Global im Team

Guido Ostermai

Die Luft, die wir verschmutzen, atmen wir alle. Müll, den wir im Atlantik verklappen, wird an der ostafrikanischen Küste an Land gespült. Viren, die in China das erste Mal auftreten, verteilen sich in Windeseile um die ganze Welt: Noch selten hat sich der Zusammenhang globaler Ereignisse, die Abhängigkeit der Menschen voneinander weltweit so deutlich gezeigt wie in den vergangenen Monaten. Dabei zeigt sich auch: Durch nationale, d.h. mehr oder weniger willkürlich gezogene Grenzen lassen sich diese Erscheinungen weder kontrollieren noch eindämmen. Gerade die aktuelle Situation mit dem Versuch, die Ausbreitung des Corona-Virus in den Griff zu bekommen, beweist, wie sehr die Politik, ja vielleicht wir alle noch in veralteten Denkmustern des 20. Jahrhunderts verhaftet sind.

Um diese Muster aufzubrechen und ein Bewusstsein zu schaffen für die neue Weltsituation im 21. Jahrhundert, ein Bewusstsein für die Welt als lebendiges Wesen: dazu wurde an der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe vor rund 15 Jahren in Klasse 12 die sogenannte Globalisierungsepoche eingerichtet. Sie unternimmt den Versuch, die Welt von zwei Seiten zu betrachten: von der historisch-wirtschaftlichen Seite und von der naturwissenschaftlichen Seite. Demensprechend wird die Epoche im Team-Teaching gegeben: Jeweils ein Geschichts- und ein Naturwissenschaftskollege gestalten die drei Wochen gemeinsam. Beide Kollegen sind immer anwesend, auch wenn nur der eine unterrichtet. Unabdingbar ist dabei die tägliche Besprechung über den Verlauf des Unterrichts sowie den weiteren Fortgang am nächsten Tag. Welche Fragen wurden von den Schülern aufgeworfen? Wie lässt sich innerhalb des vorgesehenen Unterrichtsablaufs darauf eingehen? Welche neuen Ideen sind den Lehrern aufgegangen und wie lassen sie sich integrieren?

Wie sieht die Globalisierungsepoche aus?

In der ersten Woche steht ein Überblick über die historische Entwicklung der Weltwirtschaft: Wie ist das heutige Welthandelssystem entstanden? Welche Funktion haben WTO, IWF und Weltbank in diesem System? Wie wirken diese auf die ökonomische Entwicklung der einzelnen Länder und Weltregionen? Zu welchen wirtschaftlichen und sozialen Folgen hat der Neoliberalismus der 1980er Jahre mit seinem Grundsatz der Privatisierung geführt? Was bedeutet staatliche Deregulierung im wirtschaftlichen Bereich? Ein näherer Blick auf die Funktionsweise der WTO, auf ihre Anliegen und Intentionen führt dann im weiteren Verlauf des Unterrichts zu den Unterorganisationen GATT, GATS und TRIPS. Sie regeln, vereinfacht gesagt, den weltweiten Handel mit Waren, Dienstleistungen und geistigem Eigentum. Schnell wird deutlich, dass man hier eine Dreiteilung vor sich hat, die auf den Menschen selbst verweist, denn im gegenseitigen physischen, seelischen und geistigen Austausch, d.h. im sozialen Miteinander im umfassendsten Sinne begegnen sich alle Menschen.

Die zweite Epochenwoche steht im Zeichen naturwissenschaftlicher Erkenntnisarbeit. Dass die Erde ein lebendiger Organismus ist, diese Einsicht setzt sich inzwischen allmählich auch in breiteren Kreisen der Wissenschaft durch. Gute Beispiele, an denen man anschaulich aufzeigen kann, wie Naturvorgänge voneinander abhängen – und zwar weltweit – sind der Wasserkreislauf oder auch das Klima. Weitere Themenbereiche können sein: die Landwirtschaft, der Boden, die Gentechnik. Neu hinzugekommen sind in den jüngsten Jahren unter anderem das sog. Landgrabbing, d.h. der Landerwerb durch internationale Agrarkonzerne, private Investoren und staatliche Akteure mittels Pacht- oder Kaufverträgen oder die Verschmutzung der Meere und unseres Trinkwassers durch Mikroplastik. Jeder lebendige Organismus ist dreigegliedert – ein Grundgesetz der Natur. So begegnen wir auch auf naturwissenschaftlichem Gebiet wieder dem Dreigliederungsgedanken. Wo befindet sich bei den klimatischen Vorgängen der Erde der Stoffwechselpol? Wo der Nervenpol? Und wo findet ein rhythmischer Ausgleich statt? Es gilt, ein Empfinden für die großen Zusammenhänge zu entwickeln, zu erkennen, dass Gesundheit Gleichgewicht bedeutet. Das gilt auch im Sozialen, in der Landwirtschaft, im Handel, für die Erde als Organismus.

In der dritten und letzten Epochenwoche sollen dann die einzelnen Fäden zusammenlaufen und unter größeren, allgemeineren Gesichtspunkten betrachtet werden. Gerade diese letzte Woche lässt sich nicht im Einzelnen vorweg planen; sie verlangt von den Unterrichtenden die Bereitschaft, kurzfristig auf das zu reagieren, was ihnen von den Schülern entgegenkommt. Wurden in den ersten zwei Wochen die Grundlagen gelegt für ein tiefergehendes Verständnis der Welt, soll nun in der letzten Woche nach Lösungsmöglichkeiten und Alternativen gesucht werden. Taucht man z.B. in die Zusammenhänge der Warenproduktion und des internationalen (Börsen-)Handels ein, wird schnell offensichtlich, wie die klassischen Industrienationen der Nordhalbkugel den Welthandel beherrschen; dass ca. 500 Großkonzerne 70% des Welthandels tätigen und dafür sorgen, dass sich das Kapital bei ihnen sammelt und der Rest der Welt arbeitet und die Rohstoffe herbeischafft. Man merkt: Wir verdanken unseren Reichtum, unseren Wohlstand der Arbeit und der Armut Anderer in der Welt. Die soziale Frage ist inzwischen eine globale Frage! Jedes Ungleichgewicht muss wieder ins Gleichgewicht kommen – auch das ist ein (naturwissenschaftliches) Gesetz. So sollten am Schluss der Epoche neue Wege zu einer besseren, gerechteren Welt gesucht, aber auch verschiedene positive Beispiele von Globalisierung vorgestellt werden. Es wäre tragisch, würden die Schüler die Epoche mit dem Gefühl verlassen, die Welt sei grausam und man könne nichts daran ändern.

Auf den Einzelnen kommt es an!

Beschäftigt man sich mit alternativen Globalisierungsmodellen, stellt man fest, dass diese immer mit bestimmten Persönlichkeiten zusammenhängen. Ibrahim Abouleish in Sekem, Patrick Hohmann, Pionier der Bio-Baumwolle, oder Muhammad Yunus, Begründer der Mikrokredite: Es ist der einzelne Mensch, der etwas verändert! Wenn die Schüler dann sehen, dass den Frauen in Mikrokredit-Projekten das Geld gegeben wird, weil diese verantwortlich damit umgehen, gewinnt man Einblick in Strukturen, die einem sonst verschlossen bleiben. Auch entstehen durch solche Initiativen oft neue soziale und kulturelle Gemeinschaften. Das hinterlässt bei den Schülern einen großen Eindruck. Ein wichtiger Punkt, der in der Epoche immer wieder zur Sprache kommt, ist das individuelle Konsumverhalten. Die Schüler erkennen: All das, was wir in den letzten zwei Wochen besprochen haben, hat mit mir zu tun! Vieles hatte man zuvor vielleicht schon einmal gehört, doch jetzt weiß man wirklich, um was es geht, wie die Dinge zusammenhängen. Die Einsicht keimt auf, dass die Globalisierung schon beim Einkaufen anfängt, denn der Verbraucher hat eine ganz wichtige Funktion. Auch wenn die Experten sich darüber streiten, ob dieses Verbraucherbewusstsein ausreicht, um die Welt zu verändern – es ist eine wesentliche Seite der Globalisierung. Man muss irgendwo anfangen. Es ist ein erster Schritt – und der erste Schritt ist immer der wichtigste! Als Lehrer steht man jeden Tag vor der Aufgabe, mit Aufrichtigkeit und moralischer Integrität vor den Schülern zu stehen. Mit wachem Blick und klarem Verstand (und oft auch durch direkte Fragen) wird die Lehrperson geprüft, ob sie das, was sie sagt, auch lebt.

Hier hat die Globalisierungsepoche eine besondere Funktion, kommt in ihr doch unmissverständlich zur Sprache, was in der Welt Not tut und wes Geistes Kind man selber ist. Seitens der Lehrer ist hier Offenheit und Ehrlichkeit gefordert, denn alle Fragen, die in dieser Epoche aufgeworfen werden, sind in ihrem innersten Kern moralische Fragen. Diese aber können nur fruchtbar werden, wenn sie wahrheitsgemäß behandelt werden. Das ist manchmal schwierig. Man muss aufpassen, dass man keine Predigt hält. Auch als Erwachsener und Pädagoge steht man ja in diesen moralischen Fragen drin: Ist es wirklich notwendig mit dem Auto in die Schule zu kommen? Könnte ich nicht häufiger im Bioladen einkaufen? Muss ich in die Ferien mit dem Flugzeug ver­reisen? Wie wurde die Kleidung, die ich anhabe, eigentlich produziert? So merkt man, dass man mit allem verflochten ist. Eine moralische Frage kann nur dann wirklich greifen, wenn die Schüler merken, dass der Lehrer ein Bewusstsein hat für die moralische Qualität dieser Frage.

Der Sinn der Globalisierungsepoche

Man kann es auch so sehen: Die Welt ist so ungleich eingerichtet, damit die Menschen teilen und einander und die Erde wahrnehmen lernen.  Denn wenn der Mensch das nicht tut, dann zerstört er seine Lebensgrundlage. Gestörtes Gleichgewicht ist Krankheit. Dies zu erkennen, ist eines der Hauptziele der Epoche. Es geht nicht in erster Linie darum, Stoff zu erarbeiten; wichtig ist, dass die Schüler nach der Epoche mit einem anderen Bewusstsein in der Welt stehen! Die Einrichtung einer Globalisierungsepoche in der Oberstufe ist eine gute Möglichkeit, den Jugendlichen die Augen zu öffnen für die konkreten Probleme und Herausforderungen in der Welt. Dennoch bleibt es eine Aufgabe, aktuelle Themen in noch mehr Fächer zu integrieren – gerade auch in solche, bei denen es sich vielleicht nicht auf den ersten Blick anbietet. Es ist lohnend und auch notwendig, jede Epoche im Einzelnen durchzugehen und zu schauen, wie wir ein noch stärkeres Bewusstsein davon entwickeln können, wie sie aufeinander aufbauen, sich gegenseitig vorbereiten und ergänzen. Tut man dies in regelmäßigen Abständen, entdeckt man, dass der Lehrplan keineswegs veraltet ist. Aber man muss ihn betrachten mit »lebendigem Interesse für alles, was ... in der Zeit vor sich geht« (Rudolf Steiner).

Zum Autor: Dr. Guido Ostermai ist Lehrer für Deutsch, Geschichte, Kunstbetrachtung und freie Religion an der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe in Stuttgart sowie in der Lehrerausbildung tätig.