Gibt es sie noch, die wahren Waldorfschulen?

Dietmar Kasper

Wer sich etwas näher mit der Schulgründung und den Menschen, die dabei waren, beschäftigt hat, weiß, dass Rudolf Steiner hochkarätige Anthroposophen als Lehrer in das Urkollegium berufen hat. Allesamt waren sie Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft und der ersten Klasse der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Zudem war Steiner nach den Gründungsvorträgen oft in Stuttgart und bildete die Lehrer waldorfpädagogisch weiter. Es war, könnte man sagen, die optimalste Situation hinsichtlich der Aus- und Weiterbildung der Lehrer gegeben, eine Situation, die heute an unseren Waldorfschulen nicht mehr gegeben ist.

Wie ist die Situation an den Waldorfschulen heute? Wer leitet, führt und gibt Antworten? Vor einigen Jahren wurde die klassische »interne Konferenz«, in die nur Lehrer berufen werden sollten, die mit der Anthroposophie verbunden und schon länger als zwei Jahre an der Schule tätig waren, weitgehend durch gewählte Gremien ersetzt. Dabei ging eine Welle der Unternehmensberatung durch die Waldorfschulen und es wurden in nahezu allen Schulen neue Gruppen zur Schulleitung und weitere Steuerungsorgane eingesetzt. Diese bilden sich durch Wahl der Teilnehmer aus dem Kollegium und manchmal auch aus einer zusätzlichen Person aus dem Schulleben, etwa dem Elternrat oder dem Vorstand. Hier spielt es keine Rolle mehr, ob jemand in der Anthroposophie zu Hause und ob er pädagogisch ausgebildet ist, sondern die Kandidaten werden meist aus einer Einschätzung der Wahlberechtigten heraus, ob sie fachkompetent genug sind, gewählt. Ein weiterer hier anzuführender Aspekt ist, dass es heute in Deutschland über 230 Waldorfschulen gibt, die alle geführt werden müssen. Bekannt ist, dass nicht alle Lehrer eine grundständige Ausbildung an einer Hochschule für anthroposophische Pädagogik absolviert haben. Die Anzahl der sogenannten Querein­steiger, die sich durch einige Kurse die Grundbegriffe aneignen sollen, ist groß.

Der Anteil der Lehrer, die Mitglied in der anthroposophischen Gesellschaft sind, kann – auch aufgrund der rückläufigen Mitgliederzahlen der anthroposophischen Gesellschaft besonders im Bereich der unter 35-Jährigen – als verschwindend gering bezeichnet werden. Wenn es gut geht an einer Waldorfschule, so gibt es noch zwei oder drei Mitglieder der anthroposophischen Gesellschaft in einem Lehrerkollegium.

Die wöchentliche Weiterbildung der Lehrer an Waldorfschulen in der Pädagogischen Konferenz hängt von der Präsenz des Kollegiums ab. Auch hier ist die Anzahl der Teilnehmer an vielen Schulen rückläufig, ja es gibt an einigen Schulen gar keine Konferenz mehr, in der an der »Menschenkunde« gearbeitet wird.

Die Schulführungs- oder Schulleitungsgremien bestehen aus vielen Mitgliedern, darunter sind vielleicht zwei bis drei Mitglieder der anthroposophischen Gesellschaft oder Menschen, die sich anthroposophisch weiterbilden. Hier wird unmittelbar klar, dass bei Abstimmungen und Entscheidungen über die zu lösenden Fragen keine Mehrheit der Menschen, die anthroposophisch arbeiten, möglich ist. Meist überstimmen die Lehrer, die aus unterschiedlichen geistigen Richtungen kommen – seien es konfessionelle oder andere – die wenigen »Anthroposophen«.

Angesichts dieser Situation drängt sich die Frage auf, ob die Waldorfschulen noch Schulen aus anthroposophischen Grundimpulsen geleitete Institutionen sind.

Zum Autor: Dietmar Kasper ist Oberstufenlehrer für Mathematik und Physik.