Soziale Gesundheit heißt voneinander lernen

Erziehungskunst | Was macht Familie heute aus? Wo und wann bildet sich Familie?

Sarah Oran | Natürlich gibt es das klassische Bild von Familie, das einem sofort in den Sinn kommt: Mutter, Vater, Kind. Das weicht sich gesellschaftlich auf, denn heute gilt als Familie beispielsweise auch »Mutter-Kind« oder »Vater-Vater-Kind«. Diese Entwicklung wird immer vielfältiger und individueller. In einer Kleinstadt wie Heidenheim lebt allerdings noch das klassische Bild von Familie. Dazu gehören besonders auch die Großeltern. Man kann beobachten, dass bei der Gründung der Familie junge Eltern in ihre »Heimat« zurückkehren, weil es ihnen wichtig ist, dass die Großeltern dazugehören. Dann gibt es auch solche Familien, die sehr von ihren »Leih-Omas« und »Leih-Opas« profitieren; die gehören wirklich zur Familie. Diese Art von Familie entsteht dort, wo ehrenamtliches Engagement, Beziehung und Zeit geschenkt werden. Meine Arbeitskolleginnen und ich stellen auch eine Art Familie dar. Jeder hat seine Rolle hier und durch die gemeinsame Arbeit entsteht eine gemeinschaftliche familiäre Atmosphäre. Zu uns in das »Haus der Gesundheit« kommen aber auch viele Menschen in Notsituationen und finden so etwas wie eine Familie auf Zeit, eine Gastfamilie. Es sind Augenblicke der Begegnung, in der Zeit stillsteht.

EK | Was haben alte und junge Menschen gemeinsam?

SO | Jeder Mensch bringt seine Erfahrungen mit, bewusst oder unbewusst, und das ist verbindend. Denn die Menschen haben viel mehr gemeinsam, als ihnen bewusst ist. Kindern und alten Menschen ist gemeinsam die Sehnsucht nach sozialer Berührung, der Wunsch als Einzelwesen wahrgenommen zu werden und das Bedürfnis, wirklich in die Tat kommen zu können.

Was Alt und Jung unterscheidet, ist die Qualität ihrer Erfahrungen. Alte Menschen haben oft viel Kummer erlebt, was – wenn es gut geht – ein Kind in jungen Jahren noch nicht so oft erfahren sollte. Alte Menschen tragen die Entscheidungen in sich, die sie getroffen haben, das, was sie durchtragen mussten oder wollten. Es sind die biographischen Umbrüche, die Kinder noch nicht erlebt haben, die den Unterschied machen. Auch gerade in der jetzigen Situation ist das erlebbar. Meine Großmutter, die den Krieg miterlebte, hat einen großen Lebenshorizont, woraus eine weite Perspektive mit mehr Zuversicht und Vertrauen in die innere Kraft der Menschen resultiert. Das kann wirklich Trost spenden.

EK | Warum brauchen alte und junge Menschen einander?

SO | Da wir hier im Bereich Gesundheit tätig sind, fällt mir auf, dass ältere Menschen ein Wissen über Gesundheit oder den Umgang mit Kindern haben, den wir uns als jüngere erst erarbeiten müssen. Sie sind eine Art lebendiger Beweis für ein Wissen, das noch vor Jahrzehnten breites Kulturgut war. Dazu gehört auch eine stärkere Sicherheit in der Begegnung und im Umgang mit der Natur. Andererseits brauchen die Älteren die Jungen, um jung zu bleiben. Junge Menschen machen ihnen oft Mut, etwas anzupacken oder Neues zu lernen. Es ist nicht immer leicht als alter und wissender Mensch, sich einzugestehen, ich kann etwas nicht mehr oder gar nicht, und es auch zuzulassen, dass ein junger Mensch kommt, um einem etwas beizubringen.

EK | Was hat das mit Gesundheit zu tun?

SO | Zum Gesundheitskonzept unseres Hauses gehört die komplette Abbildung des Lebens. Es ist nicht das Rezept, das der Arzt über die Theke schiebt, denn zur Gesundheit gehört soziale Begegnung, Kunst und Kultur sowie das Voneinanderlernen, wir wollen Hilfe zur Selbsthilfe bieten. Gesundheit entsteht erst, wenn alle diese Elemente zusammenkommen; ohne die einzelnen Elemente geht es nicht. Deshalb versuchen wir, nicht eine einzelne »Gesundheitsleistung« zu erbringen, sondern soziale und kulturelle Anlässe zu schaffen, die Gesundheit fördern und im Idealfall das gesamte soziale Umfeld einbeziehen. Natürlich sind im »Haus der Gesundheit« auch eine Arzt- und Hebammenpraxis sowie weitere Therapieangebote, aber das ist nicht der zentrale Fokus unserer Aktivität.

EK | Wie kam es zum Mehrgenerationen-Haus?

SO | Die Idee hatte Carmen Eppel, die hier als Frauenärztin arbeitet, schon lange. Sie hatte den Wunsch, enger mit den Therapeuten zusammenzuarbeiten und nach kurzen Wegen. Dann entdeckte sie die soziale Dimension der Gesundheitsfrage und es entstand auch eine Kulturbühne im Haus. Ein weiterer Faktor war, dass die Stadt Heidenheim schon lange ein Gesundheitszentrum geplant hatte, damit aber gescheitert war. Es kamen zwei Dinge zusammen, das ehrenamtliche Engagement unserer Initiative und das Bedürfnis der Stadt bzw. die Unterstützung des Bürgermeisters.

EK | Was geschieht konkret im Mehrgenerationen-Haus?

SO | Es gibt die normalen Angebote, wie das »Mehr­generationen-Frühstück«, wo alle zusammenkommen: Eltern aus der Mutter-Kind-Gruppe, Mütter, die ihre Kinder in die Kindergartengruppe bringen und Patienten jeden Alters, die gerade Wartezeit haben. Sie kommen hier ins Gespräch und verabreden sich dann oft für Spaziergänge. Ein weiteres Angebot ist das offene Maltreffen: Zu diesem kommen Menschen gezielt, weil es beworben wird, andere zufällig, weil sie nebenan im Wartezimmer sitzen und Zeit haben, aber auch Menschen mit Behinderungen haben das Treffen für sich entdeckt. So entstehen querbeet kleine Gemeinschaften. Eine dritte Ebene, auf der sich die Generationen begegnen, sind die lebenspraktischen Bildungsangebote: Wickel auflegen, die Kulturbühne, Ringvorlesungen, künstlerische Kurse und auch eine Art Elternfortbildung. Das gesamte Spektrum der Angebote deckt die gesundheitlichen Bedürfnisse der menschlichen Biographie ab: Von der Geburt über die Kindheit und Familie, bis hin zur Pflege im Alter.

EK | Was hat Sie der Aufbau des Mehrgenerationen-Hauses« gelehrt?

SO | Dass schon ganz viel vor Ort vorhanden ist und lebt. Man kann es auffinden, wenn man sucht, denn es gibt schon viele Angebote und Initiativen, zum Beispiel in den Vereinen. Die Frage ist allerdings, wie sich die sozialen Begegnungsräume gestalten lassen. Was wir gelernt haben, ist, dass es wirklich Arbeit braucht im Sozialen; es reicht nicht aus, einfach einen sozialen Raum zur Verfügung zu stellen, sondern er muss immer neu erfüllt werden. Das erfordert Flexibilität, auch im Umgang mit Menschen.

EK | Was könnte von diesen Erfahrungen auf die Schule übertragen werden?

SO | Wir versuchen, die Zusammenarbeit mit der Waldorfschule zu vertiefen. Diese betreibt hier den Kindergarten. Nun versuchen wir, therapeutische Angebote für die Lehrerinnen und Lehrer zu schaffen – nicht bei uns im Haus, sondern direkt dort in der Schule.