen. Wer den Film drei- oder viermal gesehen hat, wird dann allerdings auch die Beweggründe des zunächst unsympathisch auftretenden Fabrikbesitzers Mr. Lam verstehen.

Nun gibt es auch in der Geographie durchaus verschiedene Ansätze. Welche Art Geographie führt die Kinder zum anderen Menschen? Pablo Neruda beschreibt in seiner »Ode an den Globus« seine Zweifel an dem ausschließlich abstrakten Vorgehen über Landkarten und den Globus – die damals übliche Methode:

»… Weltenkarte, du
Gegenstand der Erkenntnis,
bist
wie eine üppig grüne Traube
schön
oder wie eine
überirdische Zwiebel,
aber
du bist
die Erde nicht,
Du birgst
nicht
Kälte, nicht Blut,
Feuer nicht noch Fruchtbarkeiten.

Betrüge uns nicht
weiterhin
mit deiner runderhabenen Haut,
mit deiner Glätte.

Ich will die Welt
rau
und wirklich
sehen,
denn wir sind keine
Punkte,
Linien,
Zeichen
aus planetarischem Papier.

Wir, die Menschen, sind
dunkle
Keime
der Helle, die
überfluten wird das Erdenrund
durch unsere Hände.«

Dieser letzte Satz zeigt im Kern Pablo Nerudas positives und aktives Menschenbild. Wir können ihn geradezu als pädagogisches Leitbild lesen: durch unsere Hände licht- und liebevoll zu wirken. Dazu brauchen unsere Kinder im ersten Jahrsiebt vor allem die Erfahrungen der Hände; sie müssen selber praktisch etwas Positives tun können. Im zweiten Jahrsiebt bis in die Pubertät hinein sollen sie erfahren dürfen, dass die Welt schön ist. Dafür brauchen sie konkrete, lebensvolle Schilderungen, wie Menschen an anderen Orten leben, was diese erfreut, woran sie leiden, wofür sie sich einsetzen, aber auch, mit welchen manchmal schwierigen Verhältnissen der Natur sie zurechtkommen müssen. Trotz mancher Katastrophen, mancher Kriege, die nicht verschwiegen werden sollen, muss der Grundtenor dabei immer der sein, dass die Welt ein schöner Lebensort mit ganz unterschiedlichen Färbungen ist, den man gerne hat und für den man sich einsetzen kann.

Wüste – der Einzelne überlebt nicht

Natur und Kultur einer Region gehören immer zusammen. Das lässt sich an extremen Lebensräumen dieser Erde leichter zeigen als im klimatisch gemäßigten und überreichen Mitteleuropa, wo die Kinder in dem Gefühl aufwachsen, dass alles jederzeit zur Verfügung steht oder im nächsten Laden ganzjährig zu bekommen ist. Wie können Menschen in einer trockenen, heißen Wüste leben, wo sich dem Auge nichts als tote Steingerippe darbieten, wo gelb-braune Sandstürme sich über ein notdürftiges Nomadenlager wälzen und alles zu ersticken drohen, wo die Sorge um Wasser zu einem täglichen Kampf um das Überleben des Einzelnen und seines Stammes wird? Sie müssen die Natur kennen, ja, aber sich niemals in sie fügen, sondern immer gegen die Dürre, gegen den Durst, gegen den drohenden Tod ankämpfen. Kampf und Selbstbehauptung sind hier die Grundstimmungen des Alltagslebens.

Den Gegenpol zur menschenfeindlichen Natur bildet eine Kultur, die nichts von der Wüste geschenkt bekommt, sondern sich in allem von ihr absetzen will: weiße, kubische Häuser, die sich funktional und optisch von der Wüste absetzen und sich nicht nach außen, sondern nach innen wenden; farbenfrohe Gewänder und Kamelsatteldecken beleben das Auge, liebevoll gearbeitete und verzierte Silber- und Lederamulette sind geschätzte Begleiter, ein sorgfältig und schön gearbeitetes Lederzelt als selbstbehaupteter Lebensraum im wörtlichsten Sinne: »Der Mensch kann nicht ohne schöne Dinge leben«, sagen die Tuareg. Der Mensch muss die Schönheit dort selber schaffen, wo ihm die Natur sie nicht von sich aus schenkt. Ein einzelner Mensch, das von uns so oft gepriesene Individuum, wäre verloren in der Wüste. Nur wer sich mit Anderen bedingungslos zusammenschließt, kann überleben. Solidarität und gemeinsames Handeln, etwa beim Brunnenbau oder beim dreitägigen Gastrecht sind kulturelle Konsequenzen, die es erlauben, sich gegenüber einer feindlichen Natur zu behaupten.

Der Regenwald erzieht zu Demut

Völlig anders ist das Leben in den Monsungebieten Südostasiens: Wie können Menschen in einer von Leben überquellenden, sie überwältigenden Natur bestehen, in einer Natur, die üppig grünt und blüht, die sie mit Wasser und Fruchtbarkeit förmlich überschüttet, in der die Regenwälder gewaltig über sie hinaus ragen und in der die Welt von vielen mächtigen Göttern belebt erscheint? Ein Kampf gegen diese sowohl lebenspendenden als auch zerstörerischen Kräfte wäre von vornherein aussichtslos, richtete er sich doch gegen das Leben selbst. Duldsamkeit und Hingabe sind hier angemessenere Reaktionen. Der hingebungs- und demutsvolle Schulungsweg des Buddhismus ist natürlich kein Ergebnis des Monsunklimas. Aber er entstand hier und nicht in der Wüste, bevor er in alle Welt hinauszog.

Die leere Steppe braucht Mut und Wachheit

Wie können Menschen in einer leeren Grassteppe leben, in der sie nichts Nahrhaftes finden könnten, würde ihnen ihr gesamtes Leben nicht von den Rindern gespendet? Milch und Blut als nahezu einzige Nahrungsquellen, Felle als Lager, Dung als Brennmaterial. Welche Fähigkeiten müssen die Kinder dort im Zusammenleben mit den Tieren erwerben, wenn sie nachts die Herden im Dorngestrüpp-Kral vor den heranschleichenden Löwen beschützen, nur mit einem Speer bewaffnet, oder wenn sie mit ihnen viele Wochen umherziehen? Mut, Unerschrockenheit und Wachsamkeit sind überlebenswichtige Eigenschaften der Steppenbewohner.

Beengte Siedlungsräume und die Liebe zum Kleinen

Wie können Menschen in einem Land leben, das fast nur aus Gebirgen besteht, wo es nur wenige Flächen für den Reisanbau gibt, wenige Flächen, um halbwegs erdbebensicher ein Haus zu bauen, wo Erdbeben, Vulkane und Tsunamis zum Lebensalltag gehören? Die zierliche klassische japanische Leichtbauarchitektur, aber auch die extrem dichte Bebauung der Großstädte, die Vorliebe für alles Kleine und sorgfältig Geformte und Gearbeitete, für Bonsai und eine ausgefeilte Teezeremonie sowie für raffinierte Elektronikprodukte sind kein Ergebnis der Natur, aber sie fügen sich in die Grundvoraussetzungen von Japans Natur. Wie fühlen sich die Menschen in den japanischen Megacitys? Wie erhalten sie sich private Rückzugsräume?

Der innere Zusammenhang von Natur und Kultur wird von den Kindern in der Klassenlehrerzeit noch nicht völlig verstanden werden. Aber die aufgenommenen Bilder schaffen eine Grundlage, auf die in der Oberstufe aufgebaut werden kann. Denn dann werden auch abstraktere Überlegungen zu globalen Zusammenhängen und wirtschaftlichen Verflechtungen hinzukommen. Je mehr der Klassenlehrer aus eigenen Beobachtungen und Überlegungen, aus eigener Anschauung berichten kann, desto besser. Er findet Bildmaterial zur Vorbereitung heute in bewundernswerter Qualität in Magazinen wie GEO oder National Geographic.

Texte, die einerseits anschaulich und liebevoll beschreiben, andererseits dem Verständnis Zusammenhänge erschließen, sind hingegen selten. Manches Material liefern die Organisationen der Entwicklungshilfe.

Mit dem Buch »Buschmann, Buddha, Tuareg« liegen Schilderungen zu afrikanischen und asiatischen Ländern vor, die von Schülern selber in der Schule oder zu Hause gelesen werden können oder dem Klassenlehrer Grundlagen für seine eigenen Vorbereitungen geben. Texte zu anderen Kontinenten sind in Vorbereitung.

Die Entwicklung der Kinder weist Parallelen auf zur allgemeinen Kulturentwicklung der Menschheit. Das Leben von Jägern und Sammlern in der Savanne ist daher auch leichter zu verstehen als das eines japanischen Ministerialbeamten. So erscheint es sinnvoll, im Geographieunterricht mit den frühen Kulturstufen der Menschheit, mit den heute noch lebenden Jägern und Sammlern, etwa den Buschmännern Afrikas zu beginnen. Dem könnten Beispiele von Viehzüchtern folgen, dann die Konflikte zwischen den Ackerbauern mit den Viehhirten, die Probleme mit der Ankunft der Europäer – bis hin zu modernen Industriegesellschaften. Ein Land wie Namibia, das im 19. und 20. Jahrhundert brutal kolonialisiert wurde, kann man erst einmal aus der Sicht der Ureinwohner, der Buschmänner, der Himba und Herero schildern und deren Erfahrungen mit der Kolonialisierung beschreiben. Damit beugen wir vielleicht etwas jener Kolonialherrenattitüde vor, die in jedem von uns immer noch steckt. Wie gesagt, auch hier sollte der Grundtenor immer der des Schönen und in der Zukunft Bewältigbaren bleiben.

Rudolf Steiner fasst die Wirkungen eines guten Geographieunterrichtes in einem Vortrag vom 14. Juni 1921 zusammen. »Ein Mensch, mit dem wir verständig Geographie treiben, steht liebevoller seinem Nebenmenschen gegenüber als ein solcher, der nicht das Daneben-im-Raum erlernt; er berücksichtigt die Anderen.«

Zum Autor: Johannes F. Brakel ist Lehrer für Biologie, Chemie und Erdkunde an er Rudolf Steiner Schule Hamburg-Wandsbek. Bücher des Autors: »Birken, Mohn und Baobab«, Stuttgart 2005, und »Buschmann, Buddha, Tuareg«, Stuttgart 2009.