Peripherie

Gesund aufwachsen

Ursula Hirt

Die Gesellschaft Anthroposophischer Ärztinnen und Ärzte in Deutschland (GAÄD) erstellt in Kooperation mit dem Bund der Freien Waldorfschulen und der Vereinigung der Waldorfkindergärten viermal im Jahr Livestreams zu aktuellen Themen. Im März hieß das Thema »Braucht mein Kind Unterstützung? Entwicklungsphasen und Verhaltensauffälligkeiten«. Zu den Referent:innen des Livestreams »Entwicklungsstufen und Verhaltensauffälligkeiten« gehörten die Pädagogin Friederike Gläsener (Waldorfschule Märkisches Viertel Berlin), die anthroposophischen Ärzt:innen Jan Vagedes (Leitender Kinderarzt Filderklinik), Martina Schmidt (Fachärztin für Allgemeinmedizin, Oberursel) und Renate Karutz (Fachärztin für Allgemeinmedizin Köln). Schmidt und Karutz sind auch Schulärztinnen.

Dr. Jan Vagedes zeichnete ein lebendiges Bild von den ersten 21 Lebensjahren des Menschen. Die Dreigliederung des Menschen lässt sich anthroposophisch benennen als Nerven-Sinnes-System (Betonung im Kopfbereich), Rhythmisches System (prominent im Brustkorbbereich) und Stoffwechsel-Gliedmaßen-System. »Aus dieser Dreigliederung, der Raum-Gestalt, und Veränderungen in Sieben-Jahres-Schritten, die Zeitgestalt, lassen sich wichtige Entwicklungsschritte in der Kindheit und Jugend auch mit Blick auf Krankheit und Gesundheit ableiten«, so Vagedes. Anhand entsprechender Illustrationen zeigte er auf, wie sich das Kind leiblich, seelisch und geistig entwickelt. Und wie sich das in Kinderzeichnungen spiegelt.

»Ich werde hier nichts schreiben!«

Die Pädagogin Friederike Gläsener berichtete von einem Jungen aus ihrer Schule: Der Siebenjährige zeigte kaum Motivation und Lernfreude in der ersten Klasse. Leiblich gab es keine Kriterien einer zu frühen Einschulung. Aber er traute sich nichts zu: »Ich kann das nicht!« Im Gegensatz dazu stand sein Verhalten auf dem Schulhof: Er kommandierte andere herum und wurde aggressiv, Eltern beschwerten sich über ihn. Der Leidensdruck bis zur Mitte der zweiten Klasse wurde größer, das Verhalten extremer.

Nach einer intensiven Kinderbesprechung ergab sich die Vermutung Legasthenie. Der Junge begrüßte die Therapeutin mit dem Satz: »Ich werde hier nichts schreiben!« Ihre Antwort war: Das Ziel ist nicht Lesen und Schreiben, sondern dass er die Buchstaben lieben lernt. Sie ließ ihn Buchstaben laufen, aus Wachs kneten, blind ertasten, aus Teig formen, backen und essen. Das wurde in der Familie aufgegriffen. Eines Tages fing der Junge selbst an, Buchstaben auf Papier zu schreiben.

Die richtige Hilfe finden, Lebenskräfte fördern!

Viele Fragen und Anregungen der Teilnehmenden richteten sich auf die helfenden, heilenden Faktoren. Antworten darauf waren: Bei den Ressourcen ansetzen; ist das Kind musikalisch oder handwerklich begabt? Liebt es Tiere? Kunsttherapie, Rhythmische Massage und Heileurythmie haben sich bewährt. Bei zu früher Einschulung: Rückstellung! In den Kindergarten oder – bei älteren Schülern – über einen längeren Auslandsaufenthalt und Wiederholung der Klasse.

Ohne Intervention bleibt die Überforderungssituation meist über Jahre. Ganz wichtig: Die Lebenskräfte stärken! Gefördert werden sie durch Ernährung und Rhythmus, gesunden Schlaf. Wiederholungen mit kreativen Variationen schaffen Haltekräfte, feste Punkte und Lebensfreude. Übergänge wie Einschlafen und Aufwachen, Ferienzeiten und Jahresfeste gehören dazu. Alle Situationen, in denen ich mich im Körper wohl fühle, stärken meine Lebenskräfte.

Die Referent:innen führten die Kriterien zusammen, die bei Kindern auf eine Not hinweisen können. Dazu gehören das Zurückfallen auf frühere Entwicklungsstufen (die sogenannte Regression), der Rückzug von Freund:innen oder aus dem Sportverein, die Angst vor dem Alleinsein, der Verlust der (bereits erlernten) realistischen Einschätzung von Situationen, die Unfähigkeit, Phantasie von der Wirklichkeit zu unterscheiden oder die Schulverweigerung. Faktoren, die eine Krise beim Kind oder Jugendlichen verstärken können, sind familiäre Umbrüche wie Umzug oder Trennung der Eltern, schwere Krankheiten mit Krankenhausaufenthalt (die auch weiter zurückliegen können), Verlust von wichtigen Bezugspersonen, Erleben von Gewalt, Gewalt in Medien, Spannungen in der Familie oder zwischen Eltern und Lehrern.

Dr. med. Martina Schmidt ergänzte die Perspektiven durch aktuelle Forschungsergebnisse: »Eine zu frühe Einschulung birgt eine signifikante Risikoerhöhung für ADHS-assoziierte Symptome. Betroffene, nicht schulreife Kinder zeigen eine signifikante Risikoerhöhung für Neurodermitis. Dabei ist zu beachten, dass Kinder mit ADHS Symptomen zuhause nicht so sehr auffallen, wie in der Schule. Jüngere Kinder zeigen deutlich mehr ADHS-bezogene Symptome als ältere Kinder der gleichen Klasse und Jungen sind davon häufiger betroffen als Mädchen.«

Ursula Hirt, *1963, Medien-Kommunikationswirtin, ist in der GAÄD zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit. u.hirt@gaed.de

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