Globale Verantwortung

Henning Köhler

Was sich faktisch abspielt, ist Folgendes: Krieg, Verfolgung und Armut zwingen Millionen Menschen zur Flucht. Begreiflicherweise drängen sie in Länder, wo keine Kriege toben, keine Armut herrscht, keine Verfolgung droht. Und diese Länder – wir! – sind, vorsichtig ausgedrückt, nicht ganz schuldlos an den Fluchtursachen. Zeit für Wiedergutmachung. Unerbittlich fällt auf die Hochburgen der westlichen Zivilisation zurück, was sie in 600 Jahren Kolonialismus angerichtet haben und noch immer anrichten. Entweder wir begreifen, dass Globalisierung auch, ja zuvorderst Globalisierung der Verantwortung bedeutet, oder in den nächsten Jahrzehnten wird uns Hören und Sehen vergehen. Und zur Globalisierung der Verantwortung gehört eine großzügige Asylpolitik.

Viele sehen das ganz anders. 40 Prozent der deutschen Bevölkerung wollen Muslimen die Einwanderung verweigern. 50 Prozent halten Sinti und Roma für ein Ärgernis. Fast 34 Prozent stimmen dem Satz zu: »Die Bundesrepublik ist durch Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet.« Und Politiker aller Parteien (auch der Grünen, auch der Linken) tönen: Das muss man ernst nehmen!

Schlimm, schlimm. Millionen Deutsche leiden am Überfremdungssyndrom! Es kann ja wohl nicht angehen, dass massenhaft Ausländer hier hereindrängen und Einheimische überfremden! Bis wir allesamt identitätsmäßig völlig desorientiert sind! Darüber wird man ja wohl noch reden dürfen, ohne gleich als fremdenfeindlich zu gelten …

Der Anteil von Minderjährigen unter den Flüchtlingen, die in Europa Schutz suchen, beträgt rund 36 Prozent. Viele davon sind unbegleitet. »Sie versuchen, zu Angehörigen in Europa zu gelangen. Die Organisation legaler, sicherer Wege (für diese Kinder) muss absolute Priorität haben«, mahnt Filippo Grandi, UN-Hochkommissar für Flüchtlinge. Anthony Lake, UNICEF-Exekutivdirektor, fügt hinzu: »Niemand setzt ein Kind in ein Boot, wenn es sichere Möglichkeiten gibt.« Jeden Tag sterben zwei Kinder auf der Flucht, vor allem im Mittelmeer! »Eine menschliche Katastrophe, die immer schlimmer wird und den Einsatz der ganzen Welt erfordert, so William Lacy Swing von der Internationalen Organisation für Menschenrechte. Aber was geschieht stattdessen? Der wackere Heribert Prantl hat es mal wieder auf den Punkt gebracht: »Die Klage und die Verzweiflung werden übertönt vom Lärm der heimischen Debatten über Flüchtlingskontingente, Aufnahmestopps, Grenzschließungen etc. Diese Debatten sind laut, falsch und nutzlos. Was wirklich hülfe, wird nicht getan. Und sei es nur, die Flüchtlingslager so auszugestalten, dass Flüchtlinge dort menschenwürdig leben können.«

Das vorbildliche italienische Flüchtlingsrettungsprogramm mare nostrum lief Ende 2014 aus, weil Italien von den anderen europäischen Ländern allein gelassen wurde. Bald darauf trat die Operation Triton der EU-Grenzschutzorganisation Frontex in Kraft. Hier hat nicht Seenotrettung Priorität, sondern Grenzsicherung. Die Schiffe kreuzen nur noch im küstennahen Bereich. Mord durch Unter­lassung. Jeden Tag.