Geschichte als interkultureller Dialog

M. Michael Zech

Unterricht findet heute unter transkulturellen Bedingungen statt. Oft haben über 50 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund. 2016 hatten laut Statistischem Bundesamt 27 Prozent der Gymnasialschüler, 37,5 Prozent der Grundschüler und 54,8 Prozent der Hauptschüler einen Migrationshintergrund, d.h. sie selbst oder mindestens ein Elternteil wurden nicht mit der deutschen Staatsbürgerschaft geboren. Viele dieser Schüler wachsen nicht nur zweisprachig auf oder sprechen in der Familie eine andere Sprache als Deutsch – sie übernehmen dort auch die Erzählungen ihrer Herkunft. Im häuslichen Milieu prägen die Geschichten ihrer Eltern und Großeltern, mit denen sie ihre Werte, Traditionen, Glücksvorstellungen und Bindungen vermitteln, die Identität der Heranwachsenden. Diese Geschichten werden stark verinnerlicht und sind daher einem reflexiven Prozess nicht leicht zugänglich. Und sie stehen zu den Lebensweisen, die in den Kindertagesstätten und Schulen erlebt werden, oft in diametralem Gegensatz.

Die im Geschichtsunterricht behandelte Themen, wie etwa der Ausbruch des Ersten Weltkrieges, werden beispielsweise mit Eltern und Großeltern nachbesprochen. Deren Perspektiven wird in auftretenden Deutungskonflikten meist größere Glaubwürdigkeit zugesprochen und die von den Lehrern und Unterrichtsmaterialien vermittelten Erzählungen werden in Frage gestellt. Von solchen Konflikten betroffene Schüler können den in Deutschland etablierten Geschichtserzählungen nicht einfach beipflichten, sondern müssen sich mit und aus ihren Geschichten zu den für sie fremden Sichtweisen in Beziehung setzen. Fühlen sie sich von einer Erzählung dominiert, immunisieren sie oftmals ihre eigene Sicht gegen Fremdeinflüsse und ziehen sich in Paralleluniversen zurück. Sollen Anschlüsse und Inklusion für diese interkulturelle Schülerschaft gelingen, darf es nicht darum gehen, bestimmte Deutungen festzuschreiben; vielmehr müssen alle Schüler angeregt werden, ihre jeweiligen Geschichtserzählungen individuell auszugestalten. Bildungsprozesse werden nur gelingen, wenn die Schüler davon ausgehen können, dass sie ihre mitgebrachten Geschichten artikulieren und so zu anderen Darstellungen in Beziehung setzen können. Die schulische Vermittlung eines nationalstaatlich orientierten Geschichtskonzepts scheint angesichts der inter- oder transkulturellen Realität unserer Gesellschaft fragwürdig.

Die Waldorfschulen stehen gegenwärtig klar auf dem Standpunkt, dass sich die Individualität der Schüler im Rahmen der Anerkennung der kulturellen Vielfalt in einem permanenten und offenen Prozess ausgestaltet.

Der Geschichtslehrplan der Waldorfschulen widerspricht geschlossenen Identitätskonzepten, Ab- und Ausgrenzungen, inneren wie äußeren Feindbildern und simplifizierender Eindeutigkeit und setzt als Ziel ein reflexives Geschichtsbewusstsein, das auf multiperspektivischer Betrachtung aufbaut, vor allem aber eine menschheitliche Dimension vermittelt. Ein reflexives Bewusstsein anregen bedeutet im Unterricht, Anlass zu geben, das tradierte Konzept wahrnehmen und befragen zu lernen.

Die dem Waldorflehrplan zugrunde liegende, von Rudolf Steiner inspirierte Deutung von Geschichte begreift den Emanzipationsprozess des einzelnen Menschen aus ursprünglich familiär-sippenhaften, später dann kollektiv-religiösen oder herrschaftlich geprägten Gesellschaftsformen als historischen Prozess, der sich zukünftig in der kulturell vielfältigen, die Würde und Selbstbestimmung eines jeden Individuums anerkennenden Menschheit fortsetzen kann. In den vergangenen Jahrzehnten wurde dieses Grundkonzept in Auseinandersetzung mit den Konsequenzen einer globalisierten und interkulturellen Lebenswelt zu einer Kulturgeschichte weiterentwickelt, die Kultur als Kommunikation von sich wechselseitig durchdringenden und gegenseitig befruchtenden, aber auch voneinander unterscheidenden Lebensweisen und Wertauffassungen versteht.

Der einzige Weg aus dem Dilemma gegenüber Narrativen, die den aufklärerischen Universalismus ablehnen, ist ein dialogischer Unterricht, der den Transformationsprozess zur Öffnung von geschlossenen Haltungen als Bildungsziel hat. Durch die Auseinandersetzung mit früheren und anderen Handlungsweisen, Lebensformen und Werteordnungen kann so der Aufschluss für die Begegnung mit den Kulturen in einer global und interkulturell geprägten Lebenswelt angeregt werden. Dabei sind vereinfachende Periodisierungen, hierarchisierende Konzepte von Hochkulturen und eurozentrischen Verengungen zu vermeiden. Der Geschichtsunterricht soll darauf zielen, dass die Schüler vor dem Hintergrund eines menschheitlich dimensionierten Normensystems (Völker-, Bürger-, Menschenrechte) ihre Urteilsbildung individuell vollziehen. Er intendiert also eher die Individuation als die Sozialisation. Er zielt darauf, die Ausdifferenzierung des individuellen Geschichtsbewusstseins so anzuregen, dass die Lernenden zur fortwährenden Gestaltung ihrer Geschichtserzählung veranlasst werden. Es geht darum, den Schülern Geschichte nicht nur zu vermitteln, sondern sie zu selbstständigen Urteilen anzuregen. Denn die Fähigkeit der Schüler, selbst geschichtlichen Zusammenhang erzählen zu können, ist der eigentliche Nachweis historischer Kompetenz. Damit ist nicht der willkürlichen Konstruktion eines subjektivistischen Geschichtsbildes das Wort geredet; vielmehr wird der Aufbau eines Geschichtsbewusstseins angestrebt, das – geschult in der sorgfältigen Interpretation historischer Quellen – die Kämpfe um Aufklärung und Emanzipation, um Demokratie und Solidarität, um Menschen- und Bürgerrechte einbezieht. Darauf ließe sich ein Konzept für interkulturelle Kompetenz aufbauen.

Anküpfungspunkte im Geschichtslehrplan

Der Einstieg in die Geschichte in der fünften Klasse sieht vor, die Entwicklung menschlicher Kultur von der Stufe eines Lebens in der Natur (Jäger und Sammler) über die frühbäuerliche Sesshaftwerdung bis hin zu den theokratischen Hochkulturen zu thematisieren. Dabei werden sowohl Schöpfungsmythen, die Mythen von Kulturstiftungen und das sich in mythischen Bildern ausgestaltende (zyklische) Naturverständnis als auch archäologische und ethnologische Fakten mit einbezogen. Schrittweise wird dabei Geschichte vom Mythos abgelöst. In dieses an Waldorfschulen von den frühen fernöstlichen und orientalischen Kulturen geprägte Themenfeld lassen sich problemlos Darstellungen und Erschließungen afrikanischer, australischer und amerikanischer Kulturräume einschließen und Schwerpunkte können so gesetzt werden, dass die Schüler
mit Migrationshintergrund die frühe Kulturgeschichte der Herkunftsregionen ihrer Familie kennenlernen.

Die Lehrplanthemen für die sechste Klasse liegen in der römischen Antike sowie im Mittelalter. Ein Blick auf eine globale Geschichtskarte zur Zeit der römischen Antike, mit dem die im persischen, indischen und chinesischen Raum existierenden Großreiche entdeckt werden können, bietet sich unter interkultureller Perspektive an. Die Geschichte des Mittelalters, die die Entstehung und Verbreitung von, aber auch die Auseinandersetzungen sowie den Austausch mit den monotheistischen Welt- und Buchreligionen beinhaltet, birgt in interkulturell zusammengesetzten Lerngruppen besondere Herausforderungen, da viele Schüler ihre religiös-kulturellen Identifikationen auch mit abgrenzenden Narrativen verbinden. Hier empfiehlt es sich zunächst, die gemeinsame Wurzel (Abraham/Ibrahim), den Charakter des Monotheismus, die Bedeutung heiliger Schriften und den Zusammenhang von Religion und sittlichen Regeln so zu behandeln, dass neben deren Unterschieden auch deren Ähnlichkeiten aufscheinen. In der siebten Klasse wird die Entwicklung der Neuzeit bis ins 18. Jahrhundert thematisiert. Hier sollte der europäische Kolonialismus als globale Transformation nicht einfach als Leistung der Entdecker, sondern multi­perspektivisch ebenso aus der Gegenperspektive und hinsichtlich der bis in die Gegenwart reichenden Folgen erarbeitet werden. Am Dreißigjährigen Krieg kann gezeigt werden, dass sich hinter vorgeblich religiösen Konflikten meist der Kampf um Macht und Einfluss verbirgt.

Der Geschichtsunterricht in der achten Klasse hat die Zivi­lisationsgeschichte der vergangenen 250 Jahre zum Thema – die gegenwärtige Lebenswelt der Schüler soll in ihrem Entstehen verstanden werden. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Geschichte der globalen Industrialisierung und Technisierung, ein zweiter auf der territorialen und ökonomischen Ausgestaltung der Räume, wobei zweifelsohne nationale wie imperiale Aspekte berücksichtigt werden müssen. Die Geschichte des zivilisatorischen Wandels dieses Zeitraumes betraf und betrifft letztendlich alle Regionen dieser Erde. Hier können lokal divers verlaufende Veränderungen unterschiedlicher Herkunftsbereiche berücksichtigt werden. Bei der Erarbeitung der Geschichte der ökonomisch und politisch bedingten territorialen Veränderungen sollte erschlossen werden, wie im imperialistischen Zeitalter mit den kolonialen wie post­kolonialen Nationalstaatgründungen zahlreiche gegenwärtige Konflikte und damit auch der Fluchtur­sachen angelegt wurden. Dies erfordert, dass niemand gezwungen ist, einer Sichtweise beizutreten, sondern dass unterschiedliche Perspektiven miteinander ins Gespräch gebracht werden.

Diese methodische Anforderung gilt in besonderem Maße auch für den Unterrichtsansatz in der neunten Klasse. Hier soll entsprechend dem Waldorflehrplan die Geschichte der Neuzeit hinsichtlich der in ihr zum Tragen kommenden politischen und ethischen Prinzipien reflektiert werden. Es geht dabei nicht darum, die Geschichte zu idealisieren, sondern das Ringen um die Rahmenbedingungen, in denen sich Würde und Entfaltung des Individuums realisieren können, gerade in der Auseinandersetzung mit hierarchischen, autokratischen, nationalistischen und totalitären Gegenentwürfen. Die besondere Herausforderung besteht in interkulturellen Lehr-Lernsituationen darin, die Werte des Menschen- und Völkerrechts nicht zu oktroyieren, oder ausschließlich bestimmten Nationen zuzuschreiben. Menschen- und Bürgerrechte, aber auch die materiellen Lebensgrundlagen sind überall zu sichern. Denn die damit verbundenen Auseinandersetzungen um diese Werte finden nicht nur auf der politisch-institutionellen, sondern immer auch auf der persönlichen Ebene statt.

In der zehnten Klasse wird in den Waldorfschulen die Kulturgeschichte der Frühzeit bis in die griechische Antike thematisiert. Ein solcher Unterrichtsansatz wirkt in interkulturell zusammengesetzten Gruppen inkludierend, denn die kulturellen Veränderungen sind nie nationalstaatlich zu definieren und insofern geeignet, kulturellen Wandel grundsätzlich als allgemeinmenschliches Phänomen zu erschließen. Die Schüler können zudem aus der Beschäftigung mit den Lebensentwürfen und Welterklärungen fremder und zeitlich ferner Kulturen reichhaltige Anregungen für ihre Selbstverortung sowie für die Ausbildung von Alteritätsverstehen erhalten.

Die Schüler der elften Klasse sollen an den politischen und weltanschaulichen Auseinandersetzungen das Verhältnis von Ideal und Wirklichkeit, von Idee und Gegenidee, von Intention und Gegenintention sowie die Perspektiv­abhängigkeit von historischen Urteilen untersuchen lernen. Dabei soll auch die Abhängigkeit jeder historischen Deutung von den Themen und Fragen der jeweiligen gesellschaftlich-politischen Gegenwart (zu beobachten etwa am Wandel der Mittelalter-Interpretationen) ins Bewusstsein gehoben werden. Die multiperspektivische Betrachtung der Verflechtungen verschiedener kultureller Räume (des lateinischen und griechisch-sprachigen oder christlich geprägten Europa und des islamisch geprägten Vorderen Orients, aber auch der verschiedenen Interpretationen und Ausbreitungsformen der großen Religionen) kann die zur Bewältigung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Anforderungen wichtige Fähigkeit der Empathie sowie des Alteritäts- und Selbstverstehens anregen.

Der Lehrplan für die zwölfte Klasse regt einen weltgeschichtlich dimensionierten Überblick unter Einbeziehung von Geschichtsphilosophie bzw. Narrativitätstheorie an. Die Schüler sind dabei angehalten, aus eigenen Fragestellungen und durch Zusammenschau verschiedener Phänomene in ihren Entwicklungszusammenhängen selbst Narrative auszugestalten. Damit werden sie aktive Mitgestalter von Geschichtskultur. Auf der Grundlage ihrer Aufzeichnungen und Materialien erarbeiten sie Aspekte des kulturgeschichtlichen Wandels. Dabei sind auch die Geschichten der Herkunftsregionen der teilnehmenden Schüler einzubeziehen.

Zum Autor: Dr. M. Michael Zech ist Dozent am Lehrerseminar für Waldorfpädagogik in Kassel und Professor für Geschichtsdidaktik an der Alanus Hochschule