Glaubt an mich! »Waldorf-Drop-Outs« durch falsch verstandene Erziehung

Christoph Meinecke, Kirsten Schreiber

Waldorfpädagogen vertrauen darauf, dass in jedem Menschen ein geistiger Wesenskern steckt und er mit einem Lebensplan, einer Lebensaufgabe auf die Welt kommt.

Sie vertrauen darauf, dass jedes Kind die Kompetenz der Selbsterziehung in sich trägt, dass es »belehrt« ist von der geistigen Welt – aus der es kommt – und dass die vorangehende Generation (also wir Pädagogen und Eltern) die Aufgabe hat, der nachfolgenden (also den Kindern) den Weg zu ebnen, damit jede Individualität sich – mit Orientierung und in Freiheit – selbst finden lernt.

Miguels Eltern und der Bruder spüren, wie diese Ideale an der neuen Schule gelebt werden. Als es für Miguel in der staatlichen Grundschule schwierig wird, fällt den Eltern der Wechsel an die Waldorfschule leicht, die ihnen individueller, menschlicher und mehr der Persönlichkeit zugewandt erscheint.

Zugegeben, Miguel war schon in der Grundschule kein »einfacher« Schüler. Er ist leistungsmäßig durchaus gut – nur: Er redet viel, oft ungefragt, und hat zu allem etwas zu sagen. Er kann nicht warten, bis er an der Reihe ist. Er hat flotte, markige Sprüche parat, erwidert Zurechtweisungen rechtfertigend oder patzig. Er stört den Unterricht, stört auch andere Schüler. Er löst oft Streitereien aus, zerstört Dinge, ärgert und verletzt andere oder boykottiert Unterrichtsabläufe.

Und dann ist da noch seine kindlich-liebenswerte Art. Er gehört zu den eher Kleingewachsenen in der Klasse, versucht kleidungsmäßig hingegen älter zu wirken und seinem großen Bruder nachzueifern.

Bei seiner Klassenlehrerin hat er einen »Stein im Brett«, wird auch von den Mitschülern größtenteils gemocht. In Fachunterrichten stößt er jedoch auf viel Ablehnung wegen seines Verhaltens. Trotz Gesprächen, beteuerter Anstrengung, sein Verhalten zu ändern, und der Zuversicht der Lehrerin – immer mehr Lehrer sprechen sich gegen Miguels Verbleib an der Schule aus.

Einseitige Aufkündigung der Schicksalsgemeinschaft

Miguel ist in einem Alter, in dem er die Reife, die es braucht, um die Auswirkungen seines Verhaltens einschätzen zu können, noch nicht haben kann.

Die Eltern sind hilflos, als die Kündigung zum Ende der Probezeit ausgesprochen wird. Seine Mitschüler setzen sich für ihn ein, seine Klassenlehrerin erlebt Ohnmacht gegenüber dem größeren Teil der Lehrerschaft, die gegen den Verbleib Miguels stimmt. Die vielleicht zu späte Einschaltung professioneller Hilfe durch die Eltern kann die Misere nicht aufhalten.

Miguel ist kein Einzelfall, lediglich ein Beispiel der betroffenen Schüler und Familien, die im allgemeinen Jargon »Waldorf-Drop-Outs« heißen.

Abschied von der Klassengemeinschaft, der Schulgemeinschaft, von Freunden, vom geplanten Schüleraustausch: Die Schule hat entschieden! Ein Ideal ist zerstört!

Zerstört ist das Gefühl, dazu zu gehören, auch wenn Verhalten gerügt wird, anderes Verhalten eingeübt werden muss. Miguel wäre auf Hilfestellung angewiesen, weil er deutlich zeigt, dass er dies allein noch nicht schaffen kann. Trauer, Verzweiflung und Wut bei der Familie, die sich von der Schulgemeinschaft im Stich gelassen fühlt.

Bewertungen blockieren Lösungen

Ein Prozess der Problemverhärtung ist bereits in Gang gesetzt, wenn ein auffälliges Verhalten eines Einzelnen verantwortlich für das Problem anderer gemacht wird. Das Problem wird plötzlich nicht mehr abgekoppelt von der Person betrachtet, es belastet Beziehungen.

Hat Miguel das Problem oder haben es die Lehrer mit Miguel, der sie mit den eigenen individuellen Grenzen konfrontiert? Ist es ein Beziehungsproblem oder ein Verhaltensproblem? Bei allen Schwierigkeiten: die Klassenlehrerin schafft es, die Verbindung zu Miguel zu halten und zwischen Person und Verhalten zu differenzieren. Sie schafft darüber hinaus noch etwas sehr Wesentliches: sie betrachtet sich selbst und ihren eigenen Entwicklungsweg im Kontext der Geschehnisse um Miguel; und: sie holt sich Hilfe und Unterstützung für ihren persönlichen Prozess im Ringen um Miguels Verbleib an der Schule. – Und doch: Miguel verlässt zusammen mit seinem älteren Bruder die Schule.

Den Heilungskräften vertrauen

Pädagogik ist im anthroposophischen Verständnis immer als heilende Tätigkeit zu verstehen. Was ist hier mit dem Heilprozess gemeint? Es sind die Selbstheilungskräfte, die Selbsterziehungskräfte. Wie die anthroposophische Medizin eine freiheitliche Medizin ist, die die Selbstheilungskräfte des Menschen anregt und nur über diese wirksam werden kann, so ist die Waldorfpädagogik eine freiheitliche Pädagogik, die nur über die in jedem Menschen angelegten Selbsterziehungskräfte wirken kann. Selbstheilungs- wie auch Selbsterziehungskräfte sind geistigen Ursprungs! Grundvoraussetzung dafür, dass sie wirksam werden können, ist das Vertrauen in ihre Existenz.

Besondere Kinder brauchen keine besondere Pädagogik

Jeder Pädagoge sollte auf die individuellen Suchformen kindlicher Selbstregulations-Entwicklung vorbereitet sein. Hierfür braucht es: genaueres Hinschauen, also Wahrnehmen üben, ein Bindungsbewusstsein und die Vergegenwärtigung, dass die Handlungsohnmacht, mit der ich als Pädagoge konfrontiert bin, etwas mit mir, meinem Entwicklungsweg, meiner Selbsterziehung, meinen Selbstheilungskräften zu tun hat.

Auch der Pädagoge lebt in einer Schulgemeinschaft, die sich gegenseitig tragen sollte, auch wenn er im Unterricht oft allein vor der Klasse steht. Diese Gemeinschaft kann sich im Idealfall unter den bisher geschilderten Gesichtspunkten gemeinsam aufmachen einen Weg zu finden, der sowohl dem Kind als auch dem Lehrer unterstützend dienen kann. Dabei ist der Weg das Ziel! »Entwicklung am Du« hat es Martin Buber genannt. Dies bezieht sich nicht nur auf das Individuum, hier kann eine Gemeinschaft lernen!

Besondere Kinder brauchen Pädagogik besonders

Für Miguel hätte es so weitergehen können: Es wird unter Einbezug aller unmittelbar Beteiligten, einschließlich der neuen Lehrerin, ein Konzept entwickelt. Zunächst wird eine kinder- und jugendpsychiatrische Untersuchung veranlasst, um testpsychologisch etwaige schulische Über- oder Unterforderungen abzuklären oder auch Teilleistungsschwächen zu erkennen.

Aus medizinisch-pädagogischer Perspektive ist es hilfreich, diagnostisch und therapeutisch auf die vier wesentlichen Lebensfelder zu schauen, in denen sich das menschliche Leben auf der Erde gestaltet: In drei dieser Lebensfelder muss sich der Mensch auf der Erde erst gut beheimaten, das vierte bringt er quasi mit. Es ist die Welt, aus der wir stammen, unsere geistige Heimat.

Die ersten drei Inkarnationsorte auf der Erde sind zunächst der eigene Körper (leibliche Heimat), wahrgenommen über die  »unteren Sinne« (Tast-, Lebens-, Eigenbewegungs- und Gleichgewichtssinn), dann die räumliche Umgebung, in der wir leben (räumliche Heimat), wahrgenommen vor allem über die »mittleren Sinne« (Geruchs-, Geschmacks-, Wärme-, Sehsinn) und schließlich unsere sozialen Bezüge, in die wir hineinwachsen (soziale Heimat), wahrgenommen vor allem über die »oberen Sinne« (Hör-, Sprach-, Gedanken- und Ich-Sinn).

Miguel zeigt im Bereich der unteren Sinne, der Beziehung zu seinem Körper mit seinen Lebensprozessen, eine kleine Statur, er ist ständig in Bewegung, zappelig, knibbelnd, nestelnd, impulsiv, überschreitet ständig Grenzen und Regeln. Die Grenzwahrnehmung gehört in den Tastsinnesbereich, die Wahrnehmung von Regeln in den Bereich des Lebenssinnes.

Im Bereich der Umwelt-Sinne ist vor allem die starke Ablenkbarkeit durch äußere Reize zu bemerken. Demgegenüber ist die Selbstwahrnehmung zu schwach. Im Bereich der Mitwelt-Sinne sind ein geringes Einfühlungsvermögen, eine gewisse soziale »Trampeligkeit« festzustellen. Über das Hören erscheint Miguel leicht ablenkbar, jedoch andererseits scheint er nicht richtig hinzuhören, wenn man ihm etwas Wichtiges sagen oder Aufträge erteilen möchte. Die Konzentrationsfähigkeit ist gering. Im Sprechen das Gegenteil! Hier ist er besonders agil, redegewandt, kann auch Gedanken schnell erfassen und dann ins Absurde lenken. Es fehlt ihm noch an Feinfühligkeit und Achtsamkeit im Umgang mit seinen Mitmenschen. Aber er ist sehr offen ihnen gegenüber, ist an Kontakt und Aussprache interessiert, er sucht nach Beziehung und Anerkennung, wenn er sich allerdings auch nur in ungeschickter Art zum Ausdruck bringen kann.

Miguel soll in seiner Selbstwahrnehmung und seinem Körperempfinden unterstützt werden. Dazu gehört Bewegung. Kinder sollten sich täglich mindestens eine Stunde stark körperlich anstrengen. Untersuchungen konnten zeigen, dass in Klassen, die täglich mindestens eine Stunde Sport haben, die schulischen Leistungen deutlich besser sind und wesentlich weniger Gewalt unter den Schülern auftritt, als in Klassen mit nur ein- oder zweimaligem Sportangebot pro Woche.

Dies kann therapeutisch auch durch Heileurythmie, Ergotherapie, bei Unreife in der Bewegungsentwicklung mit Physiotherapie oder entsprechenden Bewegungsübungen, aber auch durch Zirkus-Projekte unterstützt werden.

Grundlegend wichtig ist, Regelmäßigkeit in die Tagesabläufe zu bringen und Rituale zur Tagesstrukturierung zu pflegen. Wenn sie religiöse oder spirituelle Inhalte haben können, umso besser. Denn dadurch bringen wir zum Ausdruck, dass wir auf höhere Sinnzusammenhänge und Kräfte vertrauen, sowohl als Helfer und Begleiter wie auch als Bewerter unseres Verhaltens. Weiterhin bedarf es klarer Absprachen von Regeln und natürlichen Konsequenzen.

Den Kindern die Treue halten

Kinder rufen uns zu einer ernsthaften spirituellen Lebensführung auf.

Eine wertschätzende, treue, verlässliche, interessierte und respektvolle Beziehung ist für Miguel, wie für alle Kinder, von besonders großer Bedeutung. Dies können wir immer wieder dadurch ausdrücken, dass wir konsequent Verhalten und Person in unserer Bewertung von einander trennen. Am Verhalten wird geübt, bis zur »Schmerzgrenze« (hier ist natürlich kein physischer Schmerz gemeint). Aber die Beziehung wird gemäß dem Motto: »Liebe mich, wenn ich es am wenigsten verdient habe, denn dann brauche ich es am meisten« nie in Frage gestellt.

Liebevolle, sichere Bindung ist das wirksamste Therapeutikum für kindliche und jugendliche Verhaltensabweichungen überhaupt. Ausschluss oder Schulverweise bewirken genau das Gegenteil. Sie verstärken meist das Problemverhalten. Die Treue halten kann ich einem solchen Kind manchmal nur dann, wenn ich vertrauen kann auf seinen geistigen Wesenskern, auf die karmische Zusammengehörigkeit und auf die Führung der geistigen Welt. Im Grunde rufen uns diese Kinder also auf zu einer ernsthaften spirituellen Lebensführung.

Unter Zwang entwickelt sich kein Sozialverhalten

Erst durch das Wegschaffen der Hindernisse in uns (der Erwartungen, Normvorstellungen, Überforderungsgefühlen) und durch das Schaffen eines freien und voraussetzungslosen Entwicklungsraumes, in dem wir dem Kind die Möglichkeit zu echter Erziehung zur Freiheit geben (die immer Selbsterziehung ist), können wir uns bilden, um die richtigen pädagogischen Antworten zu finden. Besondere Verhaltensweisen der uns anvertrauten Kinder machen uns immer wieder wach für diese Grunderkenntnis.

Zu den Autoren: Kirsten Schreiber (Diplom-Sozialpädagogin, Sozialmanagerin, Systemische Paar- und Familientherapeutin, Geschäftsführerin Familienforum Havelhöhe und Emmi-Pikler-Haus e.V. Berlin.

Dr. Christoph Meinecke, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Psychotherapie, anthroposophische Medizin (GAÄD); tätig in freier Praxis und in der Neugeborenenversorgung am Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe in Berlin, Vater von 5 Kindern, Mitbegründer und Mit-Geschäftsführer der Familienforum Havelhöhe gGmbH

Literatur:

Gerald Hüther: Was wir sind und was wir sein könnten, Frankfurt a. M. 2011; Rudolf Steiner: Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit, GA 15, Dornach 1983; ders.: Die Verantwortung des Menschen für die Weltentwicklung, GA 203, Dornach 1989; ders.: Die Erziehungsfrage als soziale Frage, GA 296, Dornach 1991; ders.: Meditative Betrachtungen und Anleitungen zur Vertiefung der Heilkunst. GA 316, Dornach, 2009