Gewaltige Höhen und Tiefen

Mathias Maurer

Wir brechen auf. In zügigem Tempo nähern wir uns dem Gletschereinstieg, jeder hängt seinen Gedanken nach. Tom bleibt kurz stehen und fragt unvermittelt: »Woher kommt eigentlich Gewalt?« Schweigen. Wir seilen uns an, setzen unseren Weg fort. Nach einer Weile zwischen heftigen Atemstößen die knappe Antwort von Roger, der dabei seinen Blick über die Bergketten schweifen lässt: »Von schierer Machtgier.« – »Nicht von Unterdrückung?«, zweifelt Tom. »Macht nichts«, grinst Roger, »läuft aufs Gleiche raus.« – »Gibt es überhaupt Gewaltlosigkeit? Wahrscheinlich ist das nur eine rein menschliche Erfindung ...«, sinniert Tom. Wir schnaufen weiter bergwärts, es schmilzt, die Schneebrücken sind mit Vorsicht zu überqueren.

Dann wieder auf sichererem Boden setzt Tom fort: »Der Soziologe Popitz sagt, Gewalt sei per se eine Option menschlichen Handelns – ein Blick in die Welt reicht, um das bewahrheitet zu finden. Gewalt allerorten: zu Hause, in der Schule, in der Gesellschaft – keine Religion, keine Regierung, keine Gesetze können uns vor ihr schützen.« – »Ja, Enzensberger hat’s auf den Punkt gebracht: Nur der Mensch führt derart begeistert Krieg gegen seine eigenen Artgenossen«, ergänzt Roger.

»Wisst ihr was ...?«, leicht genervt schaltet sich der bisher schweigsame Peter ein, »... mein Mentor warnte mich: ›Pass ja auf, dass Du im Sportunterricht keinen Jungen zu hart anfasst, der droht gleich mit einer Anzeige.‹ Mädchen darfst Du nicht zu nahe kommen, laut werden geht auch nicht und mobben tun sie hintenrum. Kaum eine Pausenaufsicht ohne Prügelei. Manchmal fühle ich mich wie umzingelt, hinter jedem Busch ein Täter, jeder ein potenzielles Opfer ... Ich sage nur: Abgründig!« Wir kreuzen jetzt mehrere Gletscherspalten, das Gespräch kommt ins Stocken.

Doch Roger nimmt den Faden wieder auf: »Nee, so pauschal kannst Du das nicht sagen. Es braucht nicht nur einen Täter, ein Opfer und einen Zeugen, sondern auch eine gemeinsame Definition davon, was die drei für Gewalt halten. Der Anthropologe Riches hat das glasklar rausgearbeitet.«

Wir schwenken auf den Grat ein. Wir sind jetzt auf dreitausend Meter. Mühsam wird der Gang, die Luft wird dünner. Tom ist jedoch nicht zu halten und deklamiert aus Stifters »Bunte Steine« in Anlehnung an Kant: »Wir empfinden das Erhabene, wie es sich überall in die Seelen senkt, wo durch unmessbar große Kräfte in der Zeit oder im Raume auf ein gestaltvolles vernunftgemäßes Ganzes zusammen gewirkt wird.« In der Ferne antwortet das dumpfe Grollen einer Lawine.

Auf dem Gipfel. Peter zu Tom ironisch: »Da hast Du Deine erhabene Gewalt. Ich hab’s täglich mit der niederen zu tun und bin Täter und Opfer und Zeuge in einem.« Er atmet durch und genießt die Majestät der Bergwelt.